Fiat/Chrysler Die Firma bin ich, Sergio Marchionne

Fiat-Chef Sergio Marchionne: Nichts heilig, wenn der Preis stimmt
Foto: TOBIAS SCHWARZ/ REUTERSHamburg - Sergio Marchionne (58) kaut Kaugummi. Er steht gelangweilt in Halle 6 des Genfer Auto-Salons und schaut auf die Zukunft seines Unternehmens. Vor dem Fiat-Chef leuchtet ein roter Flitzer, der "Alfa Romeos große Tradition als Hersteller von Hochleistungsautomobilen zurückbringen" soll. So hat Markenchef Harald Wester (53) den "4C" angekündigt.
Marchionne, Vorstandsvorsitzender der Autohersteller Fiat und Chrysler, und damit auch für Alfa Romeo verantwortlich, hat das nicht gehört. Er ist zu spät gekommen an diesem Vormittag Anfang März, einen lärmenden Keil von Kamera-, Mikrofon- und Schreibblockträgern hinter sich herziehend.
Jetzt müsste er eigentlich den flach gedrückten Zweisitzer vor ihm bewundern. So würden es die deutschen PS-Aficionados tun, die Winterkorns und Zetsches, denen nichts wichtiger ist, als die besten Autos der Welt zu bauen.
Aber Marchionne verschränkt distanziert die Arme vor der Brust. Er nickt, wechselt ein paar Worte mit seinem Großaktionär John Elkann (34) - und geht dann weiter. Zu den anderen Ständen des Konzerns, zu weiteren vierrädrigen Hoffnungsträgern.
Ein neuer Jeep, Marchionne hebt die Arme und klatscht fünfmal gnädig. Ferraris erster Viersitzer, die "Auto Bild" schwärmt von der "schärfsten Einkaufstüte der Welt", Marchionne lehnt müde an einer Trennwand.
Fiat zeigt Europa an diesem Morgen, mit welchen Autos der Konzern die Kunden zurückerobern will - und den Vorstandschef scheint es nur am Rande zu interessieren.
Wenn es einen untypischen Lenker eines Automobilherstellers gibt, dann ist es Sergio Marchionne: bekennender Pulloverträger, in den italienischen Abruzzen als Sohn eines Carabiniere geboren, mit der Familie als 14-Jähriger nach Toronto ausgewandert, diplomierter Volkswirt, Anwalt sowie Wirtschafts- und Steuerprüfer. Wiederholt schimpfte er, der Automobilbau sei ein uninteressantes und irrationales Geschäft, geprägt von staatlicher Kontrolle und ewigen Überkapazitäten.
Was interessieren so jemanden schon die weniger als 850 Kilogramm des neuen Alfa, seine mehr als 200 Pferdestärken und weniger als fünf Sekunden von null auf 100 Kilometer pro Stunde?
Ausgerechnet dieser automobile Außenseiter traut sich das aktuell wohl gewagteste Projekt der gesamten Branche zu: Fiat und Chrysler zum gemeinsamen Erfolg zu führen.
Marchionne hat schon häufig alle überrascht. So rettete er Fiat nach seiner Amtsübernahme im Juni 2004 aus einer nahezu ausweglosen Situation. Das Unternehmen hatte binnen vier Jahren einen Nettoverlust von acht Milliarden Euro angehäuft. Nur noch der Zeitpunkt der Pleite schien ungewiss.
Doch dann kam Marchionne; und fast sieben Jahre später ist Fiat - gemessen am Quotienten aus Aktienkurs und Gewinn - das an der Börse am höchsten bewertete Autounternehmen Europas.
Der Hauptgrund für dieses scheinbare Wunder ist einfach: Der Mann ist ein Finanzgenie. "Wer sich mit Marchionne auf diffizile Finanzverhandlungen einlässt, ist selbst schuld. Er wird verlieren", sagt ein Italiener, der ihn gut kennt.
Der Poker gegen GM
Marchionnes erstes Opfer während seiner Fiat-Ära war der damalige GM-Chef Rick Wagoner (58). Der amerikanische Autokonzern hielt 20 Prozent der Fiat-Aktien, und die Italiener besaßen die Option, GM auch die restlichen 80 Prozent der Anteile anzudienen.
Das wollte Marchionne zwar nicht. Aber er wusste auch, dass Wagoner nicht kaufen konnte. GM fehlte dazu das Geld. Also pokerte der Fiat-Chef, drohte damit, die Option zu ziehen, und ließ sich satt dafür entschädigen, das Recht verfallen zu lassen. GM zahlte 1,55 Milliarden Euro, und Fiat hatte wieder Geld in der Kasse.
Dann überredete Marchionne eine Gruppe italienischer Banken, eine Wandelanleihe über drei Milliarden Euro in Aktien zu tauschen. Der Agnelli-Clan investierte weitere 535 Millionen Euro, um seinen Anteil über 30 Prozent zu halten. Marchionne hatte nicht nur die Pleite verhindert, sondern auch noch das Eigenkapital des Konzerns gestärkt.
Immer wieder verblüffte der Fiat-Chef die Branche. Eines seiner Meisterstücke liegt gerade zweieinhalb Monate zurück: Er spaltete den Konzern, trennte das prosperierende Industriegeschäft von der ewig Not leidenden Autogruppe; und schon hatte er den Wert des Unternehmens fast verdoppelt.
Bevor Marchionne die Teilung im Mai 2010 ankündigte, war Fiat an der Börse 10,7 Milliarden Euro wert. Bis Mitte März wurden daraus 19 Milliarden Euro. Dass der Landmaschinenhersteller Case New Holland und die Truck-Bauer von Iveco die Autoverluste in der nächsten Krise nicht mehr ausgleichen können, wird flugs ins Positive verkehrt: "Das spornt nur zu größeren Leistungen an", sagt Großaktionär Elkann.
Das verrückteste Ding gelang Marchionne allerdings 2009: Fiat stieg beim US-Konkurrenten Chrysler ein, selbst eine Fusion wurde nicht ausgeschlossen.
Ein nicht weit von der Pleite entfernter Konzern verbündete sich mit einem anderen, der bereits Insolvenz angemeldet hatte. "Zwei Kranke ergeben keinen Gesunden", urteilte VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch (73) gewohnt lapidar.
Doch Marchionne brauchte dringend einen Partner. "Allein wäre es für Fiat sehr schwer geworden", sagt Elkann, als Oberhaupt der Agnelli-Familie in alle wichtigen Entscheidungen eng eingebunden. Bei PSA Peugeot Citroën lehnte die Peugeot-Familie Marchionnes Offerte ab, auch bei Opel kam man nicht zum Zuge.
Chrysler dagegen war zum Schnäppchenpreis im Angebot: Marchionne sicherte sich zunächst 20 Prozent der Anteile sowie die Option auf weitere 15 Prozent - und zahlte dafür keinen Cent Bargeld. Lediglich Fiat-Motoren musste er Chrysler zur Verfügung stellen, das Unternehmen international voranbringen und den Amerikanern zu einem spritsparenden Antrieb verhelfen, den er für Fiat ohnehin benötigt. Fast zum Nulltarif bekam Marchionne die Kontrolle über einen Konzern, der dem damaligen Daimler-Chef Jürgen Schrempp (66) 1998 noch 36 Milliarden Euro wert gewesen war.
Mit einem Schlag hatte er den Absatz seines vorher bescheidenen Autoreichs auf etwa dreieinhalb Millionen Fahrzeuge pro Jahr gesteigert. Und wenn die Krise erst vorüber wäre und die Zusammenarbeit funktionierte, so kündigte er an, sollten daraus jene sechs Millionen Fahrzeuge jährlich werden, die er selbst als die zum Überleben nötige Größe ausgerufen hatte.
Neue Erfolgsmodelle aber schuf Fiat während Marchionnes bald sieben Jahren im Amt nicht. Der einzige automobile Coup gelang mit dem Fiat 500. Doch diese Idee war schon unter einem seiner zahlreichen Kurzzeitvorgänger entstanden.
Notarztstrategien bis ins Extrem gesteigert
Der Controller Marchionne konzentrierte sich auf die Finanzen, strich die Investitionen auf das Nötigste zusammen. Als sich die Autokrise Anfang 2009 ihrem Höhepunkt näherte, trieb er diese Notarztstrategie bis ins Extrem. Seine Logik: Wenn die Käufer ohnehin streiken, lohnen sich auch keine neuen Modelle. Erst ab 2013, so entschied er, wären sie wieder besser verkäuflich. Die Folge: Die Fiat-Marken trockneten aus, 2011 und auch 2012 haben die Italiener mit Ausnahme Ferraris ähnlich wenig Neues zu bieten wie die Chrysler-Kollegen aus Detroit.
Also benötigt Marchionne einen neuen Coup am Finanzmarkt; und tatsächlich, in solchen Dingen ist auf den Fiat-Chef Verlass. Der nächste Befreiungsschlag ist bereits angekündigt.
Chrysler soll an die Börse, Fiat vorher die Mehrheit übernehmen, und das alles möglichst schon 2011. Für den Fall einer neuerlichen Notlage hätte der Konzern dann eine zusätzliche Option, sich Geld zu besorgen. Es wäre ein typischer Marchionne-Deal: eigentlich unmöglich, aber irgendwie doch zu schaffen.
Tatsächlich wäre die US-Regierung offenbar bereit, ihre Chrysler-Anteile früher als vor dem eigentlich vereinbarten Termin 2013 zu verkaufen. Zunächst einmal aber muss Chrysler seine 7,5 Milliarden Dollar Schulden bei den USA und Kanada zurückzahlen. Vorher darf Fiat die Mehrheit nicht übernehmen.
Aber auch die Refinanzierung der Staatskredite ist bereits so gut wie perfekt. Die Banken stehen parat, noch vor Ende Juni soll alles über die Bühne gehen - und Fiat anschließend für 1,3 Milliarden Dollar zusätzliche 16 Prozent an Chrysler übernehmen.
"So schwierig es scheint: Den schnellen Börsengang wird Marchionne schaffen", sinniert ein italienischer Fiat-Begleiter bereits. "Aber was kommt dann?"
Eine goldene Zukunft - zumindest wenn man Marchionnes Visionen glauben darf. Spätestens für 2014 verheißt er einen neuen Giganten der Autoindustrie: 104 Milliarden Euro Umsatz, eine höchst ansehnliche Umsatzrendite von operativ knapp 8 Prozent, mehr als sechs Millionen verkaufte Wagen, Erfolg auf allen Märkten und Kontinenten. Aus den zwei Kranken wäre tatsächlich ein Gesunder geworden. Fiat-Chrysler, oder wie der fusionierte Konzern auch immer hieße, gehörte zu den Top sechs der Autowelt.
Aber kann das wirklich gelingen? Oder inszeniert Sergio Marchionne gerade so etwas wie den größten Bluff der Automobilgeschichte; wird der künftige Weltkonzern Fiat/Chrysler sich als eine Fata Morgana aus Kennzahlen erweisen? Clanchef Elkann klopft bei dem Thema gern dreimal auf seinen Schreibtisch. Die Konzernmächtigen wissen, wie schwierig die nächsten zwei Jahre noch werden, bevor endlich die italienisch-amerikanische Modelloffensive ins Rollen kommt. Dass die Übernahme eine langfristige Wette ist, die gewonnen, aber auch verloren werden kann.
Zweifel an der Werthaltigkeit des unerhörten Projekts weckt schon der Managementstil des Mannes, der den Konzern komplett von sich abhängig gemacht hat.
"Sergio Marchionne ist mit Abstand der schnellste, intelligenteste und smarteste Manager der Branche", sagt einer aus seinem Umfeld. "Aber leider hat er kein Team." Anders gesagt: Er ist einer der letzten Diktatoren Europas.
Marchionne, so schildern es viele Wegbegleiter, hört nur auf einen einzigen, und das ist er selbst. "Dieser Mann ist Fiat", sagt ein italienischer Gewerkschaftsführer. Wo in anderen Konzernen Vorstände gemeinsam an Lösungen feilen, hängt bei Fiat und Chrysler alles an einer Einzelperson. Unter Marchionne managt, designt und entwickelt eine Riege von 50 Zuarbeitern, die allesamt direkt an den Chef berichten. Fiele er morgen aus, wäre Fiat mitten im größten Umbruch vollkommen kopflos.
Bedenken sind bei Marchionne selten erlaubt
Es ist allerdings nicht nur Marchionnes Allmacht, die Probleme bereitet. Bedenken sind bei ihm selten erlaubt. Selbst Vorstände werden in größeren Runden der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn sie es wagen, die Vorschläge des Vorsitzenden infrage zu stellen. Intern ist bereits von einer Kultur der Angst die Rede.
Das Ganze hat System: Marchionne holt gern junge Leute in die Führung. Die sind völlig abhängig von ihm, folgen ihm blind, und wenn sie seine Gunst verlieren, lässt er sie wieder fallen.
Indes opfert auch Marchionne vieles dem Job. Er arbeitet sieben Tage die Woche, jettet ständig zwischen Turin und der Chrysler-Zentrale in Auburn Hills hin und her, schläft fast schon regelmäßig im Firmenjet über dem Atlantik. Freizeit kennt der Mann nicht; seine Ehe scheiterte im vergangenen Jahr.
Marchionne "will sein eigenes Denkmal schaffen", sagt einer seiner Anhänger, und dabei arbeitet er als kreativer Zerstörer nach dem Vorbild Schumpeters. Eingerissen hat er in der Tat vieles in Turin, das alte verkrustete und bürokratische Fiat ist Geschichte, er hat aus einem Ministerium ein Unternehmen gemacht. Und aktuell zerschmettert er auch, Werk für Werk, die Macht der starken italienischen Metallgewerkschaften.
Aber kann Marchionne tatsächlich einen Automobilkonzern zur Blüte führen, der noch komplexer ist als Volkswagen? Mit zehn Marken, dazu zwei Automobilzulieferern ?
Auf langjährige Erfahrung im Autogeschäft kann der Fiat-Chef nicht bauen. Er arbeitete in seiner Karriere für acht Firmen in sieben unterschiedlichen Branchen, darunter Unterhaltungselektronik, Verpackungsproduktion, Einzelhandel und Aluminiumindustrie. Selbst die Schweizer Großbank UBS bot ihm während der Finanzkrise an, die Konzernspitze zu übernehmen.
Marchionne plagen keine Zweifel an seiner Kompetenz, wie jüngst auch ein Analyst erfuhr. Noch niemandem in der Autobranche sei eine transatlantische Kooperation gelungen, hatte der Branchenexperte den Fiat-Chef angegriffen. Warum Projekte, an denen Daimler wie General Motors gescheitert sind, nun ausgerechnet Fiat und Chrysler gelingen sollten? "Wenn ich GM geführt hätte", entgegnete Marchionne, "stünde es jetzt nicht so schlecht da."
Doch GM sowie Fiat/Chrysler eint, dass beide kaum begehrenswerte Modelle bauen. Selbst Marchionne-Vertraute gestehen ein, die noch getrennten Unternehmen seien derzeit nicht wettbewerbsfähig.
Der Unternehmenschef investiert das niedrige Budget geschickt, konzentriert sich zum Beispiel bei Antrieben auf konventionelle Verbrennungsmotoren. In Elektro- oder gar Brennstoffzellentechnik, von vielen Konkurrenten für sehr viel Geld selbst entwickelt, sieht er keinen künftigen Fiat-Schwerpunkt - und überlässt die Forschung lieber Zulieferern.
Aber das ist nur die eine, die positive Seite von Marchionnes Sparsamkeit. Die negative: Der Mann mag vieles verbessert haben und große Erwartungen wecken in Turin; doch auch nach sieben Jahren Marchionne türmen sich die Probleme: "Fiat verdient nur in Brasilien sowie mit seinen Luxusautos und leichten Nutzfahrzeugen auskömmliche Renditen. Ansonsten kämpft der Konzern mit roten Zahlen", sagt Arndt Ellinghorst, Analyst bei der Schweizer Bank Credit Suisse. In den entscheidenden Zukunftsmärkten China und Indien ist Fiat kaum vertreten, die für Russland geplante Kooperation mit dem heimischen Sollers-Konzern platzte gerade.
Was für die italienische Hälfte dieses Imperiums der Hoffnung gilt, trifft für die amerikanische Seite erst recht zu. Als Fiat 2009 einstieg, fanden die Turiner ein ausgezehrtes Unternehmen vor. Der Vorbesitzer, der amerikanische Hedgefonds Cerberus, hatte radikal gekürzt. Viele Entwickler mussten gehen, etliche weitere verließen den Autobauer wegen der schwierigen Bedingungen freiwillig.
Nur noch billige Standardware bestellt
"Du läufst durch die Gänge, und es ist keiner mehr da", berichtete damals ein Mitarbeiter. "Wir sind gerade noch fähig, die vorhandenen Materialien zu Autos zusammenzustecken. An Entwicklung läuft hier so gut wie nichts mehr."
Die Folgen sind überdeutlich: Um die Flotte der Chrysler-Marken irgendwie präsentabel zu erhalten, investierte Marchionne 1,1 Milliarden Dollar und hübschte ein gutes Dutzend alter Modelle auf. Mal gab es ein nobleres Interieur, mal bessere Bremsen und Federungen.
Für die nächsten Jahre steht zwar einiges an neuen Autos in den Produktionsplänen, etwa ein Geländewagen und ein siebensitziger Van für Fiat, beides auf Basis von US-Modellen. Aber warum sollten künftige Marchionne-Mobile besser einschlagen als viele aktuelle?
Abgesehen von Maserati und Ferrari seien Jeep und Alfa Romeo die einzigen wertvollen Pkw-Marken des Konzerns, sagt selbst der Chef. Fiat-Pkw hat die Qualität im Vergleich zu früher zwar deutlich verbessert und glänzt mit sparsamen kleinen Motoren. Aber Zulieferer berichten, die Italiener bestellten nur noch billige Standardware, setzten auf eine Art Discount-Strategie.
Der Marktanteil in Europa ging bereits deutlich zurück, in Deutschland kann sich das Unternehmen nur mit hohen Rabatten helfen. Marchionne hofft auf künftige Verkaufserfolge in den USA, aber diese Erwartung hat schon viele getrogen.
Das angebliche Glanzstück Alfa Romeo schreibt trotz eines Minimums an Modellinvestitionen seit Jahren ein hohes Minus. Von gut 200 Millionen Euro vor Zinsen und Steuern ist im Konzern die Rede, der Absatz sackte auf gut 100 000 Autos pro Jahr. Die Marke ist längst zur Last geworden. Selbst das Projekt, Alfa-Modelle künftig auch in den USA anzubieten, läuft offenbar nicht rund. Gerade erst habe Marchionne den Verkauf der ersten Alfas dort um ein halbes Jahr auf 2013 verschoben, berichtete das Fachblatt "Automotive News Europe".
In Lancia ist neuerdings Chrysler drin, ein letzter Versuch, zwei halbtote Marken mit minimalem Aufwand wiederzubeleben. Marchionne hat bereits die ersten Chrysler-Modelle ein wenig italienischer gestaltet und den Namen je nach Marktchancen gewählt: in den USA, Lateinamerika und in Osteuropa Chrysler, in West- und Zentraleuropa Lancia. "Unsere Kunden lachen sich tot", sagt ein deutscher Chrysler-Händler. "Die wollen amerikanische Autos." Weitermachen will er trotzdem. Die Italiener wollen sonst die Garantieleistungen für die in den vergangenen Jahren verkauften Chrysler und Jeep nicht übernehmen.
Bei Jeep läuft das Geschäft noch recht ordentlich. Die Branche erwartet aber Probleme für die Zukunft. Vor allem fehlt es an Geld für dringend nötige Investitionen in moderne, sparsame Antriebe.
Immerhin: Die Klein- und Mittelklassewagen von Dodge gelten zwar als eher langweilig, aber gerade mit kleinen Fiat-Motoren als maßgeschneidert für den US-Markt. Und die Pick-ups von Dodge Ram verkaufen sich weiter ordentlich.
Dieses zerrupfte Markengefüge zu ordnen erfordert mehr als ein überragendes Verständnis für Verhandlungen und komplexe Finanztransaktionen. Marchionne bräuchte die Weitsicht eines automobilen Visionärs wie Ferdinand Piëch, der Audi über drei Jahrzehnte beharrlich aufgebaut und von einer langweiligen Massenmarke zum Premiumprodukt gemacht hat.
Marchionne hängt an alles Preisschilder
Aufgefallen aber ist Marchionne bislang vor allem als jemand, der Gelegenheiten blitzschnell und zur Not rücksichtslos ausnutzt; oft bevor andere sie überhaupt erkennen.
Mal bietet sich eine Übernahme an, mal eine Finanztransaktion, mal der Verkauf einer Tochter: Marchionne denkt stets in Optionen, hält sich viele Möglichkeiten offen. So bot der Fiat-Chef vor der Spaltung des Konzerns die komplette Industriesparte für 12 bis 13 Milliarden Euro Daimler an, er verhandelte mit den Stuttgartern über einen gemeinsamen Truckkonzern (siehe Kasten Seite 46), und er diskutierte einen Börsengang Ferraris oder den Verkauf Alfa Romeos.
Marchionne und auch Familienoberhaupt Elkann bezeichnen die Marke zwar immer wieder als unverkäuflich, die Volkswagen-Granden Piëch und Martin Winterkorn (63) aber lassen nicht locker. Man verstehe sich gut und rede immer wieder miteinander, sagt Elkann. Die Wolfsburger böten gut eine Milliarde Euro und die Übernahme einer Fabrik, heißt es in Unternehmenskreisen. Schwach werden könnte Marchionne wohl nur, falls er zusätzlich eine der größeren VW-Plattformen nutzen dürfte, etwa die Architektur der speziell für die USA entwickelten Variante des Mittelklassemodells Passat.
"Marchionne hängt an alles Preisschilder", sagt ein Banker - "und wenn das Angebot stimmt, verkauft er auch."
Dem Fiat-Chef ist wenig heilig, schon gar keine Tradition.
Das musste inzwischen auch der Turiner Bürgermeister Sergio Chiamparino (62) erfahren. Erst drohte Marchionne, das Stammwerk im Turiner Stadtteil Mirafiori zu schließen. Dann legte er nach, er könne sich gut vorstellen, die Konzernzentrale nach einer Fusion in die USA zu verlegen.
Das Büro Chiamparinos in dem alten Stadtpalast ist voller Heiligenmotive - alte barocke wie die Deckengemälde. Und junge neuzeitliche wie die beiden Automodelle, die neben seinem Schreibtisch stehen, ein Fiat Grande Punto und ein Fiat 500.
Allesamt verblassen sie. Noch in den 90er Jahren hätten rund 60.000 Menschen im Umkreis der Stadt für den Autokonzern gearbeitet, sagt Chiamparino. Inzwischen seien es nur noch knapp 20.000.
Der Bürgermeister kennt Marchionne gut. Zweimal im Jahr spielen sie Karten, sie haben die Krise der Jahre 2004 und 2005 durchgestanden, die Stadt hat Fiat damals ein Grundstück abgekauft und dem klammen Konzern auf diese Weise rund 70 Millionen Euro verschafft. So etwas sollte verbinden.
Fiat steht für "Fabbrica Italiana Automobili Torino". "T wie Torino, daran erinnere ich Marchionne immer wieder", sagt Chiamparino.
Ob Marchionnes großes Projekt gelingen werde, die wundersame Heilung zweier Kranker? Der Bürgermeister zuckt die Schultern. Das wisse er nicht. Ob Fiat in Turin bleibe? Nein, auch das wisse er nicht. Denn was nützten alle Bekenntnisse und Langfristpläne: "Im Wirtschaftsleben sind alle Versprechen in den Sand geschrieben."