Werbemann Kassaei Ein Weiser aus dem Morgenland

"Talent habe ich nicht so viel. Aber das Leben hat mir einen starken Willen und viel Ehrgeiz mitgegeben." Der persisch-österreichisch-deutsch-amerikanische Werbemann Amir Kassaei
Foto: Serge HoeltschiDas Hotel "Oceana" liegt an der Ocean Avenue in Santa Monica. Es ist ein zweistöckiges, gelbes Gebäude mit einem Schwimmbecken im Innenhof und ein ordentliches Haus. Keine dieser Absteigen, wo sie heimlich Pornofilme auf den Zimmern drehen und große Sauereien anrichten. Aber das Hotel "Oceana" ist auch kein Ort, wo Witwen ihren Tee trinken.
Amir Kassaei (42), der berühmte persisch-österreichische Werbemann, übernachtet gern hier, wenn er in Los Angeles zu tun hat. Er ist ein nicht allzu großer, scharfer Kerl, der manchmal unter Migräne leidet und auch jetzt gerade spürt, wie sich eine auf Zehenspitzen nähert. Für fünf Tage ist er diesmal im "Oceana" abgestiegen: Feinschliff und Endabnahme eines Werbefilms für Reebok erfordern Aufsicht und Tat.
Kassaei hat Zimmer 306 bezogen für 220 Dollar die Nacht, und es gibt, weiß Gott, teurere Hotels hier, die schlechter sind. Es ist im Grunde genommen sogar ein ganz reizendes Fleckchen, aber wie die meisten Fleckchen so richtig reizend nur bei Sonnenschein.
Doch leider hat es geregnet, der Himmel ist grau, die Mauern glänzen wie nach einem frischen Anstrich, und der Fotograf guckt und guckt und findet einfach kein schmissiges Motiv.
Also schwingen wir uns in seinen 95er Range Rover und fahren nach Venice, zum dortigen Muskelstrand: Das Wetter ist immer noch schlecht, aber es gibt da ein Panorama mit den Vorbergen des Topanga State Parks, dem Calabasas Peak und dem Santa-Monica-Pier samt Achterbahn und Riesenrad.
Amir Kassaei, gebürtig aus Teheran, eingebürgerter Wiener, ist einen Meter siebenundsiebzig groß und knapp 79 Kilo schwer. Er trägt Hemd, Pullover, umgekrempelte Jeans und braune Stiefel mit weißer Sohle, am Handgelenk eine Mille-Miglia-Teilnehmeruhr von Chopard, das heißt von Mercedes, ein Geschenk vom Kunden Daimler . Am Rennen teilgenommen hat er nicht: Er hat gar keinen Führerschein. Sein Schädel glänzt, als hätte er ihn vor 20 Minuten erst rasiert.
Wir schwenken auf den Parkplatz, wuchten uns aus dem Wagen, und Kassaei klopft erst einmal eine Muratti aus der Schachtel und peilt die Lage.
Man erzählt sich, er sei prinzipiell reizbar, mies gelaunt, ungehobelt und jähzornig. Er zündet sich die Kippe an: "Jähzornig?" Zieht. Überlegt. "Vielleicht." Kassaei hat einen Wiener Zungenschlag, so leicht, dass er schon nach zwei Wörtern nicht mehr wahrnehmbar ist.
"Ich ärgere mich, wenn die Leute keinen Anspruch an ihre Arbeit haben. Aber ich werde nie persönlich. Ich versuche, mich trotz der Rage einigermaßen korrekt auszudrücken - soweit es geht, wenn man sich in Rage redet."
Wir stehen am Strand und psychologisieren versuchshalber ein bisschen herum, kommen aber nicht weit, und er sagt: "Wissen Sie, über welchen Film ich immer weine, zweieinhalb Stunden lang? 'Forrest Gump'. Es ist der einzige Film, der so viel Wahres über das Leben erzählt: dass wir alle wie Federn sind und dass es jeder hinbekommen kann, wenn er sich selbst treu bleibt. Ich muss da regelmäßig heulen. Es ist ja ein kitschiger amerikanischer Film: Aber ich heule da zweieinhalb Stunden lang. Unfassbar!" Sehr angenehm, der Kassaei. Zeigt unter seinen traurigen Perseraugen jetzt ein geriebenes, geradezu ehrliches Grinsen.
Der Mann, behauptet ein fachkundiges Publikum, sei zurzeit der kreativste Werber der Welt, der originellste Kopf der Gilde, auch wenn man das natürlich nicht messen kann. Aber er ist eine der größten Nummern der ganzen Innung.
Zur Kundschaft gehören VW, Henkel, Bosch, Reebok und McDonald's
In Berlin leitet er gemeinsam mit Sturmpartner Tonio Kröger (45) die Geschäfte der deutschen Agenturgruppe DDB. Die beiden Manager hatten die Betriebe 2003 in verwahrlostem Zustand vorgefunden und binnen weniger Jahre zu Wohlstand, Vielfalt und Blüte geführt.
Im "manager magazin Kreativ-Index" nimmt die Firma, blendend gebaut und nur an manchen Stellen noch mit schlaffem Drall, seit Jahren einen Spitzenplatz ein. Zu der Gruppierung gehören Tribal DDB und Heye, zur Kundschaft Weltfirmen wie Volkswagen , McDonald's , Henkel , Bosch, Ikea oder eben Reebok.
Kassaei und Kröger sind, ohne Übertreibung, so gut, dass selbst andere Gute, von denen bei DDB eine Anzahl arbeitet, neben ihnen nicht mehr ganz so gut aussehen. Die K.-u.-K.-Monarchen ergänzen sich wie Theorie (Kröger) und Praxis (Kassaei) und haben einander obendrein ins Herz geschlossen: Der eine war Trauzeuge des anderen - und doch wird ihre Union nun gesprengt.
Kassaei ist zum Chief Creative Officer der gesamten Organisation aufgestiegen und geht nach New York: als Oberhaupt von 13.000 Werbeaktiven, die in 96 Ländern Etats von fast drei Milliarden Dollar betreuen und zuletzt einen Gewinn von 170 Millionen Dollar eingefahren haben.
Im Sommer richtet er sich mit Frau Marion und Sohn Vito in New York ein, in Brooklyn vielleicht, ähnlich zentrumsfern wie ihr Zuhause am Prenzlauer Berg.
Kassaei ist der erste Nicht-Amerikaner im Vorstand des Agenturkonzerns und der vierte Manager überhaupt in dieser Position seit Gründung der Agentur vor 62 Jahren. In der Branche zündete seine Berufung wie ein Kanonenschlag.
Über 2000 amtlich registrierte Auszeichnungen soll Kassaei unter Mitwirkung seiner Getreuen gewonnen haben; das Zunftorgan "The Big Won" hat den Fließbandprämierten zum "besten Kreativen der Welt" ausgerufen. Da fällt Bescheidenheit natürlich nicht besonders schwer: "Talent habe ich nicht so viel. Aber das Leben hat mir einen starken Willen und viel Ehrgeiz mitgegeben." Kassaei ist Leidenschaftskreativer, der, ohne einen bestimmten Stil zu pflegen, in guten Momenten jede Marketingverknotung lösen kann: Alles an ihm ist ein Öffnen und Auseinandernehmen.
Seine "Horst Schlämmer"-Schauspiele für VW gelten als Kostbarkeiten der Werbekultur und erhielten so viele Preise wie wenige andere Arbeiten zuvor. Der Mann ist eine Waffe mit der Schlagkraft einer ganzen Abteilung.
Auch Jean-Remy von Matt (58), Vorbild einer ganzen Generation von Verführungskünstlern, zollt dem Wilden seinen Respekt: "Ich finde ihn charismatisch. Kämpferisch. Mutig. Fokussiert. Willensstark. Beseelt. Unbeirrbar. Streitbar", sagt er. "Aber notfalls auch sehr charmant. Als Chef ist er begeisterungsfähig und begeisternd zugleich."
Die Branche könne froh sein, dass es ihn gebe: "Er hat den Mut, die Themen zu setzen und sich dabei schon mal weit aus dem Fenster zu lehnen. Oft auch zu weit, aber auch die paar öffentlichen Watschen schrecken ihn nicht."
Kassaei besäße "überragende schöpferische Kraft", preist ihn Freund Kröger, zählt ihn aber auch zu den "ungeduldigeren" Menschen: "Er ist getrieben von seinen Ansprüchen und dem Ringen um die beste Lösung. Da wird er nie müde."
Seine Unrast macht den Umgang mit ihm nicht einfach. Für den diplomatischen Dienst taugt er nicht. Er ahnt, dass es "viel mehr Leute gibt, die mich nicht mögen, als solche, die mich mögen". Er ist ein Rauer in einer Welt für Glatte.
Er ist kein Heiliger, aber er hat seine Grundsätze
Weil er die Werbung so liebt, erzürnen ihn jene, die unachtsam mit ihr umgehen: Kassaei verdammt sinnlose, verabscheut überflüssige, verachtet nutzlose Dinge: Waren, die das Leben nicht einfacher, effizienter oder wenigstens schöner machen. Zu viel Mist würde von Werbeleuten künstlich am Leben gehalten. Von vielen Kollegen hält er wenig: "Heiße Luft" nennt er, was sie ausstießen.
Dank des Internets ließen sich die Menschen aber "nicht mehr verarschen", die Wahrheit über "hohle Unternehmen" und ihre Erzeugnisse käme heute schnell ans Licht: Agenturen, die nur lustige Ideen für traurige Produkte lieferten, seien dem Tode geweiht. Nein, "Relevanz" will er, "Substanz" sehnt er herbei, nach Gewicht und Bedeutung verzehrt es ihn. Werber als moderne Unternehmensberater - so was schwebt ihm vor.
Kassaei ist kein Heiliger, aber er hat seine Grundsätze, und die verkeilen sich manchmal mit der herrschenden Meinung: "Wahrhaftigkeit ist das Wichtigste im Leben", sagt er. "Wahrhaftig zu sein heißt, sich selbst nichts vorzumachen."
Und anderen auch nicht: Zwischenzeitlich hatte er den Vorsitz des Art Directors Clubs inne, der obersten Interessenvertretung der besten Kreativen, und natürlich konnte das nicht gutgehen. Radikalisiert, wie er ist, widersetzten sich die "alten, grauen Männer" seinen umstürzlerischen Anwandlungen: Seinen Rücktritt teilte er der Bruderschaft in einer E-Mail aus dem Urlaub mit.
Jean-Remy von Matt meint, dass Kassaei "genau der Richtige ist, um Akzente zu setzen", aber "nicht die Bestbesetzung für nachhaltig stabilen Erfolg". Er, von Matt, habe "keine Kampagne und keinen großen Slogan in Erinnerung, der klar auf ihn zurückführt und einen Markt geprägt hat". Das ist eine giftige Bemerkung. "Dennoch", sagt er, "wünschte ich mir, wir hätten mehr von ihm, zumal große Organisationen einen Vorkämpfer von diesem Schlag brauchen."
Der Fotograf hat ihn jetzt, wie er ihn haben will: Die Arme verschränkt und dazu ein Lächeln, das keines ist. Kassaei: "Ruhm und Ehre hatte ich schon genug. Das sind keine treibenden Kräfte mehr."
Kassaei ist längst nicht so eitel, wie seine Gegner behaupten. Dass man von ihm etwas lernen könne, meint er, "wäre eine arrogante Behauptung. Aber man kann vielleicht lernen, dass man es mit starkem Willen und einem gewissen Anspruch weit bringen kann, auch ohne gute Voraussetzungen zu haben. Ich will nichts Tolles sein, ich will einfach nur meinen Weg gehen." Und auf diesem Weg blieb ihm wenig erspart.
Aufgewachsen in einer gutbürgerlichen Familie in Teheran, schickte man den Jungen im Alter von 13 Jahren als Kindersoldat auf die Schlacht- und Minenfelder des Iran-Irak-Krieges.
Er lernte, seine Kalaschnikow mit geschlossenen Augen auseinanderzunehmen und zusammenzusetzen, und er lernte, wie man mit ihr Menschen tötet, und er lernte auch, dass sein bester Freund, ein Jahr jünger noch als er selbst, nicht unsterblich war, als ihn vor seinen Augen eine Mine zerriss. Albträume suchen Amir Kassaei noch heute heim.
Mit 15 schleusten ihn seine Eltern im Kofferraum eines Menschenschmugglers über die türkische Grenze. In Istanbul fand er Asyl in der österreichischen Botschaft und landete im November 1983 in Wien-Schwechat, wo ihn ein entfernter Verwandter seiner Mutter erwartete: einen Jungen ohne Familie, ohne Geld, ohne Fotos, ohne Deutsch: "Wenn jeder vernünftige Mensch sagt ,Das wird nicht mehr weitergehen' - das sind so die Momente, für die ich lebe. Deswegen bin ich ja Muhammad-Ali-Fan: Seine Geschichte ist die beste Schule der Welt." Amir putzte Klos, schippte Schnee, lebte jahrelang in einem Untergeschoss auf einer Matratze und "lernte doch innerhalb eines Jahres nicht nur perfekt Deutsch, sondern sogar Wienerisch", wie sich sein bester Freund, der Wiener Architekt Oliver Witzani, erinnert.
Glücklich mit Muratti und Weißwein
Alles, was nach seinem 15. Geburtstag geschah, sollte Amir Kassaei später als eine Zugabe empfinden: "Echte Kämpfer essen keinen Honig, sie kauen Bienen", hat er einmal gesagt. Seine erste kulturelle Identität hat er eingetauscht und sich ohne zu zögern angepasst: Dies sei er sich selbst schuldig gewesen.
Zweimal hat er seine Eltern seit der Flucht gesehen: Für den Deserteur führt kein Weg zurück nach Teheran. Wenn er mit ihnen telefoniert, dann sprechen sie Englisch. "Ich habe keinen Bezug mehr zum Iran. Ich bin eher Österreicher oder sogar Deutscher. Heimat ist ein Gefühl, kein Ort - ein warmes Gefühl."
Mit 19 Jahren macht er seine Matura, verweigert den Kriegs-, leistet Ersatzdienst als Sterbebegleiter in einem Hospiz, besucht eine Tante in Paris, bewirbt sich, von ihr dazu ermuntert, an der Eliteuniversität von Fontainebleau, studiert am Tag Betriebswirtschaft, arbeitet in der Nacht als Barkeeper. Ferien? Keine.
Kassaei wird Buchhalter bei L'Oréal, wechselt in die Werbung, zu TBWA, 1997 zur damaligen Eliteagentur Springer & Jacoby, überwirft sich mit deren Gründern, die bis heute schlecht auf ihn zu sprechen sind, und geht 2003 schließlich zu DDB nach Berlin, wo er mit Partner Kröger die große Aufwärtsschleife band.
Den Reiz, selbstständig zu sein, hat er nie empfunden: "Was ist denn das für eine Leistung, eine funky Werbeagentur in Deutschland unter eigenem Namen zu gründen? Was ist das für ein Anspruch? Nein!", sagt er mit einem Gesicht so sachlich wie einer bei der Mordkommission.
Kassaei wirtschaftet seine 15 Stunden am Tag. "Unter seinem Arbeitseinsatz", sagt Freund Witzani, "haben auch seine Beziehungen gelitten." Kassaei hat noch drei andere Kinder von zwei anderen Frauen und zu allen - so sagt er - ein gutes Verhältnis: "Mein Wertvollstes", strahlt er, "sind meine Familie und meine Kinder."
Beruflich gesehen, gelten die vergangenen Monate trotz seines Fortkommens nicht als die einfachsten in Kassaeis Karriere: Hubble Innovations, eine im Frühling 2010 gegründete Denkanstalt, die mit Neuheiten aller Art aufwarten sollte, ist nahezu verstummt, im "Kreativ-Index" fiel DDB auf Platz sechs zurück.
Tatsächlich steckt die deutsche Agenturgruppe im Umbau, Kröger und Kassaei haben DDB und die Netzagentur Tribal unter neuer Leitung zusammengefügt. Kunden wie Henkel, Telekom oder Bosch stellen zwar fleißig Aufträge aus. Aber VW etwa lässt häufiger auch andere Agenturen zum Zuge kommen. Auch Ikea und Entega zeigen gewisse Zurückhaltung.
Für die hiesigen DDB-Betriebe dürfte das Ende des K.-u.-K.-Regimes wenige Vorteile bieten. Der Abgang reißt eine Lücke in die durch einige Personalwechsel geschwächten Angriffsreihen. "Der Verlust für DDB Deutschland ist nicht so groß, definitiv nicht", meint Kassaei. "Wir haben sehr gute Leute in zweiter und dritter Reihe hochgezogen. Die müssen jetzt nur aus meinem Schatten herauskommen."
Einigen Kunden will er sich weiterhin persönlich widmen. Man wird sehen, wie weit diese Widmung geht. Kumpel Kröger wirkt kämpferisch, aber auch nicht so, als würde ihn die Vorstellung, in Deutschland künftig auf die Dienste Kassaeis weitgehend verzichten zu müssen, bis in die Fußspitzen aufwärmen.
Wir steigen wieder in den Range Rover. Der Fotograf ist zufrieden: mit Kassaei, mit der Optik, mit allem Dran und Drum.
Vorm Hotel "Oceana" setzen wir Kassaei ab und vertüdeln unsere Zeit mit ein paar Abschiedsfloskeln: "Mir war nie wichtig, Karriere zu machen oder Titel zu erringen", behauptet er. "Wenn man mir meine Muratti gibt und hin und wieder ein Glas Weißwein, dann bin ich der glücklichste Mensch der Welt."
Amir Kassaei, ein Weiser aus dem Morgenland.