Digitale Vorzeige-Unternehmen Game Changer in Deutschland

Mit der Digitalisierung liegt Deutschlands Industrie in weiten Teilen hinter der Weltspitze zurück. Doch es gibt auch Ausnahmen. Flixbus, Infineon und SAP sind drei Unternehmen, die beweisen, dass man nicht aus dem Silicon Valley kommen muss, um die Spielregeln zu ändern.
Von Claus Gorgs
Produktion bei Infineon: Roboter Amor 3 im Reinraum im Einsatz

Produktion bei Infineon: Roboter Amor 3 im Reinraum im Einsatz

Foto: Infineon
Foto: manager magazin

Der einarmige Held ist circa 1,40 Meter groß, weiß und hört auf den Namen Hero. Wobei das streng genommen nicht stimmt, denn hören kann der Helping Robot im Dresdener Chipwerk von Infineon  nicht. Noch nicht. Sehen und tasten dagegen schon. Völlig autonom rollt der maschinelle Helfer durch die Gänge und versorgt die Belichtungsmaschinen mit neuen Siliziumwafern. Stellt man sich ihm in den Weg, bleibt er stehen. Während sein Greifarm die Box mit den Wafern an die richtige Stelle bugsiert, fährt ein kleiner Stecker in eine Buchse im Boden und lädt den Akku nach. Heros Schicht dauert 24 Stunden am Tag. Pausenzeiten: keine.

Verglichen mit anderen Ländern liegt Deutschland bei der Digitalisierung zurück: In einer vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebenen Studie rangiert die Bundesrepublik bei der digitalen Leistungsfähigkeit weltweit nur auf Platz sechs, mit deutlichem Abstand zum Spitzenreiter USA.

Alle maßgeblichen Innovationen der vergangenen Jahre hatten ihren Ursprung in Amerika - vom iPhone über Facebook  bis hin zum Taxischreck Uber. Selbst das erste Oberklasseauto mit E-Antrieb wurde nicht in Stuttgart, München oder Ingolstadt entwickelt, sondern bei Tesla im Silicon Valley.

"Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hängt ganz entscheidend davon ab, wie die heimischen Unternehmen die großen Potenziale nutzen, die Digitalisierung und Automatisierung bieten", sagt Walter Sinn, Deutschland-Chef der Beratung Bain & Company.

Droht eine der größten Industrienationen der Welt wirtschaftlich abgehängt zu werden? "Noch haben wir Deutschen die Chance, ganz vorn mit dabei zu sein", sagt Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) im mm-Interview. "In vier bis fünf Jahren sind die Anteile verteilt."

Dass der Minister optimistisch ist, was die Zukunft der deutschen Wirtschaft anbelangt, liegt an Unternehmen wie Infineon. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sich der Chiphersteller zum Vorreiter bei der globalen Vernetzung der Produktion aufgeschwungen und damit innerhalb seiner Branche neue Maßstäbe gesetzt.

Auch SAP  ändert gerade die Spielregeln: Mit der virtuellen Datenbank Hana ermöglicht der Software-Hersteller aus Walldorf Firmen die Auswertung gigantischer Datenmengen in Echtzeit - und verschafft ihnen so Effizienzgewinne und Möglichkeiten für maßgeschneiderte Angebote.

Dass es mitunter nur einer cleveren Idee bedarf, um mit einem digitalen Geschäftsmodell die Machtverhältnisse in einem traditionellen Wirtschaftszweig zu verändern, beweist Flixbus: Innerhalb von nur drei Jahren hat sich das Münchener Start-up zum Quasimonopolisten im deutschen Fernbusmarkt aufgeschwungen. Dafür zeichnen manager magazin und Bain diese drei Unternehmen mit dem "Game Changer Award 2016" aus.

"Jeder kann die Spielregeln komplett verändern"

Die Preisträger stehen exemplarisch für die Überlegenheit digitaler Geschäftsmodelle. Eine Bain-Untersuchung von mehr als 400 Unternehmen ergab, dass diejenigen, die frühzeitig die interne Vernetzung vorantreiben, der analogen Konkurrenz in der Regel um Längen voraus sind. Der Studie zufolge ist die Wahrscheinlichkeit, zu den bestverdienenden Anbietern der Branche zu gehören, bei digitalisierten Firmen doppelt so hoch wie bei analog arbeitenden Konkurrenten.

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Game Changer Award 2016: Ein prestigeträchtiger Abend in Bildern

Foto: Bain & Company, manager magazin

Die Chance, wichtige Entscheidungen schneller zu treffen als die Wettbewerber, ist sogar fünfmal größer. Und die Wahrscheinlichkeit, dass eine Entscheidung auch zum gewünschten Ergebnis - also zu einem Wettbewerbsvorteil - führt, ist dreimal so hoch wie bei Rivalen, die noch nicht auf Industrie 4.0 umgestellt haben. "In der digitalisierten Welt spielt es keine Rolle mehr, ob man Start-up, Mittelständler oder Großkonzern ist", sagt Sinn. "Jeder kann mit einem disruptiven Ansatz die Spielregeln innerhalb einer Branche komplett verändern."

Dem trägt auch der Game Changer Award Rechnung. Anders als bisher richten sich die Preiskategorien nicht mehr nach der Unternehmensgröße, sondern nach der Art der Innovation. In diesem Jahr wird jeweils ein Unternehmen ausgezeichnet, das den Kundennutzen am nachhaltigsten gesteigert hat (Customer Experience), das mit einem neuartigen Produkt oder einer Dienstleistung den Markt verändert (Product & Service Innovation) und das neue Maßstäbe durch die Digitalisierung seiner Prozesse gesetzt hat (Operations of the Future). In jeder Kategorie mussten sich die Kandidaten einem harten Auswahlprozess sowie dem Votum einer Expertenjury stellen.

Dass es mit Bosch, Siemens , der Deutschen Telekom  oder dem Fotodienstleister Cewe  diesmal viele Unternehmen aus der vordigitalen Ära in die Finalrunde schafften, zeigt, dass Disruption und Tradition kein Widerspruch sein müssen - obwohl gerade viele große Mittelständler sich mit der Umstellung auf Industrie 4.0 nach wie vor schwertun (siehe mm 6/2016).

Dass es möglich ist, die klassische Industrieproduktion in ein neues Zeitalter zu katapultieren, beweist nicht zuletzt Hero, der kleine Roboter in Dresden. Seine Laufwege orientieren sich an denen seiner menschlichen Vorgänger, die Anordnung der Produktion wurde trotz Digitalisierung nicht verändert. Das wäre zu teuer gewesen. "Ich glaube, dass in der intelligenten Nachautomatisierung ein Riesenpotenzial für den Standort Deutschland liegt", sagt Infineon-Chef Reinhard Ploss. "Dafür braucht man Meister, Techniker und Ingenieure, und die haben wir in unserem Land."

Beste Voraussetzungen also für eine Aufholjagd in Sachen Digitalisierung. Die Mission ist machbar, das beweisen nicht zuletzt die diesjährigen Preisträger. Klar ist aber auch: Allzu viel Zeit sollte sich niemand mehr lassen.

Flixbus: Fahrt ins Grüne

Der Wettbewerb

Infineon: Der Schaltkreis-Disruptor Zielsetzung, Methodik und Auswahlverfahren des Game Changer Awards 2016

Die Idee Disruptive Geschäftsmodelle verändern ganze Industriezweige von Grund auf. Mit dem Game Changer Award würdigen die Beratungsgesellschaft Bain & Company und manager magazin deutsche Unternehmen, die durch eine beherzte Digitalisierung der Geschäftsprozesse die Spielregeln innerhalb ihrer Branche neu definiert haben. Der Preis wird 2016 in drei Kategorien verliehen:

1. Customer Experience: für die beste Steigerung des Kundennutzens.

2. Product & Service Innovation: für das überzeugendste digitale Produkt oder die innovativste digitale Dienstleistung.

3. Operations of the Future: für die vielversprechendste Umsetzung intelligenter Produktionsverfahren (Industrie 4.0).

Die Vorgehensweise
Die Auswahl der Preisträger erfolgte über ein mehrstufiges Selektionsverfahren. Zunächst wurde eine branchenübergreifende Übersicht von börsennotierten privaten sowie durch Venture-Capital finanzierten Unternehmen erstellt - auf Basis aller in Deutschland registrierten Firmen. Diese Liste umfasst mehr als 21¿000 Gesellschaften. Nach Kriterien wie Mindestumsatz und digitales Innovationspotenzial wurde diese Liste auf 300 Kandidaten eingeschränkt. Und es wurde sichergestellt, dass die ausgewählten Unternehmen weder unethisch noch gesetzlich auffällig sind. Die 300 Aspiranten wurden jeweils einer der drei Preiskategorien zugeordnet. Anschließend wurden sie einer tief gehenden Analyse (Due diligence) unterzogen. Zentraler Aspekt bei alldem: die digitale Anpassungsfähigkeit.

Das Finale
Jedes der 300 Unternehmen auf der Longlist wurde nach einem Punktesystem bewertet, die fünf jeweils Besten einer Kategorie wurden dann noch einmal von einer fachkundigen Jury daraufhin untersucht, wie neu und einzigartig ihr Geschäftsmodell tatsächlich ist, wie stark es die Branche, die Kunden und den Wettbewerb beeinflusst und wie nachhaltig und profitabel das Wachstum einzuschätzen ist. Aus den 15 Finalisten gingen die Gewinner in den drei Kategorien hervor. Die Preisverleihung fand im Rahmen einer exklusiven Galaveranstaltung am 17. November 2016 im Gasometer in Berlin statt.

Flixbus: Fahrt ins Grüne
Infineon: Schaltkreis-Disruptor

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