
R/GA-Werber Bob Greenberg Der wahre Mad Man
Die folgende Geschichte stammt aus der Ausgabe 5/2017 des manager magazins, die Ende April erschien. Wir veröffentlichen sie hier als Kostprobe unseres Journalismus' "Wirtschaft aus erster Hand". Damit Sie künftig früher bestmöglich informiert sind, empfehlen wir ein Heft-Abo.
Ducati-Motorräder, Züricher Opernplakate, Designklassiker von Braun - Bob Greenberg (68) sammelt "Outsiderkunst". Eine Stilrichtung, die ziemlich gut zu seinem Selbstverständnis passt.
"Wissen Sie, niemand macht das, was wir tun. Das ist einzigartig!" Ein typischer Greenberg-Satz. Er spricht ihn langsam aus, mit sanfter Stimme, wie ein Guru aus den 70ern. Seine grauen Locken wuseln von der Halbglatze bis zur Schulter, mit seinem schwarzen Outfit, den dicken Goldringen und silbernen Armreifen wirkt er wie eine Kreuzung aus gealtertem Rocker und Steve Jobs.
Greenberg sagt, sein Gehirn sei "falsch verkabelt". Er leidet unter Dyslexie, einer ausgeprägten Lese- und Schreibschwäche. Der kleine Bob hatte es deshalb schwer in der Schule. Die Lehrer warnten, aus ihm werde nichts. Als junger Mann musste er in der Spiegelfabrik des Onkels arbeiten.
"Ich war praktisch unvermittelbar", sagt Greenberg. Aber irgendwann entdeckte er seine Talente. Zum Beispiel, dass er komplexe Zusammenhänge besser erkenne als andere Menschen oder die Welt "visuell" wahrnehme. Ach ja, Virgin-Gründer Richard Branson und Investorenlegende Charles Schwab leiden an derselben Störung. Alles Genies, verstehen Sie?
Kürzlich hat Greenberg sich eine eigene (ihm zufolge "bessere") Version von Mies van der Rohes berühmtem "Farnsworth House" bauen lassen. Er ist ein großer Bauhaus-Fan, worüber er gern und lange redet.
Das Selbstlob und die Assoziationsketten, in die sich Greenberg immer wieder verfängt, ließen sich als Marotten eines alten Mannes abtun, wäre da nicht seine Firma, die New Yorker Digitalagentur R/Greenberg Associates (R/GA).
R/GA, das er mit seinem Bruder gründete, ist der Branche Vorbild und Ikone zugleich. Die vergangenen Geschäftsjahre waren jeweils die besten seit Bestehen. Und bei 2000 Mitarbeitern und über 500 Millionen Dollar Jahresumsatz soll noch lange nicht Schluss sein. Greenbergs Truppe vergöttert ihn. Wegen seines Erfolgs und weil er so unglaublich kauzig ist wie an diesem Montag in New York.
1977 als Studio für Filmeffekte gegründet, profitiert die Agentur heute wie kaum ein Wettbewerber von der Digitalisierung. Greenberg hat das Geschäftsmodell von R/GA immer wieder auf den Kopf gestellt und bereits 1995 auf den Siegeszug des Internets gesetzt. Nun kann er sein Unternehmen als Vorbild und Dienstleister zugleich inszenieren: Schaut her, wir atmen Kreativität, Code und Geschäftssinn. Nur so behauptet ihr euch gegen die Googles dieser Welt. Bucht uns, und wir zeigen euch, wie es geht!
Beweg dich - oder stirb
"Das traditionelle Agenturmodell zerfällt", sagt Greenberg. R/GA ist seine Antwort. Fans wie Jung-von-Matt-Chef Peter Figge feiern die New Yorker ("beeindruckend") und ihren Gründer ("coole Socke") als Wegbereiter einer Ära, in der nur jene Agenturen relevant bleiben, die ein holistisches Konzept aus Kreation, Beratung und IT-Know-how verfolgen.
R/GA betreibt - selbst und im Auftrag - mehrere Start-up-Programme, die als Geldquelle, Innovationslieferant und Inspiration dienen. Ende dieses Jahres soll die Agentur laut Greenberg Anteile an 56 Jungunternehmen halten.
Den Kunden Fossil brachte R/GA mit einem Software-Start-up zusammen, das dem Uhrenhersteller die Entwicklung einer dezenten Smartwatch ermöglichte. Greenbergs Leute bauten später die App dazu.
Für Alexander Schill, Kreativchef von Serviceplan, ist dieses Modell die Zukunft: Eine Agentur, die den gesamten Zyklus von der Produktentwicklung über die markengerechte Kommunikation bis zum Ausrollen begleitet. "Wer hat schon Lust, sich mit zig Dienstleistern abzustimmen?", fragt Schill.
R/GAs Botschaft an die Kunden: Beweg dich - oder stirb. Und wir helfen dir nicht nur dabei, begehrenswertere Dinge zu verkaufen. Wir suchen sogar das nötige Personal und beschleunigen die Abläufe im Unternehmen - ein Betreuungsansatz, der weit über das traditionelle Anzeigengeschäft hinausgeht. R/GA geht so weit, zusammen mit seinen Klienten neue Produkte zu entwerfen.
Bestes Beispiel: Nike, die weltgrößte Turnschuhmarke. In über 15 Jahren Zusammenarbeit mit R/GA entstanden Websites, Handy-Apps, TV-Spots - und ein neuartiges Geschäftsmodell. Der Sportartikelhersteller wurde zusätzlich zum Dienstleister, der mit seinen Kunden am liebsten stündlich in Kontakt tritt.
Beginn und Kern des Konzepts war 2006 "Nike Plus", ursprünglich ein einfaches Sensorenkit, mit dem Sportler Routen, Leistung und Geschwindigkeit aufzeichnen konnten. Heute diskutieren Läufer via Plus in einer Onlinecommunity über Lieblingsstrecken, posten Erfolge bei Twitter und Facebook und steuern ihre Turnschuhe per Smartphone oder iPod.
2012 folgte der Weiterdreh, der die Agentur in der Werberwelt zur Legende machte. Das "Fuelband", maßgeblich von R/GA entwickelt, machte Nike zum Herrn einer eingängigen Metrik (Fuel), mit der Sportler sich vergleichen können.
Der Armreif informiert den Nutzer darüber, ob er fit ist, und das Tag für Tag. Das Fuelband zählt Schritte ebenso wie Sit-ups und erlaubt es dem Träger, sich mit anderen zu messen. Das perfekte Gadget für neurotische Großstädter, die einen gelungenen Tag als Matrix aus Kalorien, Kilometern und Crunches begreifen. Quantify yourself!
Wettstreit um Absolventen
Cannes, London: Mit dem Fuelband räumte R/GA sämtliche bedeutenden Werbepreise ab. Yogi Greenberg trug es fortan wie eine Trophäe.
Seither begreift sich seine Agentur nicht mehr als Hornbrillenbiotop, sondern als Allrounddienstleister, der auch für Programmierer oder Ingenieure attraktiv sein muss. Es ist dieser Mix der Disziplinen, der die spezielle Magie von R/GA ausmacht. "Man arbeitet sich tot, aber ich konnte mich kreativ austoben wie nirgendwo sonst", sagt eine ehemalige Mitarbeiterin, die der Agentur allein aus familiären Gründen den Rücken kehrte.
Greenbergs Leute sitzen bei Großkunden wie Nike oder Samsung vor Ort, auch bei Google in Mountain View arbeitet ein "embedded" Team. Die Message an die Talente: Bei uns könnt ihr bei mehreren coolen Firmen gleichzeitig arbeiten.
Zwischen Hudson und Pennsylvania Station hat R/GA in Manhattan vergangenes Frühjahr eine neue, hypermoderne Zentrale bezogen. Auf gut 18.000 Quadratmetern arbeiten, beschienen von den Sonnenzyklus imitierenden Lampen, gut 1000 Menschen in interdisziplinären Teams. Der zweistöckige Großraum in Weiß wird flankiert von Großbildschirmen, die aktuelle Kampagnen zeigen. Mitarbeiter navigieren via App durch die verschiedenen Standorte, R/GA rühmt sich, das modernste Videokonferenzsystem der Welt zu betreiben. Ein stylisher, durchtechnisierter Arbeitsplatz.
Für Greenberg ist das mehr als nur schicke Innenarchitektur. Er will im Wettstreit um die besten Uniabsolventen mit den Superbüros von Apple und Facebook konkurrieren. Die neue Zentrale habe die Abgängerrate um 5 Prozent reduziert, behauptet er. "Eigentlich müssten es alle so machen wie wir."
R/GAs wichtigste Auslandsvertretung in London ist der Zentrale bis ins Detail nachempfunden, inklusive Exponaten aus Greenbergs Sammlung seltsamer Dinge (historische Mikrofone, Schreibmaschinen). Gegründet 2005 für Nokia, ist sie auf gut 330 Mitarbeiter angewachsen.
James Temple (40), der seine Karriere bei IBM begann, und Matt Lodder (43), früher Chef eines Internetproviders, leiten von dort aus das Europa-Geschäft. Beide kleiden ihr Tun in schöne Wortgirlanden. "Alles hängt zusammen", sagt Temple. "Wir haben ein Ethos der Kollaboration kultiviert", sagt Lodder. Aha!
Interessanter sind die Beispiele. Zusammen mit dem Mobilfunkprovider Turkcell hat das Londoner Büro BiP kreiert, einen Nachrichten- und Chatdienst, der trotz der Konkurrenz von WhatsApp und Snapchat Millionen von Downloads erreichte.
Anstrengender Wachstumsprozess
Im Hipster-Stadtteil Shoreditch entstand mit dem Auftrag zu "Beats Music" gar eine weitere R/GA-Legende. Der Kopfhörerproduzent Beats, vom Rapper Dr. Dre mitgegründet, war 2011 auf der Suche nach einem zusätzlichen, digitalen Geschäftsmodell - R/GAs selbst ernanntes Spezialgebiet. Beats stieg ins Streamingbusiness ein, das schon damals von Spotify dominiert wurde. Die Differenzierung sollte als Liebhaberdienst gelingen, der das Menschliche in der Musik betont. Mit einer Mischung aus Songempfehlungen von Algorithmen bekannter Kuratoren und Playlists ging Beats Music Anfang 2014 an den Start. Design und Konzept hat R/GA mitentwickelt, inklusive eines TV-Spots zum Superbowl, der Leistungsschau der Branche.
Inzwischen ist der Dienst einer der größten der Zunft. Wenige Monate nach dem Launch übernahm Apple Beats für drei Milliarden US-Dollar - und damit auch den Streamingservice. Als "Apple Music" wurde er zu Spotifys ärgstem Rivalen.
Temple und Lodder sagen, man erfinde derlei Lösungen in Zusammenarbeit mit den Kunden. Dieses Prinzip, so ungefähr es auch klingt, stößt auf immer stärkere Nachfrage, je kälter der Sturm der Digitalisierung den Etablierten ins Gesicht bläst.
Im konjunkturell verwöhnten Deutschland taten sich die Amerikaner bislang schwer. Der Metro organisierte R/GA 2015 ein Acceleratorprogramm für Food-Start-ups, flog aber beim Neuaufguss zugunsten des Co-Partners Techstars wieder raus.
Jetzt soll es Siemens bringen, für den Konzern poliert R/GA seit vergangenem Sommer das Arbeitgeber-image auf. In den kommenden Monaten werden die ersten Teile der Kampagne zu sehen sein. Es geht darum, den biederen Elektromulti vergleichbar zu machen mit Google, Tesla & Co. "Ein großer Teil von Siemens' Arbeit ist komplett unsichtbar", glaubt Lodder.
In München gibt man sich bislang zufrieden: "Die kamen nicht einfach mit einem Pitch, sondern wollten von Anfang an das ganze Unternehmen verstehen", sagt Rosa Riera, die bei Siemens das Employer Branding leitet. Noch so ein typischer R/GA-Ansatz: Dem Kunden schrittweise klarmachen, dass er weit mehr als ein neues Image braucht.
Anfang April eröffnete das erste deutsche R/GA-Büro in Berlins Prenzlauer-Berg. Temple und Lodder warben dafür Sascha Martini (46) von Publicis' Digitalagentur Razorfish ab. Die Filiale soll mittelfristig zu einem mit London vergleichbaren Full-Service-Hub aufsteigen. Martini, momentan Einzelkämpfer, will Anfang 2019 ein Team aus bis zu 100 Leuten befehligen.
In New York verzieht Bob Greenberg das Gesicht, wenn man ihn auf R/GAs Expansion anspricht. Er erzählt dann vom neuen Büro in Tokio, dessen Chef gerade zu Besuch war. Eine tolle Stadt, na klar, die Firma müsse ja noch globaler werden und so weiter. Aber der Wachstumsprozess sei anstrengend.
Oder, wie Greenberg es formuliert: "a pain in the ass".