Von der Fast-Pleitefirma zum Schaltkreis-Disruptor Das unglaubliche Comeback von Infineon

Lautlos gleitet das schwere Metalltor zur Seite und gibt den Weg frei zu der langen, geschwungenen Auffahrt. Der Wachmann öffnet eine kleine Pforte neben den Drehkreuzen am Eingang, per Fahrstuhl geht es in die vierte Etage. In einer Umkleidekabine heißt es ausziehen bis auf die Unterwäsche, dann in blauer Jogginghose und weißem T-Shirt weiter den Gang entlang, unsere Gummilatschen schmatzen über klebrige Fußmatten zur nächsten Sicherheitsschleuse. Helfende Hände streifen Ganzkörperanzüge aus dünner Kunstfaser über den Einheitsdress; mit Kapuze, Mundschutz und Gummihandschuhen ähnelt nun jeder einem Chefarzt kurz vor der OP.
Was anmutet wie eine Mischung aus Hochsicherheitsgefängnis, Intensivstation und "Raumschiff Enterprise" ist eine der modernsten Chipfabriken der Welt. Hier am Rande der Dresdener Neustadt produziert Infineon sogenannte Leistungshalbleiter, kleinste elektronische Bauteile, die später Automotoren steuern, Handys laden oder Kreditkarten sichern. Jedes Staubpartikel kann die nur wenige Nanometer breiten Leiterbahnen beschädigen, daher die strengen Bekleidungsvorschriften.
Reinhard Ploss (60) eilt zwischen den Schaltkästen hindurch wie ein Fremdenführer durch die Gassen der Dresdener Altstadt. Der Infineon-Chef kennt hier jeden Winkel, kann jeden Produktionsschritt erklären - und tut es auch. Roboter surren durch die in gelbes Licht getauchten Gänge, ein Greifarm zieht wie bei einer Jukebox silberne Scheiben aus einer Plastikkiste und legt eine nach der anderen auf einen Plattenteller. Nur dass der zweite Arm keine Musik abspielt, sondern eine hauchdünne Lackschicht aufträgt, auf die später die Schaltkreise belichtet werden wie auf einem Diafilm.
Reinhard Ploss, der schaumgebremste Chef
Je nach Produkt passen bis zu 10.000 Chips auf einen solchen Wafer. "Welche der vielen unterschiedlichen Varianten produziert werden soll, erkennt die Maschine anhand eines Codes am Rande des Wafers", erklärt Ploss. Die passende Struktur holt sich die Maschine aus dem Zentralcomputer. Fertig.
In seiner Vermummung ist Ploss nur durch das Namensschild als CEO zu erkennen, was ihm sehr recht ist. Gäbe es einen Preis für den unbekanntesten Vorstandsvorsitzenden aller Dax-Konzerne, Ploss hätte exzellente Titelchancen. Die öffentliche Inszenierung liegt ihm nicht, er bezeichnet sich als "schaumgebremst", seinen Kaffee schenkt er sich am liebsten selbst ein.
Die Gefahr, hier im Allerheiligsten erkannt zu werden, wäre ohnehin gering. Man sieht die Orientierungshilfen für die Roboter am Boden, Transportbänder unter der Decke und viel glänzenden Edelstahl. Menschen sieht man nicht.
Die virtuelle Fabrik, die Manager und Wissenschaftler als Technologie der Zukunft preisen, ist in Dresden längst real. "Infineon hat bei der Vernetzung seiner Produktion Maßstäbe gesetzt", sagt Bains Deutschland-Chef Walter Sinn. Nicht nur innerhalb des Werks weiß eine Maschine genau, was die nächste tut und welche Priorität jeder Auftrag hat. Alle 19 Fabriken weltweit kommunizieren miteinander - und mit den Rechnern der Kunden und Lieferanten. Kommt ein Auftrag rein, entscheidet das System, wann und wo die Order abgearbeitet wird. Das spart Zeit, senkt die Kosten und erhöht die Produktivität.
"Infineon hat eine überlegene und sehr überzeugende Geschäftsstrategie", lobt Ann-Kristin Achleitner, Wirtschaftsprofessorin an der TU München. Kaum ein anderes Unternehmen ist bei der digitalen Vernetzung der Produktion so weit vorn. Dafür wird der Konzern mit dem Game Changer Award in der Kategorie "Operations of the Future" ausgezeichnet.
Pleite schien eine Frage der Zeit zu sein
Noch vor wenigen Jahren hätte niemand auf Infineon gewettet. Im März 2009 dümpelte der Aktienkurs bei 0,35 Euro. Der weltweite Chipmarkt war eingebrochen, das Unternehmen schrieb rote Zahlen. Pleite oder Übernahme - das Ende der früheren Siemens-Sparte schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
Inzwischen hat das Unternehmen seinen Umsatz auf 5,8 Milliarden Euro mehr als verdoppelt, wächst schneller als der Markt und zählt mit einer Nettomarge von 15 Prozent zu den profitabelsten Chipherstellern der Welt. Wie war das möglich?

Game Changer Award 2016: Ein prestigeträchtiger Abend in Bildern
"Mir war immer klar, dass die Fertigung in Deutschland wegen der hohen Lohnkosten unter Druck geraten würde", sagt Ploss. "Zudem werden unsere Produkte und Prozesse immer vielfältiger und komplexer. Als Mensch da noch den Überblick zu behalten und keinen Fehler zu machen ist unmöglich." Also begann er bereits in seiner Zeit als Produktionsvorstand, menschliches Wissen durch Maschinenwissen zu ersetzen. Er schaltete schneller als die Konkurrenz, rüstete Infineons Fabriken auf Industrie 4.0 um, als die meisten Big Data noch für den neuesten Blockbuster aus Hollywood hielten. "Die konsequente Fokussierung und der hohe Integrationsgrad in der Fertigung tragen ganz klar Ploss' Handschrift", sagt Halbleiterexperte Hans Joachim Heider von Bain. Er habe Infineon zu einem weltweiten Vorreiter gemacht.
Die Grundlage dafür hatte sein Vorgänger Peter Bauer gelegt, der 2012 aus gesundheitlichen Gründen aus dem Amt schied. Er lagerte die defizitäre Speicherproduktion aus, die später unter dem Namen Qimonda in die Pleite schlitterte, verkaufte den zu kleinen Handychipbereich an Intel.
Auf Hochleistungschips spezialisiert
Heute ist Infineon auf Hochleistungschips für Autos, Energiesteuerung und Sicherheit spezialisiert - Segmente, in denen sich mehr Geld verdienen lässt und die überdurchschnittlich wachsen. Automatisiertes Fahren, erneuerbare Energien, Internet-Security: "Wir haben die richtigen Märkte, andere hätten die gern", sagt Ploss mit Blick auf die weniger ertragsstarken Rivalen.
Parallel dazu investierte der Manager in neue Technologien wie die Fertigung von Wafern mit 300 Millimetern Durchmesser, auf denen sich mehr Chips unterbringen lassen als auf dem bisherigen 200-Millimeter-Standard. "50 Prozent unseres Erfolgs ist Innovation", sagt Ploss. Derzeit entsteht in Dresden die weltweit einzige 300-Millimeter-Fertigung von Leistungshalbleitern.
3,5 Milliarden Euro hat der Münchener Konzern in den vergangenen Jahren allein in den Standort Dresden investiert. "Viel Geld", sagt Ploss, "aber es hat sich gelohnt." Stillstandszeiten gibt es praktisch nicht mehr, das Werk produziert an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr. Die mobilen Roboter laden ihre Akkus während des Betriebs wieder auf, durch die Automatisierung ist die Produktivität um fast 70 Prozent gestiegen - und die Zahl der Arbeitsplätze nicht gesunken. 2000 Mitarbeiter beschäftigte Infineon vor zehn Jahren in Dresden, genauso viele wie heute.
"Viele weniger qualifizierte Jobs wurden ersetzt, dafür sind neue hoch qualifizierte Tätigkeiten entstanden", sagt der Vorstandschef. Die 4000 Stellen jedoch, die durch das Ende der Speicherchipproduktion verloren gingen, kehrten nicht zurück.
Fehlerquote weniger als eins zu zehn Millionen
Ploss betont gern, dass viele Mitarbeiter, deren Aufgaben wegrationalisiert wurden, sich intern weiterqualifiziert und nun andere, bessere Jobs haben. Die Belegschaft, versichert der CEO, trage den Digitalisierungskurs voll mit. "Es kommt viel aus der Mannschaft heraus. Mir geht es darum, eine Kultur des Wagens und Dürfens zu schaffen, in der die Kollegen die Vorgaben selbst in konkrete Schritte übersetzen und die Erfolge selbst wahrnehmen."

Reinhard Ploss: Der Verfahrenstechniker verbrachte sein Berufsleben im Siemens-Universum. Als die Chipsparte 1999 ausgegliedert wurde, ging er mit zu Infineon. 2007 wurde er Vorstandsmitglied, 2012 CEO.
Foto: Sven Hoppe/ picture alliance / dpaIn Dresden sind sie stolz darauf, dass die Fehlerquote inzwischen bei weniger als eins zu zehn Millionen liegt. Doch Ploss legt die Latte schon wieder höher. "Auch dieser eine Fehler unter zehn Millionen Chips wird in Zukunft nicht mehr akzeptiert werden", sagt er. "Wer möchte schon in dem autonom fahrenden Auto sitzen, in dem dieser eine Chip verbaut wurde? Wir werden uns in Richtung Null-Fehler-Toleranz bewegen."
Um diesem Anspruch näherzukommen, verlässt sich der Dax-Konzern nicht nur auf seine eigenen Stärken. Anfang 2015 kaufte Infineon für drei Milliarden Dollar den Konkurrenten International Rectifier und stärkte damit seine Position auf dem US-Markt. Im Juli 2016 folgte die Ankündigung, für 850 Millionen Dollar Wolfspeed zu übernehmen. Die Amerikaner sind Spezialisten für Halbleiter auf Basis von Siliziumcarbid. Die Chips sind besser für höhere Spannungen geeignet, zudem lassen sich noch mehr von ihnen auf einem Wafer unterbringen. Das hilft, Kosten zu sparen.
Von seinem jüngsten Zukauf, der Philips-Ausgründung Innoluce, erhofft Ploss sich neue Impulse für die Automobilsparte: Die Niederländer sind Spezialisten für laserbasierte Abstandsmessungen, die eine wichtige Rolle bei der Entwicklung autonom fahrender Autos spielen könnten.
Das Risiko, selbst zum Übernahmekandidaten zu werden, hält Ploss für überschaubar. "Wir sind bei der aktuellen Marktkapitalisierung (18 Milliarden Euro) nicht gerade ein Schnäppchen. Und je erfolgreicher wir sind, desto sperriger werden wir."
Feindliche Offerte nicht ausgeschlossen
Ausgeschlossen ist eine feindliche Offerte freilich nicht. Gerade hat der Branchenvierte Qualcomm die Übernahme des Infineon-Rivalen NXP für rund 47 Milliarden Dollar angekündigt. Die Niederländer sind gemessen am Umsatz die Nummer sieben der Branche, die Münchener stehen auf Platz zehn. Ploss gibt sich entspannt: "Ich bin da nicht nervös."
Auf dem Rückweg von der virtuellen in die reale Welt steht er schon wieder im Anzug in der Umkleide und eilt zur Tür, als alle anderen noch an den Reißverschlüssen ihrer Schutzanzüge nesteln. In zehn Jahren, schätzt er, könnten alle Fabriken auf dem Stand von Dresden sein, inklusive der Zukäufe. Sein Vertrag läuft noch bis 2020, bis dahin will Ploss weiterhin jährlich 8 Prozent Wachstum und eine Rendite von 15 Prozent abliefern. Infineon würde dann 8,5 Milliarden Euro Umsatz erzielen - über 2 Milliarden mehr als heute.
Und sein persönliches Ziel? Jetzt muss er überlegen. "Ich will ein Infineon hinterlassen, bei dem die nächste Generation nicht sagen muss: Jetzt müssen wir erst mal aufräumen", sagt er schließlich. "Am besten wäre, wenn man gar nicht merkt, dass ich weg bin."
Flixbus: Fahrt ins Grüne
Game Changer: "Mission possible"