
Deutsche Bahn Außer Plan - warum Bahnchef Grube mehr Geld braucht
Die Schachtel wirkt verheißungsvoll wie eine Pralinenbox mit zwei Lagen. 26 mal 26 Zentimeter misst der Karton, gut vier Zentimeter ragt er auf. "Das ist unsere Dachstrategie", erläutert Bahn-Chef Rüdiger Grube (62) und scheint zu wachsen, während er den Pappklotz überreicht. Richtige Freude bleibt beim Öffnen allerdings aus. Unter dem Deckel mit dem Aufdruck "DB 2020" kommt nur eine schmale Broschüre zum Vorschein, dazu ein Datenstick und ansonsten ein dickes Brett aus Styropor.
Viel Luft, wenig Inhalt - der Befund gilt auch für die Strategiefibel selbst. Da stehen erbauliche Sätze wie: "Wir wollen bis 2020 profitabler Marktführer werden." Von "transformationaler Führung" ist die Rede (angeblich der Wissenschaft entnommen), und von einem "Motor für das Bahnsystem".
Rote Balken zeigen, wie sich der Umsatz binnen eines Jahrzehnts verdoppelt, auf 70 Milliarden Euro. Alles in allem ein buntes Wunschkonzert. Ohne griffige Hinweise, wie aus der DB jene Bahn wird, die Bürger und Steuerzahler sich wünschen.
Der beste Verkäufer, den die Bahn je hatte
Kein Zweifel: Rüdiger Grube ist der beste Verkäufer, den die Bahn je hatte. Glanz und große Worte liegen ihm. Immerhin: In fünf Jahren an der Spitze - Anfang Mai feierte er sein kleines Jubiläum - hat er viel für das Ansehen des Staatskonzerns getan. Sein Vorgänger Hartmut Mehdorn (71) suhlte sich geradezu in Feindschaften; schrieb böse Briefe wie andere Leute Einkaufszettel.
Grube hingegen hat eine Charmeoffensive gestartet und nie mehr damit aufgehört. Meisterhaft umgarnt er Politiker, lobt Mitarbeiter. Persönlich besänftigt er erboste Kunden. Mindestens drei Beschwerden tagtäglich beantwortet der Chef selbst, am Telefon. "Die Bahn", bilanziert Grube seinen Erfolg, "hat die besten Imagewerte seit 20 Jahren."
Geschäftlich indes läuft es neuerdings weniger rund. Nach drei Jahren mit steigendem Überschuss brach der Gewinn 2013 ein, das Ergebnis nach Steuern fiel von knapp 1,5 Milliarden Euro auf weniger als die Hälfte (649 Millionen Euro). Die neue, nach unten korrigierte Mittelfristplanung (siehe Grafiken) zeigt: Es war kein einmaliger Ausrutscher. Vielleicht schaut Deutschlands oberster Weichensteller auch deshalb so gern in eine leuchtende Zukunft - die Gegenwart bietet zu viel hässliches Grau.
Das beginnt ausgerechnet im Kerngeschäft. Im Fernverkehr ist die Bahn von früheren Bestleistungen deutlich entfernt und verliert neuerdings Kunden an Fernbusse. Die Güterbahn rollt von einer Notlage in die andere und brachte zuletzt Jahr für Jahr weniger statt mehr Verkehr auf die Schiene.
Viel Fracht, wenig Gewinn
Unglücklich auch die Expansion ins globale Logistikgeschäft, die schon unter Mehdorn begann. Weltweite Dienstleistungen abseits der Schiene, etwa Luftfracht von Asien nach Amerika, bescheren der DB zwar viel Umsatz, aber nur mickrigen Profit. Vor allem bringen sie den Schienenkonzern nicht in seiner eigentlichen Aufgabe voran.
Den heikelsten Punkt erwähnt Grube in seinen visionären Papieren erst gar nicht. Die Bahn wird in Zukunft noch mehr staatliche Gelder verschlingen als ohnehin schon.
Nun hat Grube gewiss mehr geleistet, als zu lächeln und Schultern zu klopfen. Beherzt sanierte er die Berliner S-Bahn, die unter Mehdorn völlig heruntergewirtschaftet worden war. Gemeinsam mit seinem Compliance-Vorstand Gerd Becht (62) räumte er mit der Datenaffäre seines Vorgängers auf. Und nutzte den Schwung, um energisch auch gegen Kartelle zulasten der Bahn vorzugehen und bei Schlamperei von Lieferanten Regress einzufordern. Aus der strengen Kontrolle ist inzwischen fast ein Geschäftszweig erwachsen, der dem Konzern schon rund 200 Millionen Euro Schadensersatz eingebracht hat (siehe Fotostrecke). Auch das bessere Klima in der Belegschaft und die gewachsene Beliebtheit der Bahn bei Nachwuchstalenten zählen zu den Aktivposten der Grube-Bilanz.
Doch strategisch fügte er sich merkwürdig willenlos in die vorgegebene Linie. Mit schmerzlichen Folgen, die gerade im Fernverkehr zu besichtigen sind.
Steigende Ticketpreise: 16 Millionen Fahrgäste weniger als im Jahr 1999
Im Jahr 1999 beförderte die Fernflotte der Bahn gut 146 Millionen Passagiere. Man möchte meinen, dank der Neubaustrecken und der modernen ICEs müssten es heute erheblich mehr sein. Tatsächlich waren es 2013 fast 16 Millionen Fahrgäste weniger. Gemessen an den zurückgelegten Kilometern ergibt sich ein etwas günstigeres Bild; die Fahrten sind heute im Schnitt weiter. Aber auch da sprang kein merklicher Zuwachs heraus.
Ein peinlicher Befund für die Managementleistung der Bahn. Anders als der Regionalverkehr, der allein 2014 von 7,3 Milliarden Euro Staatsgeldern profitiert, muss die Fernsparte ohne Stütze auskommen. Hier soll das Management zeigen, was es kann - oder eben nicht. Personenverkehrsvorstand Ulrich Homburg (58) hat auf eine Hochpreisstrategie gebaut. In reger Folge erhöhte er die Ticketpreise, deutlich schneller als die Inflationsrate.
Das war offenbar kein Anreiz, in den ICE einzusteigen. Rüdiger Grube beschwichtigt: "80 Prozent der Reisenden im Regional- und Fernverkehr", sagt er, "haben rabattierte Fahrkarten." Doch der Rabatt durch die Bahncard muss immer teurer erkauft werden. Und selbst mit Nachlass ist eine lange Bahnfahrt mitunter teurer als ein Inlandsflug.
Die Profiteure der Hochpreispolitik der Bahn: Fernbusse und Billigflieger
Einen Profiteur hat die Hochpreispolitik: den Fernbus, in Deutschland seit Anfang 2013 in großem Stil zugelassen. Während die Bahn dümpelt, eröffnen immer mehr private Fernbuslinien.
Nach langem Zögern reagierte die DB. Auf der Strecke Hamburg-Berlin wurde unlängst ein Interregio-Express eingeführt. Der ist sehr viel günstiger als der ICE, braucht allerdings gut eineinhalb Stunden länger. Ein absurdes Schauspiel: Da steckt die Bahn erst Steuermilliarden in schnelle Strecken - und fährt dann Bummelzüge, weil viele sich den ICE nicht leisten können.
Ein noch schwächeres Bild gibt die DB bei ihrer Güterbahn ab, die heute DB Schenker Rail heißt. Hartnäckig leidet die Sparte unter Umsatzausfällen und Pannen aller Art. Regelmäßig verspricht Bereichsvorstand Alexander Hedderich (48) die Wende zum Besseren - und versagt ebenso verlässlich. Sein Vorgesetzter zeigt sich erstaunlich nachsichtig. "Wir sind die einzige große Güterbahn in Europa", behauptet Grube, "die schwarze Zahlen schreibt." Wirklich? Nach Zinsen hat DB Schenker Rail im vergangenen Jahr 32 Millionen Euro versenkt.
Aufsichtsräte rätseln, warum Grube Bereichschef Hedderich nicht ablöst. "Ich hatte eigentlich schon letztes Jahr erwartet, dass er gehen muss", sagt ein DB-Aufseher, "aber er scheint unter Artenschutz zu stehen." Hilft ihm womöglich eine alte Verbindung zu Mehdorn? 2004 bis 2009 war Alexander Hedderich sein Chefstratege.
Baustelle Güterbahn
Als Theoretiker genießt er bis heute einen guten Ruf. Doch zum praktischen Gestalten fehlt ihm augenscheinlich der Bezug. Nötig wäre handfestes Management, das sich der vielen Ungereimtheiten annimmt. Da stehen Waggons mit der Ware stundenlang herum, weil der Lokführerwechsel wieder nicht geklappt hat. Da dauern Transporte schier ewig, weil die Netzleitung die Güterzüge nicht durchstellt und sie x-mal für Personenzüge beiseitefahren müssen. Doch für derart kleinteiliges Aufräumen ist Hedderich wohl der falsche Mann.
Dabei dürfte die Güterbahn der Idee nach gar keine Sorgen haben. Wie ein Dogma vertritt Rüdiger Grube, dass die DB heute ein Universallogistiker sei und der enge Verbund allen Transportsparten nutze. Soll wohl heißen: Weil der Konzern mit seiner Tochter DB Schenker Logistics eine Weltmacht in der See- und Luftfracht ist und über die größte Lkw-Armada Europas gebietet, geht es auch der Fracht auf Schienen gut. Zu merken ist davon indes nichts.
"Unsere Kunden", verteidigt Weltlogistiker Grube seinen Kurs, "wollen Lösungen aus einer Hand." Als Beispiel nennt er eine Bahnverbindung von Leipzig nach China, mit der BMW Bauteile in sein chinesisches Montagewerk karrt. Gewiss eine lohnende, internationale Aufgabe für die Güterbahn. Aber kein Beleg dafür, dass die DB auch Handys von Südkorea nach Kanada fliegen muss.
Vorstand ohne Durchgriff
Viele Fachleute halten Grubes Logistikmantra für Wortgeklingel. Die Synergien der verschiedenen Frachtgeschäfte seien allenfalls gering. Dennoch setzt der Vorstandschef alles daran, die Einheit der Logistik zu demonstrieren. Im Vorstand vertritt nur ein einziger Manager, Karl-Friedrich Rausch (62), die gesamte Frachtsparte. Erst auf der zweiten Ebene sitzen die Chefs der Güterbahn (DB Schenker Rail) und der sonstige Warentransport (DB Schenker Logistics).
Die Folge: Der Weg bis zu den operativen Leuten ab der dritten Ebene ist viel zu weit. Die Konzernspitze hat kaum Durchgriff, was sich erkennbar rächt. DB Schenker Logistics hat sich zuletzt deutlich schlechter entwickelt als die großen Konkurrenten DHL und Kühne + Nagel. Die Umsatzrendite ist mit zuletzt 2,3 Prozent blamabel gering. Auch bei der Rendite auf das eingesetzte Kapital (ROCE) klappert sie dem Personenverkehr hinterher.
Da wäre es klüger, DB Schenker Logistics wieder loszuschlagen und das Geld ins Stammgeschäft zu investieren. Experten schätzen, dass ein Verkauf bis zu acht Milliarden Euro brächte. Ein Vorbild könnte die Deutschen Post sein. Die brachte ihre Tochter Postbank erst an die Börse, um sie dann mit hohem Gewinn komplett zu verkaufen.
Grube will mehr Geld vom Bund
Grube jedoch blockt jeden Gedanken daran ab. "Ich lasse mir die Logistik als integraler Bestandteil der Deutschen Bahn nicht ausreden!", blafft er, und die aufkommende Gesichtsröte zeigt, wie ernst ihm das Machtwort ist. Sich freiwillig beschränken - das ginge gegen sein Innerstes. Als ehemaliger Airbus- und Daimler-Manager ist die Welt sein Feld. So ist er sozialisiert, so soll es bleiben.
Außerdem wäre es für seine Pläne geradezu verheerend, wenn herauskäme, dass die Bahn auf potenziellen Milliardenreserven hockt. Denn Grube will mehr Geld vom Bund.
In einer vertraulichen Unterlage, die er dem Aufsichtsrat in einer Strategiesitzung am 11. Juni vorlegte, kommt der DB-Lenker auf den Punkt. Unter der Rubrik "Visionen und Handlungsfelder der Infrastruktur" stehen drei vielsagende Ziele: "Adäquate Mittelausstattung Bestandsnetz sicherstellen; Eigenmittel zur ROCE-Stabilisierung reduzieren; Regulierungsrisiken eindämmen."
Klingt nach mehr Geld vom Staat, aber weniger Kontrolle. Kein Wunder, dass die derzeit laufenden Verhandlungen über einen Finanzrahmen bis 2019 stocken. Der Bund zahlt bislang 2,5 Milliarden Euro jährlich für die Pflege des bestehenden Schienennetzes und hat schon zugesagt, jährlich 250 Millionen Euro draufzulegen. Die Bahn aber verlangt rund eine Milliarde mehr staatlichen Einsatz.
Bröselnde Brücken
Grube sieht sich auf der Seite der Gerechten. "Wir haben im Netz einen Investitionsstau von 30 Milliarden Euro", behauptet er, "wenn wir jetzt nicht gegensteuern, werden es in nicht allzu langer Zeit 50 Milliarden Euro sein."
Die Frage scheint allerdings, wie es unter den Augen der Bahn-Oberen zu diesem Stau kommen konnte. Für regelrechte Empörung hat Grubes Warnung gesorgt, 1400 Bahnbrücken seien marode. Die DB trage daran zumindest eine Mitschuld, dringt aus dem Verkehrsministerium. Es habe eben keine Vorgaben gegeben, wie viel Geld die Bahn für den Erhalt der Brücken ausgeben müsse; auch Strafzahlungen bei unterlassenen Maßnahmen seien nicht vereinbart gewesen. "Da liegt es nahe", stichelt ein Insider, "erst mal da Geld auszugeben, wo es Vorgaben gibt und Pönalen drohen."
Der Bahn-Chef drängt darauf, das ganze System umzustellen. Er wünscht sich einen Fonds für den Netzunterhalt, in den Bund und Bahn einzahlen.
Das Modell hätte Vorzüge. So müsste die Bahn den Aufwand für die Gleise nicht mehr in ihre Bilanz nehmen. Das Unternehmen hätte bessere Ergebnisse, vielleicht könnte es dann auch die Benutzungsgebühren für die Trassen senken, ein Vorteil auch für Wettbewerber.
Die Crux: Die DB will sich nicht festlegen, wie viel Geld sie wirklich dem Fonds überweist. In mauen Jahren wären es wohl ein paar Hundert Millionen weniger als in guten. Für die Differenz müsste wieder einmal der Staat einspringen. Der Bund wird dann erst recht zur Vollkaskoversicherung der Bahn AG. Und das, obwohl der Konzern doch so gern seine Eigenständigkeit betont.
Zeit, Luft rauszulassen
Tatsächlich liegen einige Schatten über der finanziellen Zukunft der Bahn, und für einen der größten hat der Vorstandsvorsitzende selbst gesorgt. Zu bereitwillig hat er das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 unterstützt. Das Jahrhundertvorhaben mag einen Beitrag zur Stadtverschönerung leisten. Für die Bahn bietet es vor allem die Aussicht auf ein wirtschaftliches Desaster. Den gewaltigen Aufwendungen stehen kaum Mehreinnahmen gegenüber.
Spätestens als Anfang vergangenen Jahres die projektierten Kosten noch einmal stiegen, auf 6,5 Milliarden Euro, hätte Grube aufbegehren müssen. Stattdessen gab er noch einmal zwei Milliarden Euro Eigenmittel der Bahn frei.
Im Aufsichtsrat wunderte man sich, dass Grube ohne großen Kampf kapitulierte. Zwei Milliarden Euro eigene Baukosten sind für die DB eine gewaltige Summe. Zum Vergleich: Zur Beseitigung von Engpässen im Netz auf Wunsch wichtiger Kunden setzt sie 130 Millionen Euro Eigenmittel ein - für vier Jahre.
Grube selbst wirkt ernüchtert. Zu den Hochzeiten des Streits um Stuttgart 21 stellte er sich noch demonstrativ vor das Projekt. Jetzt schiebt er Sachzwänge vor. "Vier Wochen bevor ich zur Bahn kam", sagt er, "wurden die Finanzierungsverträge unterschrieben." Er wolle aber kämpfen, um von den zwei Milliarden Euro einen möglichst großen Teil vom Land Baden-Württemberg zurückzubekommen. Einen ICE mit bloßen Händen zu stoppen dürfte leichter fallen.
Ist Grubes Vision 2020 angesichts der vielen Unwuchten überhaupt noch haltbar? In der revidierten Mittelfristplanung fehlen allein zwischen 2014 und 2017 rund 3,7 Milliarden Euro Gewinn.
Vielleicht enthält Grubes aufgeblasene Strategieschachtel ja doch eine klare Botschaft: Es wird Zeit, die Luft rauszulassen.