
Geldbringer: Die heiligen Cashcows von Google
Internet Revoolution bei Google
Hamburg - Das Geheimprojekt trug den Codenamen "Emerald Sea", Smaragdmeer. Und damit jeder der Beteiligten mitbekam, dass es hier um etwas Dringendes ging, vergab Google im vergangenen Jahr einen ungewöhnlichen Auftrag: Für das Gebäude in der Charleston Road sollten Kunststudenten ein Wandgemälde anfertigen. Direkt gegenüber den Fahrstühlen, dort wo jeder Mitarbeiter täglich vorbei muss.
Das Bild zeigt ein havariertes Segelschiff, umhergeworfen von gigantischen Brandungswellen - eine genaue Kopie des Gemäldes "Emerald Sea" des deutsch-amerikanischen Malers Albert Bierstadt. "Wir brauchten einen Codenamen, der ausdrückt, dass es hier entweder um eine großartige Gelegenheit geht, zu neuen Horizonten zu segeln", sagt Projektleiter Vic Gundotra, "oder aber, dass wir alle von dieser Welle ertränkt werden."
Ende Juni waren erste Ergebnisse von Emerald Sea in einer ersten Testversion online gegangen: Unter dem Namen Google Plus versucht der Internetkonzern, ein neues soziales Netzwerk zu etablieren, ein Frontalangriff auf Facebook. Anfang November wurde Google Plus auch für Unternehmen und Marken geöffnet. Der Erfolg solcher sozialen Online-Netzwerke, das ist jene Fortschrittswelle, die eines Tages Googles Geschäftsmodell verschlingen könnte.
Am 4. April 2011 ist Google-Mitgründer Larry Page auf den Chefposten seines Unternehmens zurückgekehrt. Mit allen Mitteln, dramatische Wandbilder inklusive, versuchen Page und sein Management seither, die 29.000 Google-Mitarbeiter wachzurütteln und auf den Kampf gegen neue Wettbewerber einzuschwören.
Mitarbeiter wachrütteln, während Milliarden in die Kasse strömen
Keine leichte Aufgabe, wenn das Kerngeschäft aus Internetsuche und Werbevermarktung die Milliarden mit einschläfernder Gleichmäßigkeit in die Konzernkasse strömen lässt. Umsatz 2010: 29,3 Milliarden Dollar, plus 24 Prozent, Gewinn: 8,5 Milliarden Dollar. Krise geht eigentlich anders.
Doch vor allem Page und sein Mitgründer Sergey Brin registrierten in den vergangenen Jahren erste Anzeichen des Erschlaffens. Eine gewisse Behäbigkeit machte sich breit im Inneren jenes Unternehmens, das nach dem Willen der Gründer niemals ein normaler Konzern werden sollte.
Nach und nach schoben sich Sedimentschichten von Mittelmanagern zwischen die einzelnen Projektleiter und das Executive-Team um Brin, Page und den damaligen Chief Executive Officer (CEO) Eric Schmidt. Immer mehr Mitarbeiter werkelten an esoterisch anmutenden Entwicklungsprojekten, die sich bei der Markteinführung regelmäßig als Flops herausstellten - was aber keinen der Beteiligten zu stören schien.
An den ersten Bürowänden tauchten kopierte Dilbert-Cartoons auf, Standard-Frustventil genervter Konzerninsassen.
Think bigger - wie Larry Page das Unternehmen umkrempelt
Als Arbeitgeber für junge Informatik- und Managementtalente ist Google längst nicht mehr erste Wahl im Silicon Valley. "Die jungen Toptalente zieht es eher zu den sozialen Online-Netzwerken. Dort locken mittlerweile die spannenderen Projekte und die lukrativeren Aktienoptionen", sagt Konstantin Guericke, Mitgründer des sozialen Netzwerks LinkedIn und heute als Mentor an der Stanford University tätig.
Selbst Topmanager sind in Scharen zu Facebook übergelaufen, allen voran die ehemalige Vertriebschefin Sheryl Sandberg, heute Chief Operating Officer bei Facebook. Inzwischen hat Google mit einer kräftigen Gehaltserhöhung für alle Angestellten versucht, den Exodus zu stoppen.
Im April dann startete Page sein gewaltiges Managementexperiment. Der Internetkonzern versucht sich am Turnaround - noch bevor sich die Schwierigkeiten an den Zahlen ablesen lassen. Schmidt wurde auf den Posten des Chairman abgeschoben, verantwortlich vor allem für Regierungsbeziehungen. Brin beschränkt sich künftig auf nicht näher definierte "Sonderprojekte".
"Es geht um eine Klarstellung der Rollen", sagt Page. "Die geteilten Verantwortlichkeiten haben dazu geführt, dass wir an Geschwindigkeit verloren haben."
Mehr Tempo: Page machte rasch deutlich, dass er es mit dieser Ankündigung ernst meint. Bereits am Tag seines Amtsantritts nahm Produktvorstand Jonathan Rosenberg seinen Abschied - offiziell ein seit Langem geplanter Schritt. Doch tatsächlich hatte Page schon lange gegen Rosenberg opponiert. "Er stand stellvertretend für jene Kaste von Mittelmanagern, die in Larrys Augen dafür verantwortlich sind, dass Google an Angriffslust verloren hat", urteilt Stephen Levy. Der Redakteur der US-Zeitschrift "Wired" hat in den vergangenen Jahren für sein neues Buch "In the Plex" einen beispiellos offenen Zugang zum Google-Management erhalten.
Neue Firmenstruktur und größte Übernahme in der Google-Geschichte
Fünf Tage nach Rosenbergs Abgang krempelte Page die oberste Führungsebene des Unternehmens um. Die Leiter der sieben wichtigsten Produktgruppen berichten nun direkt an ihn. Nikesh Arora, als Chief Business Officer ebenfalls Mitglied im obersten Führungsgremium: "Wir wollen in Zukunft weniger Pfeile abschießen, die dafür häufiger ins Schwarze treffen."
Die neue Firmenstruktur verdeutlicht die wachsende Macht jener beiden Männer, in deren Geschäftsbereichen sich Googles Zukunft entscheidet: Vic Gundotra, Leiter der Division soziales Web, und Andy Rubin, Chef der Sparte mobiles Internet, die sich vor allem mit dem Betriebssystem Android befasst.
Mitte August ging der neue CEO sein bisher größtes Wagnis ein: Google gab ein Kaufangebot ab für den kränkelnden Handybauer Motorola Mobility. 12,5 Milliarden Dollar - die mit Abstand größte Übernahme in der Google-Geschichte wird fast ein Drittel der Bargeldreserven des Unternehmens aufbrauchen. "Typisch Page", kommentiert Stephen Levy die Übernahme. "Wenn andere sagen: 'Think big!', dann sagt Larry: 'Think bigger!'"
Ursprünglich sei es bei den Verhandlungen mit Motorola nur um Patente gegangen, die Google für sein Android-Betriebssystem benötigt. Doch dann habe Page kurz entschlossen die ganze Firma gekauft.
Bloß nicht stehen bleiben
Pages Rastlosigkeit hat System. Um jeden Preis will der neue CEO verhindern, dass Google das Schicksal so vieler anderer Technologiekonzerne erleidet: Durch den eigenen Erfolg bequem geworden, verteidigen sie nur noch ihre Marktmacht und verpassen die nächste Entwicklungswelle.
Microsoft , Yahoo , AOL: Dutzende von Unternehmen sind bereits über dieses sogenannte Innovator's Dilemma gestolpert, und auch Google könnte ein ähnliches Schicksal drohen. Bis heute hat es der Konzern nicht geschafft, neben der Internetsuche und der daran hängenden Werbevermarktung eine zweite nennenswerte Cashflow-Quelle aufzubauen.
Das Wachstum im Kerngeschäft flacht zudem ab, selbst das zuletzt überraschend gute Quartalsergebnis konnte nicht verhindern, dass sich das Google-Papier seit 2010 unter dem Niveau des Vergleichsindex Standard & Poor's 500 entwickelt.
"Wenn Google Technologieführer bleiben will, muss das Unternehmen Antworten auf neue Herausforderungen finden", urteilt Karsten Weide vom Marktforscher IDC. "Das Internet wird mobiler und sozialer. Beide Entwicklungen führen dazu, dass klassische Suchmaschinen weniger genutzt werden."
Ein großer Teil des Internetverkehrs spielt sich mittlerweile in sozialen Netzwerken ab und bleibt Googles Suchalgorithmen verborgen. Und immer mehr Internetnutzer folgen lieber den Empfehlungen ihrer Facebook-Freunde als den Ergebnissen der Google-Suche. Im mobilen Internet wiederum ersetzen Apps, kleine spezialisierte Programme für Restauranttipps oder Flugbuchung, die Navigation via Suchmaschine.
Antworten auf den Rivalen Facebook
"Ich wusste genau, dass ich etwas tun musste, und bin daran gescheitert." Unumwunden gestand Eric Schmidt Ende Mai ein, auf die Herausforderung durch den Rivalen Facebook keine Antwort gefunden zu haben. Wie in einem Brennglas bündeln sich die über die Jahre gewachsenen Managementprobleme Googles in den gescheiterten Versuchen, ein eigenes soziales Netzwerk zu etablieren.
Laut Google-Weltsicht hätte der Aufstieg von Facebook eigentlich gar nicht passieren dürfen. Warum sollten die Nutzer persönlichen und damit fehleranfälligen Vorschlägen von lose miteinander vernetzten Online-Bekanntschaften Vertrauen schenken? Wo doch unfehlbare mathematische Formeln wie der von Page und Brin erfundene Suchalgorithmus bei der Orientierung im Internet weit überlegen sind.
Dementsprechend stiefmütterlich behandelte Google das erste eigene soziale Netzwerk des Konzerns, das immerhin bereits 2004 an den Start ging: Orkut, benannt nach seinem Erfinder Orkut Büyükkökten. Der türkischstämmige Google-Informatiker hatte seine Plattform, auf der die Nutzer bereits vor Facebook persönliche Profile anlegen und sich miteinander vernetzen konnten, in jenen 20 Prozent seiner Arbeitszeit ersonnen, die bei Google offiziell für persönliche Projekte reserviert sind.
Der Dienst brach unter dem Ansturm der Nutzer regelrecht zusammen. Anstatt das Projekt aber mit mehr Programmierern und Server-Kapazitäten aufzupäppeln, entschied das Google-Management, das Orkut-Team sich selbst zu überlassen. Die Kapazitätsprobleme wurden nie gelöst. Die Folge: Lediglich in Brasilien ist der Facebook-Rivale bis heute Marktführer - niemand weiß so genau, warum. Eine Annahme lautet, in Brasilien sei das Internet nun mal insgesamt sehr langsam, weshalb die Nutzer es gewöhnt seien, ewig zu warten, bis sich eine Orkut-Seite aufbaut.
Auch Wave, der nächste Versuch, das soziale Internet zu erobern, litt unter Googles Betriebsblindheit. Der Dienst gestattete es den Nutzern, zeitgleich zu mailen, zu chatten, Einträge zu kommentieren oder gemeinsam an Dokumenten zu arbeiten. Gewöhnliche Menschen waren von der Fülle der Funktionen heillos überfordert. Allein das offizielle Wave-Einführungsvideo dauerte 80 Minuten. Wave war nerd-, nicht alltagstauglich. Der Dienst wurde 2010 eingestellt.
Urs-Quake: Googles steiniger Weg in die Social-Media-Welt
Kein Vorstoß ins soziale Internet endete aber für Google derart desaströs wie der anschließende Anlauf namens Buzz. Der vermeintliche Facebook-Killer-Dienst war den Google-Mitarbeitern zuvor als "Hundefutter" zum Fraß vorgeworfen worden. "Eat your own dogfood": So heißt in Mountain View der Prozess, mit dem neue Produkte zunächst von den eigenen Mitarbeitern getestet werden. Die Googler hatten sich begeistert von der Tatsache gezeigt, dass Buzz alle Kontakte aus ihren E-Mail-Adressbüchern automatisch in öffentlich sichtbare Buzz-Freunde umwandelte.
Doch die Google-Belegschaft bildet alles andere als einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung. Die nämlich war entsetzt: Gewalttätige Ex-Ehemänner etwa konnten mit einem Mal sehen, welche Bekanntschaften die ehemalige Gattin pflegte. Buzz war tot, bevor der Dienst überhaupt mit Leben gefüllt werden konnte.
Es war der Schweizer Urs Hölzle, Google-Manager der ersten Stunde, der im März 2010 schließlich den Weckruf startete. In einem internen Memo warnte Hölzle die Googler davor, dass das zunehmend gemäß den Vorlieben der Nutzer organisierte Internet zu einer ernsthaften Bedrohung für Google werde. Eine geballte, entschiedene Strategie für soziale Medien sei nötig, forderte Hölzle - in Anspielung auf ein berühmtes Memo von Bill Gates, der 1995 gewarnt hatte: Microsoft drohe das Geschäft mit dem Internet zu verpassen.
Hölzles Botschaft ging als "Urs-Quake" in die Google-Annalen ein und wurde zum Auslöser für Gundotras Emerald-Sea-Projekt.
Google scheint endlich im sozialen Netz angekommen zu sein
Der 2006 von Microsoft abgeworbene Gundotra wurde zum Leiter einer schnellen Eingreiftruppe ernannt, die fortan mit allen Freiheiten und nahezu unbegrenztem Budget das Problem mit dem sozialen Internet lösen sollte. "Wir haben sehr aus der Vergangenheit gelernt", sagt Philipp Schindler, der ebenfalls von der Page-Revolution profitierte und als erster deutscher Manager in die Google-Führungsetage nach Mountain View berufen wurde. Gundotra habe "eine deutlich größere Vision verfolgt als die kleinteiligen Initiativen davor".
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Über 25 Millionen Nutzer hat Google Plus seit dem Start im Juli hinzugewonnen, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg ist auch registriert. Page hat Google Plus zur Chefsache erklärt, zusammen mit Gundotra baut er den Dienst zu einer übergreifenden Plattform aus, die mit anderen Google-Produkten wie E-Mail- oder Kartendiensten verwoben wird: "Die Zusammenarbeit zwischen Larry und Vic ist sehr eng", sagt Schindler. Google scheint endlich im sozialen Netz angekommen zu sein.
Doch zugleich offenbaren die vorangegangenen Fehlschläge im Kampf gegen Facebook die Defizite in Googles Firmenkultur. Von Anfang an folgten die beiden Firmengründer Page und Brin bei der Mitarbeitersuche einem einfachen Prinzip: Die Neugoogler sollten möglichst genauso sein wie die Gründer. Bis heute zeichnet Page jede Neueinstellung persönlich ab. Dementsprechend wimmelt es in der Googleplex genannten Firmenzentrale von Informatikern der Universitäten Michigan und Stanford, die Page und Brin einst besucht haben.
Die Informatiker dominieren die Google-Kultur bis hin zum schluffigen Dresscode. Ein Absolvent der Eliteuniversität Yale berichtet, dass er mit seinem osküstentypischen Look aus Oberhemd und Khakihose im Googleplex einfach nicht ernst genommen wurde. Erst als er sich ein paar T-Shirts und Kapuzenjacken zulegte, bekam er in Besprechungen ein Bein auf den Boden.
"Die Hierarchie bei Google ist kristallklar", sagt Google-Mitarbeiterin Denise Griffin. "Erst kommen die IT-Ingenieure und dann alle anderen." Teams werden zwar typischerweise von einem Produktmanager geleitet - doch der erfahrenste Informatiker in der Truppe besitzt meist ein informelles Vetorecht.
Die Hoffnungsträger: Vic Gundotra und Andy Rubin
Die Entwicklungsteams arbeiten dabei weitgehend unverbunden nebeneinanderher. Ihr Erfolg wird streng nach Datenlage beurteilt: Wer eine gute Resonanz beim Nutzer nachweisen kann, erhält zusätzliche Ressourcen in Form von Personal oder Rechnerkapazität. Oft arbeiten auch mehrere Teams an ähnlichen Produkten, die besseren Ideen sollen gewinnen. Doch im Fall Orkut führte dieser Darwinismus in einen Teufelskreis: Weil Orkut nicht genügend Rechnerkapazität hatte, stiegen die Nutzerzahlen nicht schnell genug, um zusätzliche Rechnerkapazitäten zu erkämpfen. Facebook zog davon.
Seit je bekommen Gruppen von Google-Nutzern immer wieder verschiedene Varianten von Google-Websites auf den Bildschirm geschickt, ohne dass sie davon etwas merken. Das Klickverhalten der Testkunden entscheidet darüber, welche Änderungen von Dauer sind und welche nicht. Unter Schmidt nahm die Testeritis teilweise absurde Züge an. Douglas Bowman, bis 2009 Designchef bei Google, sollte einmal nachweisen, ob eine Linie auf einer Google-Website besser drei, vier oder fünf Pixel breit zu sein hatte.
"Ab einem bestimmten Punkt werden Daten zu einer Krücke für jede Entscheidung und lähmen das Unternehmen", klagt Bowman, "ich kann in so einer Umgebung nicht arbeiten." Bowmann wechselte zum Online-Netzwerk Twitter.
Über ein Jahrzehnt hinweg hat die Rekrutierung nach Selbstähnlichkeit dazu geführt, dass vermutlich keine Konzernbelegschaft einen so hohen durchschnittlichen Intelligenzquotienten aufweist wie die von Google. Die soziale Intelligenz hingegen hat im Googleplex keine natürliche Heimstatt, um es vorsichtig auszudrücken. Immer wieder reagiert das Google-Management schockiert und fassungslos, wenn die Welt da draußen einfach nicht die streng rationale Weltsicht teilen will, die innerhalb des Googleplex vorherrscht.
Die Datenschutzbedenken bei Google Buzz oder dem von Page persönlich ersonnenen Projekt Google Streetview, bei dem ganze Straßenzüge abfotografiert und online gestellt wurden, konnten Schmidt, Page und Brin nie nachvollziehen. Kein Wunder, schließlich schilderte Page noch 2004 seine Zukunftsvision wie folgt: Irgendwann werde Google feststellen können, was die Menschen gerade denken, und ihnen die passenden Informationen direkt ins Gehirn einspielen. Für Page eine erstrebenswerte Vorstellung - so schildert es zumindest Levy in seinem Google-Buch.
Android: Räumlich getrennt vom Rest der Google-Mannschaft
Ironischerweise gedeihen mittlerweile jene Geschäftszweige am besten, die sich der Herrschaft der Logik-Ayatollahs zumindest ein Stück weit entziehen. Die Videoplattform Youtube, 2006 von Google für 1,7 Milliarden Dollar zugekauft, wurde zum Beispiel nie in den Konzern integriert. Auch Andy Rubin, neben Vic Gundotra der zweite große Hoffnungsträger für Googles Zukunft, hat sich seine Eigenständigkeit bewahrt.
Als Rubin sich erstmals mit dem Gedanken trug, ein Handybetriebssystem zu erfinden, das offen für externe Entwickler war und obendrein an alle Hersteller verschenkt werden sollte, da erntete er in der Branche zunächst nur Spott. Niemand verstand, wie Rubin allein mit Dienstleistungen rund um das Betriebssystem Geld verdienen wollte.
2005 tingelte der Tüftler auch bei Google vorbei, um Fürsprecher für sein neues Projekt zu finden: Google solle bitte für Android bei potenziellen Partnern ein freundliches Wort einlegen. Am Ende entschied Larry Page, dass Google Android samt seinen acht Mitarbeitern einfach aufkaufen sollte.
Die neue Google-Einheit behielt nicht nur ihren Namen, sondern auch volle Autonomie. Räumlich getrennt vom Rest der Google-Mannschaft, tüftelten die Android-Angestellten an ihrer neuen Supersoftware. Vor allem aber hatte Rubin mit Page einen leidenschaftlichen Fürsprecher - internen Zweiflern zum Trotz.
Nikesh Arora etwa warnte den neuen Mitarbeiter Rubin einst im Beisein von Page: "Es haben schon viele versucht, ein Handybetriebssystem zu bauen. Es wird euch so nicht gelingen." Page bedankte sich für den Einwand des ehemaligen T-Mobile-Managers Arora freundlich und ließ unbeirrt Geld in das Vorhaben fließen. "Ich habe mich inzwischen mehrfach öffentlich bei Andy Rubin entschuldigt", bekennt Arora heute. "Ich lag wohl daneben."
Wie wahr, Android ist heute das weltweit meistgenutzte Betriebssystem für Smartphones, die Alleskönner-Handys. Das Verschenken des Betriebssystems an Handybauer wie Samsung , LG und Sony Ericsson zahlt sich aus: Täglich werden weitere 550.000 neue Android-Geräte in Betrieb genommen.
Für Google kommen so jeden Tag eine halbe Million potenzieller Werbekunden im mobilen Suchanzeigengeschäft hinzu. Denn auf den Android-Handys sind Google-Anwendungen wie Online-Suche oder Kartendienste selbstverständlich vorinstalliert.
Zurück in die Zukunft
Doch was genau haben der geniale Erfinder Rubin und sein Chef Larry Page nun eigentlich mit Motorola vor?
"Die Übernahme ändert nichts an unserem Bekenntnis, Android als offene Plattform fortzuführen", beruhigte Page bei der Ankündigung seine Android-Partner. Wird Google das margenschwache Geschäft des Handybauers also rasch wieder verkaufen, um allein die Patente auszuschlachten - ganz so wie es die meisten Analysten vermuten?
Oder wird Page die komplette Verwandlung des Suchmaschinenkonzerns wagen? Hin zu einem integrierten Hard- und Softwareunternehmen, bei dem vom Betriebssystem über das Produktdesign bis zu den digitalen Zusatzdiensten, den Apps, alles fein aufeinander abgestimmt ist? Apple stieg mit genau dieser Strategie immerhin zum wertvollsten Konzern der Welt auf. Und Apple-Chef Steve Jobs gehört zu den wenigen Rivalen, denen Page so etwas wie Respekt entgegenbringt.
"Wer Larry Page und Andy Rubin kennt, weiß, dass sie sich mit nichts weniger als dieser Vision zufriedengeben werden", prognostiziert der Topmanager eines Google-Konkurrenten.
Grosse Wetten, volles Risiko - Page will mit Google zurück in die Zukunft. Er will dem Konzern jene Mischung aus Angriffslust und Größenwahn zurückgeben, die Google als Start-up einst so erfolgreich machte.
Revolutionsführer Page geht volles Risiko
Doch ist Page reif genug für die Rolle des Konzernlenkers? Eric Schmidt meint, ja. "Tägliche elterliche Aufsicht nicht länger vonnöten", twitterte er nach dem Machtwechsel. An den Finanzmärkten jedoch, dort wo vor allem stabile Cashflows und Wachstumsraten zählen, herrscht Skepsis gegenüber dem einstigen Montessori-Schüler Page. "Larry Page hat noch keine Erfolgs- und Erfahrungsgeschichte als CEO vorzuweisen. Es besteht ein großes Risiko, dass er scheitert", befindet Eric Jackson vom Investmentfonds Ironfire Capital.
Die Herausforderungen für Page sind enorm. Google Plus muss sich auch langfristig als Facebook-Alternative beweisen. Die US-Kartellbehörden haben das Geflecht rund um die Android-Software ins Visier genommen und könnten das Geschäft zerstören. Die Android-Partner könnten abspringen, wenn Page mithilfe der Motorola-Entwicklungsabteilung am eigenen Google-Phone und Google-Tablet-Rechner arbeitet.
Doch Revolutionsführer Page weiß auch: Die Erstarrung, der Rückfall in die Konvention bedeuteten den schleichenden Tod seines Geschöpfs.
Im Gebäude mit dem Wandgemälde, dort wo sich heute Googles Zukunft im sozialen Netz entscheidet, residierte einst der Pharmakonzern Alza. Auch bei Alza erlahmte irgendwann die Innovationskraft. 2001 wurde das US-Traditionsunternehmen samt den 10.000 Mitarbeitern vom Rivalen Johnson & Johnson aufgekauft.
Wenige Jahre später bezog Google die leerstehenden Büroräume an der Charleston Road.