
Führung Wer sich verbiegt, versagt als Anführer
Der Tag, an dem Olaf Koch bewusst wurde, was er nicht kann, liegt mehr als zwei Jahre zurück. Als er Ende Mai 2012 in der Stadthalle Düsseldorf zur Hauptversammlung vor die Metro-Aktionäre tritt, ist die Stimmung aufgeheizt. Monatelange Machtkämpfe an der Konzernspitze haben den Handelsriesen gelähmt, die Zahlen sind schlecht, der Aktienkurs ist in sich zusammengefallen.
Nun soll Koch, der Vorstandsvorsitzende, verlorenes Vertrauen zurückerobern. Es ist seine erste große öffentliche Rede. Gerade mal 41 Jahre ist er alt, der hochgewachsene, kahlköpfige Mann, der da ans Mikro eilt. Ausgerechnet dieses zahlenfixierte Kerlchen, das die Misere als Finanzvorstand mit eingebrockt hat, soll den Turnaround vollbringen? Die Aktionäre sind skeptisch bis feindselig.
Koch trägt das Manuskript vor, das ihm seine Stabsleute geschrieben haben - und merkt bereits nach wenigen Minuten, dass dies ein kapitaler Fehler ist: Steif kommt er sich vor, blutleer, "das war nicht ich". Er zieht die Sache durch, schwört sich aber, nie wieder ein fremdverfasstes Skript nachzubeten.
Seither redet Koch frei, wo immer er auftritt, mehr als ein paar Stichworte und Power-Point-Folien braucht er nicht. Ein großer Rhetoriker wird aus ihm nicht mehr werden, sein Westfälisch ist breit und manchmal ein bisschen vernuschelt, und immer noch schleichen sich Sätze in seine Reden ein wie dieser: "Wir wollen den eingeschlagenen Weg in keiner Weise verlangsamen."
Hauptsache authentisch
Doch der Metro-Chef ist mit sich im Reinen. Es gibt für ihn Wichtigeres als einen perfekt inszenierten Auftritt, und die gloriose Selbsterhöhung, die so mancher CEO an den Tag legt, geht ihm völlig ab. Koch ist einfach Koch - und mit genau dieser Haltung nimmt er die Belegschaft für sich ein. Die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, die sich vor zwei Jahren noch erbittert gegen seine Bestellung zum Vorstandsvorsitzenden gewehrt haben, glauben heute felsenfest daran, dass ihr Vormann, der sich selbst nicht stilisiert, auch in der Sache aufrichtig ist. So hört man immer wieder diesen einen Satz bei der Metro: "Der Koch, der ist authentisch."
Hauptsache authentisch! Kein anderer Wesenszug gilt in Deutschlands Topetagen derzeit als erstrebenswerter. Wer authentisch ist, so das Kalkül, der kommt an bei seinen Leuten, weil er glaubwürdig wirkt und unverfälscht.
Als Peter Terium im Juli 2012 an die Spitze des Energiekonzerns RWE rückte, gab er zu Protokoll, er wolle führen, "ohne an Authentizität zu verlieren". Sein CEO-Kollege Ulf Schneider, Chef bei Fresenius und von einer hochkarätigen manager magazin-Jury unlängst zum "Manager des Jahres" gekürt, würde "Leute, die unauthentisch sind, nicht einstellen".
Auch anderswo wird Authentizität in einem Atemzug mit Geradlinigkeit, Integrität und Loyalität genannt, wenn es darum geht, die perfekte Führungskraft zu charakterisieren. Etliche Seminare und Buchtitel verleihen dem Konzept zusätzliche Popularität.
Im altgriechischen Wortsinn bedeutet "authentikós" so viel wie "echt, original". Die neue Sehnsucht nach dem Echten sei auch der aktuellen Unüberschaubarkeit der Weltläufte geschuldet, meint Managementautor Klaus Schweinsberg in seinem Buch "Anständig führen". Wo der Strudel der Veränderung Unternehmen, Branchen, ja ganze Volkswirtschaften unablässig umwälze, müssten Manager "Richtung geben, Gefolgschaft erzeugen und für Wandel begeistern".
Klingt einleuchtend, nur: Wie geht das? Wie überzeugt der Mann an der Spitze verunsicherte Mitarbeiter, ständig alles zu geben, wenn er selbst durch ein Topgehalt und eine ausgeklügelte Change-of-Control-Klausel bestens abgesichert ist?
Die Maske der Bedeutsamkeit
Führung funktioniere schon lange nicht mehr nach dem simplen Top-down-Prinzip, beobachtet Ex-Eon-Chef und Multiaufsichtsrat Wulf Bernotat, der heute Aspiranten auf Topjobs als Mentor zur Seite steht. Wer seinen Leuten jeden Tag aufs Neue Höchstleistungen abfordere, könne sich nicht länger hinter der Maske der Bedeutsamkeit verstecken, sondern müsse "redlich, glaubwürdig, aufrichtig" auftreten, authentisch eben.
Zudem wächst in der zunehmend von Überlastung und Burn-out gezeichneten Arbeitswelt die Überzeugung, dass im Job nur glücklich und erfolgreich sein kann, wer tut, was wirklich zu ihm passt. Dauerndes Verbiegen geht an die Substanz, warnt der Berliner Managementcoach Bernd Sprenger. Wer im Beruf ein "Doppelleben" führe, sei prädestiniert für den Burn-out.
Authentisch zu sein, zahlt also doppelt ein: einmal auf die Karriere und noch einmal auf die Gesundheit und die eigene Motivation, ohne die auch der Aufstieg nicht funktioniert.
Doch wie wird, wie bleibt man "authentisch", bei all dem Anpassungsdruck, den eine Karriere insbesondere in Großunternehmen mit sich bringt? Interne Codes und Regeln, unzählige Assessments und Schulungen vom Rhetoriktraining bis zur Benimm- und Stilberatung sind darauf ausgelegt, Führungskräften auf dem Weg nach oben jegliche Eigenarten und Macken abzuschleifen. Wer aufsteigen will, hat umzusetzen, nicht aufzufallen. Erst später, an der Schwelle zur Chefetage, ist dann plötzlich wieder Persönlichkeit gefragt. Da soll der Manager originell und kantig sein, willensstark und unverwechselbar, eine "Living Brand", wie Tui-Chef Friedrich "Fritz" Joussen sich selbst nennt.
Das alles funktioniert nur, wenn man auf dem Karrierepfad die Treue zu sich selbst erhält. Und sich nur so weit verbiegt, wie es in der jeweiligen Funktion nötig und angemessen ist. Wie also stellt man das an?
1.Ein bisschen Rollenspiel ist immer
Isabel Poensgens Blick auf erfolgreiche Karrieren fällt nüchtern aus. Die Hamburger Psychologin redet nicht nebulös von Glück oder Berufung, so wie mancher Topmanager rückblickend seinen Aufstieg verklärt. Sie sieht die Dinge trocken analytisch: "Karriere ist das gelungene Zusammenspiel aus Anpassung ans Unternehmen und Inszenierung der eigenen Person, so wie es die aktuelle Position verlangt. Authentisch wirkt das, wenn es von echtem Feuer für die Sache getragen ist."
Je höher einer in der Hierarchie steigt, desto komplexer fällt seine Rolle aus. Zum Fachwissen gesellt sich die Führungsfähigkeit und, noch weiter oben, schließlich jenes besondere Kompetenz-Set, das Poensgen "CEO Sophistication" nennt. Damit meint sie Lust an Macht und Verantwortung, Gelassenheit beim öffentlichen Auftritt, interkulturelle Gewandtheit und eine gewisse Härte.
Moment mal: Bedeutet Authentizität nicht gerade, sich zu geben, wie man ist?
Da lacht die Expertin: "Wer weiß denn schon, wer er wirklich ist. Das ist ein philosophisch-psychologisches Grundsatzproblem, seit mehr als 2000 Jahren ungelöst. Und bezogen aufs Berufsleben sowieso ein Fehlschluss."
Warum?
"Weil es zu simpel gedacht ist." Ein Banklehrling, der in Jeans und ohne Krawatte hinterm Schalter stehe, wirke unprofessionell. Genauso wie ein Topmanager, der vor einer Fernsehkamera hilflos herumstottert, als unfähig gilt. "Allzu naiv verstanden, macht Authentizität erfolglos", warnt Poensgen.
Das gilt auch umgekehrt, wenn allzu viel Selbstbewusstsein im Spiel ist. Diktatorische Attitüden, wie man sie einem Theo Müller (Müllermilch) oder einem Heinz Hermann Thiele (Knorr-Bremse) nachsagt, können sich heute, wenn überhaupt, nur noch Eigentümerunternehmer leisten. In börsennotierten Konzernen passen solche Allmachtsfantasien nicht mehr in die Zeit.
Peter Terium erlaubte sich als frisch ernannter CEO der RWE mal eine flapsige Bemerkung, die ein zufällig anwesender Mitarbeiter auf sich bezog - was den Mann schwer durcheinanderbrachte. Seither ist Terium sparsamer mit flotten Sprüchen.
Wer im Job unter dem Label des Authentischseins seine Macken oder gar Launen ausleben wolle, der hänge einem "Kindertraum" nach, sagt der Managementtrainer und frühere Kienbaum-Partner Rainer Niermeyer, der ein Buch mit dem Titel "Mythos Authentizität" verfasst hat. Egozentrik wirkt schnell pubertär, und große Schauspieler gehören ins Theater.
2. Such dir den Job, der zu dir passt
Olaf Koch will nicht lange nachdenken, was ihn authentisch macht: "Wer das tut", meint er, "der ist es doch schon nicht mehr." Und trotzdem macht der Metro-Chef ganz unangestrengt den Eindruck, sich selbst treu geblieben zu sein.
Koch, der an der Berufsakademie Stuttgart BWL studiert hat, ist - für seine materiellen Verhältnisse - extrem bescheiden und anspruchslos. Er fliegt Economyclass, fährt eine Mercedes-A-Klasse als Dienstwägelchen und steuert das Auto freitags von Düsseldorf eigenhändig nach Hause zu Frau und Kindern, die nach wie vor in der Nähe von Stuttgart leben. Ein Fahrer würde nur stören, Koch hört im Auto gern extrem laut Musik. Beraterweisheiten wie die, ein CEO habe "raumfüllend" daherzukommen, schenkt er keine Beachtung.
Unprätentiös managt Koch auch den überfälligen Wandel bei der Metro. Das Davos-Sponsoring hat er gekündigt, von einer pompösen Geburtstagsfeier zum 50. Bestehen des Unternehmens hält er nichts. Stattdessen hat er in seinen privaten Indie-Rock-Hitlisten gekramt und einen Song der US-Gruppe Royal Teeth ausgewählt, der für den neuen Spirit in dem Handelskonzern herhalten soll: "Just because we're growing up, it doesn't mean we've had enough". In dem dazu gedrehten Video tanzen Mitarbeiter.
Koch steht die Rolle als bescheidener Olaf gut, sie passt zu seinem Unternehmen und der Lage, in der es sich befindet. Ähnlich symbiotisch fügen sich bei Fresenius-Chef Ulf Schneider persönliches Wertesystem und Unternehmensziel. Die Klinikkette Helios etwa ist erfolgreich, weil sie es schafft, Effizienz mit Intelligenz zu verknüpfen, und so zu wettbewerbsfähigen Preisen Qualität bietet.
Und genauso tickt auch der Harvard-Absolvent an der Spitze. Er pflegt einen schmucklos-asketischen Auftritt, man nimmt ihm ab, wenn er seine zahlreichen Zukäufe rigoros auf Effizienz trimmt, um sie einzugliedern. Der Stratege Schneider wäre wie gemacht für eine Private-Equity-Gesellschaft, dort könnte er auch mal richtig abkassieren. Doch reich zu werden interessiert ihn nach eigener Aussage nicht.
Authentizität zu leben kann erfolgreich machen, grenzt die Karriereoptionen allerdings auch ein. Eckhard Cordes, Kochs schneidiger Vorgänger im Amt des Metro-Chefs, wäre für die unspektakuläre Politik der kleinen Schritte der falsche Mann gewesen. Er liebte und beherrschte den großen Auftritt. Bei einer gemeinsamen Flugreise des Managements durchschritt Cordes schon mal allein den für ihn reservierten Counter, während seine Untergebenen in langen Reihen nebenan eincheckten. Als der Dealmaker erkannte, dass sich die Metro nicht wie geplant zerlegen ließ, verließ er den Dax-Konzern wieder.
Wie deplatziert wirkte zuletzt auch Ex-Siemens-Chef Peter Löscher in seinem Job. Der Mann, der bei dem Elektromulti nach der Korruptionsaffäre aufgeräumt hatte, sei nicht mehr wirklich bei der Sache gewesen, beklagten Mitarbeiter. Bei Managementmeetings entschwand er oft schon direkt nach seiner Rede, meist zog es ihn in die weite Welt, zu Treffen mit anderen Mächtigen. Das schleppende operative Geschäft daheim schien ihn zunehmend weniger zu interessieren. Eine Gewinnwarnung und eine Aufsichtsratssitzung später war er raus. Ein Mann im falschen Film.
3: Hüte dich vor faulen Kompromissen
In der Praxis von Bernd Sprenger landen all jene, die von der Leistungsgesellschaft als ausgebrannt aussortiert werden. Bei dem gelernten Mediziner und Psychotherapeuten wollen sie dann gern möglichst umstandslos wieder fit gemacht werden. Doch Sprenger will erst mal reden: über Haltungen, Werte, Motive, die für seine Patienten charakteristisch sind und sie zuletzt in die Sackgasse befördert haben. Seine Beobachtung: "Selbstverleugnung funktioniert nicht." Die grundlegenden Antriebe, auf denen eine Karriere basiere, seien nicht verhandelbar. Managern rät Sprenger da-her, sich in "selektiver Authentizität" zu üben, also ihre innersten Ideale und Überzeugungen zu schützen.
Peter Figge hat das getan - und dafür seine Karriere riskiert. Seit 2010 ist Figge Chef der Hamburger Werbeagentur Jung von Matt und führt das Werk der Gründer und Reklametitanen Holger Jung und Jean-Remy von Matt in die Zukunft. Der Neuzugang versucht gar nicht erst, die beiden schillernden Altvorderen zu kopieren. Er wirkt auf Anhieb recht normal - es sei denn, man sieht ihn reiten oder Ski fahren (beides beherrsche er wie der Teufel, behaupten Mitarbeiter).
Vor zehn Jahren schien der Aufstieg des Digitalspezialisten jäh beendet. Figge war draußen, arbeitslos. Sein alter Arbeitgeber BBDO wollte ihm einen Co-CEO zur Seite stellen, ein Affront für den ehrgeizigen Figge. Er zog die Konsequenz und kündigte. "Ich hatte mich immer offen für ein Partnermodell mit Kreativen und gegen Doppelspitzen mit identischer Qualifikation ausgesprochen", erklärt Figge. "Wäre ich damals, als es um mich persönlich ging, aus Sicherheitsgründen geblieben, wäre ich meine Glaubwürdigkeit los gewesen und damit auch meinen Wert für die Agentur."
Alles richtig gemacht, sagt der Managementautor Wolfgang Griepentrog ("Das Glaubwürdigkeitsprinzip"): "Gewinnen Mitarbeiter den Eindruck, ein Manager falle regelrecht um, verliert er an Gehör." Insbesondere in Krisen werde die Belegschaft solchen Leuten nicht mehr folgen.
Auch Wolfgang Büchele ist seinen Werten treu geblieben, obwohl es ihn zunächst den Job kostete. Er war schon zum Vorstand bei der BASF berufen, als ihn der damalige CEO Jürgen Hambrecht zur Rede stellte. Hambrecht hielt Büchele vor, eine Liaison mit einer engen Mitarbeiterin verschwiegen zu haben. Büchele hätte reuige Zerknirschung zeigen oder seinen Vorstandsvorsitzenden bitten können, den Verstoß gegen den bürgerlichen Komment zu entschuldigen; nichts davon tat er. Er ließ sich die Vorwürfe nicht gefallen - und räumte kurz darauf sein Büro.
Lieber ließ sich der Geschasste von Private-Equity-Gesellschaften anheuern, leitete Chemieunternehmen in Ungarn und Finnland - bis Wolfgang Reitzle auf ihn aufmerksam wurde und ihn als Nachfolger zu Linde lockte. Nun steht er an der Spitze - unverbogen wie eh und je.
4. Vergiss deine Freunde nicht
Die passende Rolle finden, eigene Überzeugungen schützen - das alles klingt leichter, als es ist. Das Gros der deutschen Managerkaste hat sich längst in vermeintlichen Zwängen verloren. Den meisten ist das gar nicht mal bewusst. Selbstreflexion sei vielen Topmanagern fremd, sagt Psychotherapeut Bernd Sprenger. Auch weil sich kaum einer traue, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen.
Thomas Tomkos, Deutschland-Chef von Russell Reynolds, schaut bei privaten Einladungen der Arrivierten gern genau hin. Ihn interessiert, ob auch alte Freunde eingeladen sind. Für Tomkos ein untrügliches Zeichen, dass einer seine Wurzeln noch kennt und schätzt. Fündig wird der Personalberater selten: "Viele Manager umgeben sich privat nur mit Menschen aus ihrem beruflichen Netzwerk. Da spürt man die Déformation professionnelle", sagt Tomkos. Mancher tauscht gar die Ehefrau aus. Ein ehrlicher Spiegel, eine Rückbesinnung auf die eigenen Ursprünge, all das geht dann verloren.
5. Mach dich zur Marke
Fritz Joussen, seit über einem Jahr Tui-Chef, ist der Gegenentwurf zu solchen Leuten, er steht mitten im Leben. Joussen geht mit seinen alten Kumpels Golf spielen und trifft sich mit den Vätern der Freunde seiner Kinder samstags zum Altherrenkicken auf dem Fußballplatz. Er wohnt immer noch in seiner Heimatstadt Duisburg und hat eine gesunde Distanz zu seinem Spitzenjob: "Die Aufgabe macht mir extrem viel Freude, aber ich würde von Bord gehen, wenn ich zu dem Schluss käme, jemand anders wäre für Tui besser. Ich halte es für wichtig, nicht am Job zu kleben."
Zum Gespräch über den Wert des Authentischen kommt Joussen ins Büro gefedert, lässt sich in den Sessel plumpsen und lenkt das Gespräch innerhalb von Minuten auf seinen Wahlspruch: "Ich glaube an Typen, nicht an Stereotypen." Starker Auftakt. Der Tui-Chef ist sich seiner öffentlichen Rolle stets bewusst: "Als CEO ist man so etwas wie eine Living Brand. Alles, was man in dieser Rolle macht, was man sagt und wie man sich verhält, wird beobachtet. Ich überlege mir, wofür ich stehen und welche Nachrichten ich senden will", sagt Joussen. "An dieses Drehbuch halte ich mich dann." Auch bei der Vorbereitung öffentlicher Reden überlässt der Tui-Vormann nichts dem Zufall. Joussen trägt frei vor, hat aber zuvor minutiös geübt: den Text selbst geschrieben, passagenweise auswendig gelernt und sich wieder und wieder vorgesagt, bis alles saß.
Paradox: Joussen setzt sich permanent in Szene und wirkt dabei doch nie aufgesetzt, weil er sich nichts Wesensfremdes aufdrängen lässt, sondern nur seine eigene Person akzentuiert.
6: Das richtige Maß an Nähe zulassen
Echt, manchmal ein bisschen zu echt, kommt auch Rüdiger Grube bei den Leuten an. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn erzählt gern Geschichten aus seiner Kindheit: Wie er auf dem Obstbauernhof im Alten Land bei Hamburg groß wurde, und wie er sich später dann über den zweiten Bildungsweg hochkämpfte. Die Botschaft, die Grube damit aussendet: Seht her, ich bin immer noch einer von euch.
Den meisten Managern liegt so viel Nähe nicht, sagt Monika Matschnig, die die deutsche Managerszene als Österreicherin beobachtet. Unter hiesigen Wirtschaftsgranden gelte persönliche Offenheit geradezu als unprofessionell, meint die Körperspracheexpertin. Die Herrschaften blieben lieber sachorientiert.
Was Matschnig ganz in Ordnung findet. Die Expertin rät ihrer Klientel in der Regel davon ab, eine Jovialität vorzugaukeln, die gar nicht zu ihnen passe, auch wenn viele Managementbücher das Gegenteil empfehlen. Nach dem Motto: Jede persönliche Anekdote bringt ein Sympathiepünktchen mehr bei der Belegschaft.
Anke Schäferkordt etwa, Co-Chefin der RTL Group und Vorstandsmitglied im Mutterkonzern Bertelsmann, hat das weibliche Rollenklischee der zugänglichen Übermutter immer abgelehnt. Ausführliche Geschichten aus ihrer Kindheit in einer ostwestfälischen Gastwirtsfamilie wird man von ihr nicht hören.
Nahbar ist sie trotzdem. Als sie vor Jahren, damals noch als junge Vox-Geschäftsführerin, ihren ersten großen Auftritt auf der Telemesse in Köln hatte, dem einst größten Event der Branche, wusste sie nicht, wie sie ihr Lampenfieber in den Griff kriegen sollte. Also ging sie raus auf die Bühne, stellte sich vor die tausend Leute und sagte: "Wow, ist das groß hier - wenn es jetzt mucksmäuschenstill wäre, könntet ihr meinen Herzschlag hören!" Damit hatte sie das Publikum für sich eingenommen, die Angst war weg.
Gelernt hat Schäferkordt damals: Echtsein macht sympathisch, wenn andere spüren, dass da einer als Person greifbar wird. Und wenn man dann wie Schäferkordt auch noch wirtschaftlich Erfolg hat, kann man sagen, was man denkt, und machen, was man sagt. Oder, wie Schäferkordt selbst es ausdrückt: "Ich taktiere nicht, ich bin ich."