Börse Auf Speed

Börse in New York: Die Börsengebäude dienen eher als Kulisse für Touristen
Foto: DPASergey Aleynikov ist alles andere als eine Furcht einflößende Erscheinung. Schlaksiger Körper, verstrubbeltes Haar, Harry-Potter-Brille. Jahrelang arbeitete der Exilrusse und Hobby-Turniertänzer als Programmierer, unter anderem bei Goldman Sachs in New York. Zu denen, die millionenschwere Boni kassierten, gehörte er nicht. Aber sein Salär - zuletzt rund 400.000 US-Dollar im Jahr - ermöglichte ihm und seiner Familie ein gutes Leben.
Im Juni dieses Jahres verließ der 39-Jährige die Investmentbank, um für das Dreifache bei einem Wertpapierhändler anzuheuern. Ein Abschied im Guten, wie es zunächst schien - zumindest bis zum 3. Juli dieses Jahres. Am Vorabend des amerikanischen Unabhängigkeitstages um 21.20 Uhr nahm der Jobwechsel eine dramatische Wende: Am New Yorker Flughafen Newark wurde der IT-Spezialist von Special Agents des FBI wie ein Schwerverbrecher verhaftet.
Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Aleynikov habe seinem Ex-Arbeitgeber Goldman bei seinem Weggang wertvolle Computerdaten entwendet - eine Art Quellcode für ein hochkomplexes, ultraschnelles Handelssystem, mit dessen Hilfe die Bank einen Großteil ihrer Wertpapiergeschäfte abwickle. Der Verlust der Daten sei nicht nur überaus schädlich für die Bank. Vielmehr könne der Code dazu benutzt werden, "die Märkte auf unfaire Weise zu manipulieren". Der Strafverfolger wollte Aleynikov hinter Gittern sehen - mit dem Goldman-Code in Händen sei der Programmierer eine "Gefahr für die Öffentlichkeit".
Der sonderbare Vorfall versetzte Anleger und Börsianer rund um den Globus in Aufregung: Sollte tatsächlich ein Computercode in der Lage sein, ganze Märkte zu manipulieren? Könnte ein einzelner Programmierer ein Sicherheitsrisiko für die Stabilität des Finanzsystems sein?
Der Fall Aleynikov wirft ein Schlaglicht auf eine vor der Öffentlichkeit bislang weitgehend verborgen gebliebene Spielart des Wertpapierhandels: das sogenannte High-Frequency-Trading (HFT), eine von Computern gesteuerte, ultraschnelle Form der Börsenspekulation, die winzige Preisdifferenzen ausnutzt, sei es in Rohstoffen, Währungen oder in Aktien: In Millisekunden werden Deals abgewickelt, täglich Milliarden von Papieren bewegt.
Es ist ein Geschäft, das von Hedgefonds und von den Eigenhandelsabteilungen großer Investmentbanken betrieben wird und das immer mehr Handelshäuser anlockt; ein Geschäft, in dem die fundamentalen Perspektiven von Aktien keine Rolle spielen; ein Geschäft, in dem die Beteiligten kaum Risiken eingehen, weil sie ihr Kapital nur für Sekunden investieren und aufgrund der großen Volumina dennoch hohe Gewinne einfahren.
Neue Macht sorgt für Unmut am Finanzmarkt
Ein Geschäft - und das ist das Alarmierende -, das mittlerweile den Aktienhandel in den USA dominiert und weltweit rasant an Bedeutung gewinnt. Traditionelle, fundamental orientierte Investoren wie Publikumsfonds, Versicherungen oder Pensionskassen wurden von den Highspeed-Händlern zur Randgruppe degradiert.
Die neue Macht an den Kapitalmärkten sorgt in der Finanzszene für reichlich Unmut. Kritiker befürchten, dass die Börsen angesichts der Übermacht der hochgerüsteten Kurzfristspekulanten ihre Funktion als Marktplatz für langfristig operierende Investoren verlieren. Eine Befürchtung, die viele Fragen aufwirft, vor allem aber diese: Ist die aktuelle Hausse womöglich eine Blase - gefüttert von überbordender Liquidität aus dem Zentralbankenlager, aufgepumpt von Hochgeschwindigkeitscomputern? Und wenn es eine ist: Wann ist für Privatanleger der Zeitpunkt gekommen, aus dem riskanten Börsenspiel auszusteigen?
Joe Saluzzi, italienischstämmiger Mitbegründer des US-Börsenmaklers Themis, gibt Antworten im Eiltempo, als wolle er die Formel-1-Trader mit seinen blitzschnell formulierten Argumenten überholen. Er sitzt im "Cosi", einer Snackbar in der New Yorker Broad Street, schräg gegenüber der Börse. Vor ihm steigt Kaffeedampf aus dem Pappbecher, in ihm brodelt der Ärger über die High-Frequency-Szene. Tag für Tag erreichen ihn neue Klagen seiner Kunden - darunter milliardenschwere Publikumsfonds - über das aggressive Wirken der neuen Anlegerspezies.
Das Hauptärgernis: irreführende Kauf- und Verkaufsofferten. Sobald ein realer Interessent auftauche, so Saluzzi, seien die Orders der Hochfrequenzhändler oft blitzschnell wieder verschwunden: "Ein HFT kann seine Liquidität jederzeit und schneller als jeder andere wieder aus dem Markt abziehen."
Der Hintergrund: Highspeed-Trader wollen Handelsströme schneller erkennen als andere Marktteilnehmer und dieses Wissen gezielt für ihre Geschäfte nutzen. Indem sie eigene Aufträge platzieren, "schnüffeln" sie oft nur nach großen Transaktionen traditioneller Investoren. So entsteht eine Art Scheinliquidität.
Ein weiteres typisches Beispiel für zweifelhaftes Verhalten: Ein institutioneller Investor will ein Aktienpaket des US-Konzerns First Solar kaufen und platziert ein Gebot über 135 Dollar pro Papier. Kaum hat er die Enter-Taste seines Handelscomputers gedrückt, taucht ein unbekannter Konkurrent auf - und bietet ein paar Cent mehr.
Mehrfach erhöht der Anleger seine Offerte, doch immer wieder schnappt ihm der High-Frequency-Trader die gewünschten Aktien vor der Nase weg. Bei etwa 136 Dollar steigt der Zocker plötzlich aus - und verscherbelt seine Papiere an den verdutzten Anleger. Das Resultat: Der echte Investor zahlt deutlich mehr als nötig, während der Spekulant den Gewinn aus dem Kursanstieg kassiert.
"Predatory Algorithm", auf Deutsch: räuberischer Algorithmus, heißen Computerprogramme, die derartiges Frontrunning praktizieren. Sie spionieren große Orders aus - und reagieren in Millisekunden. "High-Frequency-Trader sind der natürliche Feind des privaten Anlegers und des großen institutionellen Investors", bilanziert Alfred Berkeley, ehemaliger Präsident der US-Technologiebörse Nasdaq.
High-Frequency-Firmen dürften sich 2010 vervierfachen
Ein Feind, der in jeder Hinsicht überlegen ist: "Jeder großen Order eines institutionellen Investors stehen mittlerweile tausend herumschnüffelnde Computer gegenüber", weiß Seth Merrin, Chef des unabhängigen Brokers Liquidnet. Diese Übermacht nervt inzwischen auch Fonds- manager - zuletzt Mark Mobius, Starinvestor und Schwellenländerguru bei der US-Anlagegesellschaft Franklin Templeton. Die Hightech-Händler, so Mobius, agierten "nicht fair gegenüber Investoren".
Das bekam auch Brian Watson, ein amerikanischer Privatanleger, zu spüren. Watson besaß Anteile der Biotech-Firma Dendreon - und erlebte Ende April einen Kurscrash im Zeitraffer, der nach Überzeugung von Marktbeobachtern von High-Frequency-Tradern ausgelöst wurde. Innerhalb von 70 Sekunden stürzte die Aktie von 24 Dollar auf 7,50 Dollar. Watson glaubte sich abgesichert: Er hatte ein sogenanntes Stop-Loss-Limit gesetzt, bei 20 Dollar sollte sein Makler verkaufen. Doch der Absturz ging viel zu schnell: Der Broker schaffte es erst bei 15 Dollar auszusteigen.
Noch vor vier Jahren lag der Anteil der Hochfrequenz-Spieler am US-Aktienhandel bei weniger als einem Drittel. Dieses Jahr haben die Speed-Trader die Kontrolle an den amerikanischen Märkten übernommen: 70 Prozent des gesamten Handelsvolumens, schätzt das Research-Haus Tabb Group, werden von ihnen bewegt. Dahinter stehen zahlenmäßig nur 2 Prozent aller Handelsteilnehmer - eine gefährliche Machtkonzentration. An einem einzigen Tag handeln die Sekunden-Trader im Schnitt rund 13 Milliarden Aktien. Goldman Sachs bewegt Schätzungen zufolge täglich rund 380 Millionen mittels Hochfrequenzhandel. "Die Wall Street hat erkannt, dass man damit Geld machen kann", sagt Liquidnet-Chef Merrin. "Sowohl die Zahl der High-Frequency-Firmen als auch die Summe des von ihnen aufgewendeten Geldes dürften sich 2010 vervierfachen."
Längst ist das Highspeed-Virus auch nach Europa gelangt. Leute wie Aleynikov gibt es überall. Anthony Ledford ist einer von ihnen - wenngleich der intellektuell wirkende Brite mit dem Bürstenhaarschnitt und der schmalen Brille nie einen Computercode entwenden würde.
Seit acht Jahren entwickelt er für den Hedgefondsanbieter Man Group in London Algorithmen. Ledford ist fasziniert von der vollständigen Systematisierung des Börsenhandels, bei dem Menschen zwar noch die Programme schreiben, sich danach aber aus dem Marktgeschehen vollkommen heraushalten. "Dass gehandelt wird, erkennen Sie nur noch an den Ausführungsbestätigungen am Drucker", sagt er, während das Gerät surrend ein Blatt nach dem anderen auswirft.
Viele der Bestätigungen kommen von der London Stock Exchange , der europäischen Vorreiterin in Sachen Sekundenhandel. Aber auch in Deutschland sind Speed-Investoren auf dem Vormarsch. Auf Xetra, dem elektronischen Handelssystem der Deutschen Börse, stammt inzwischen fast die Hälfte aller Orders von Algo-Tradern. Die Deutsche Börse lockt sie - wie alle Börsen - mit niedrigen Gebühren. Schließlich sorgen sie für hohe Orderzahlen: Allein in den Jahren 2005 bis 2007 ist die Zahl der Aufträge um 178 Prozent gestiegen.
"Niemand weiß, wie die Programme im Ernstfall reagieren"
Der Trend ist gefährlich und in Teilen eventuell sogar illegal. Verbietet doch das Wertpapierhandelsgesetz Orders, "die geeignet sind, falsche oder irreführende Signale für das Angebot, die Nachfrage oder den Börsen- oder Marktpreis von Finanzinstrumenten zu geben". Kritikern zufolge geben aber Programme wie etwa der "Predatory Algorithm" ebensolche Signale.
Für Privatanleger sind die Folgen der Highspeed-Invasion in jedem Fall dramatisch. Unfaire Kurse: Viele Großanleger wandern ab in sogenannte Dark Pools, private Handelsplattformen, wo sie ihre Orders vor High-Frequency-Tradern besser verstecken können. Schon heute finden in den USA bei den meisten Aktien mehr als 50 Prozent der Umsätze nicht mehr an den Heimatbörsen statt. Die Folge: Der Einfluss der Hochgeschwindigkeitsdealer an den Börsen steigt weiter. Die Kursschwankungen innerhalb eines Tages nehmen zu. Die Aktienkurse sind damit immer weniger Ausdruck fundierter ökonomischer Einschätzungen von Unternehmen. Wert und Kurs driften auseinander. Private können sich nicht mehr darauf verlassen, einen fairen Preis zu bekommen.
Blasenbildung: High-Frequency-Händler kreieren durch hohe Handelsvolumina die Illusion ungeheurer Aktivität am Markt. Damit fördern sie die Blasenbildung, denn hohe Umsatzvolumina gelten vor allem in steigenden Märkten als trendverstärkend. Immer mehr Investoren springen auf den scheinbar an Fahrt zulegenden Zug auf.
Die aktuelle Hausse ist ein Paradebeispiel für diesen Mechanismus: Die amerikanische Zentralbank Federal Reserve pumpte ab Ende März über sogenannte Permanent Open Market Operations (POMO) mit den großen Banken Liquidität in die ausgetrockneten Aktienmärkte, in der Spitze gut acht Milliarden US-Dollar täglich. Während traditionelle Großinvestoren der Rallye lange mit skeptischer Zurückhaltung begegneten, blieben die High-Frequency-Trader aktiv - und verstärkten mit ihren Mega-Umsätzen den Eindruck eines nachhaltigen Aufschwungs. "Ohne die Aktivitäten der Hochfrequenzspieler wäre die Hausse nie derart weit gelaufen", ist ein erfahrener Börsenexperte überzeugt.
Allein, die Illusion beginnt sich aufzulösen. Peter Gomber blickt aus seinem Büro in der Universität Frankfurt nachdenklich in Richtung der Bankentürme, die sich in der Innenstadt erheben. Als Professor für elektronische Handelssysteme ist Gomber Spezialist für Hochfrequenzhandel. "Viele Algorithmen sind viel banaler, als man denkt", sagt der groß gewachsene Mann.
Für den Markt werde der hohe Anteil der Algotrader erst gefährlich, wenn alle Programme ähnliche Orders erteilten. Dies wird oft als Grund für einen Teil der Panikverkäufe am Schwarzen Montag 1987 genannt. Inzwischen sind die Algorithmen laut Gomber zwar ausgereifter und könnten in Abwärtsmärkten auch stabilisierend wirken. Andere befürchten indes eher eine Trendverstärkung - darunter der angesehene Londoner Finanzmathematiker Paul Wilmott, der Konzerne wie Citibank und IBM berät: Hochfrequenzhandel, so Wilmott, könne den Markt "zunehmend destabilisieren". Die Wahrheit ist: Niemand weiß, wie die Programme im Ernstfall reagieren.
Den Ball muss am Ende jemand anders fangen
Der Ernstfall - das könnte ein externer Schock sein, ein Terroranschlag, eine Naturkatastrophe. Oder aber der Beginn der Exitstrategien durch die Notenbanken, das Ende der Liquiditätsschwemme. Keiner weiß, wann dieser Tag kommt. Nur: Dass er kommt, ist sicher.
Anleger sollten bei den ersten Anzeichen für den Schwenk der Notenbanken ihre ganz persönliche Exitstrategie in Gang setzen - und aus Aktien aussteigen.
Es könnte ein schlimmer Absturz werden. Selten zuvor war der Markt derart aufgepumpt, selten zuvor so stark dominiert von Investoren, die in Wahrheit gar keine sind. Highspeed-Trader halten Aktien allenfalls für Sekunden, spätestens bei Börsenschluss sind sie aus allem raus. Keinen Cent ihres Kapitals stellen sie Unternehmen auch nur über Nacht zur Verfügung. Volkswirtschaftlich betrachtet, ist ihr Nutzen gleich null.
Stürzen die Kurse, bleiben sie zwar am Markt, treten auch hin und wieder als Käufer auf und sorgen damit dafür, dass der Handel funktionsfähig bleibt und nicht ausgesetzt werden muss - eine stabilisierende Funktion, wie Befürworter des Hochfrequenzhandels nach dem letzten Crash argumentierten.
Doch bringt allein die Aufrechterhaltung des Handels Investoren wirklich Vorteile? Der Kursverfall geht weiter. Zur Bodenbildung, so viel ist sicher, tragen die Sekundenjongleure nicht bei. Sie jonglieren nur - den Ball muss am Ende jemand anders fangen.
Kritiker befürchten außerdem, dass die heute schon verbreitete Praxis, Schein-Orders zu publizieren, die Panik im Crash verstärken könnten, wenn dringend benötigte Liquidität plötzlich verschwindet. "Ich wäre nicht überrascht", so Börsenkenner Saluzzi, "wenn der Dow unter 7000 Punkte stürzte."
Die Praktiken der Branche haben mittlerweile die US-Börsenaufsicht Securities and Exchange Commission (SEC) auf den Plan gerufen. Man werde untersuchen, ob Highspeed-Trader gezielt den Markt ausspionierten, um verbotenes Frontrunning zu betreiben, so ein SEC-Offizieller. Geprüft werden soll auch, ob die Branche kurzfristige Kursbewegungen manipuliert, um an der künstlich erhöhten Volatilität zu verdienen. Auch in Europa ist man alarmiert. "Die Sache geht zu weit", verkündete der britische Politiker Paul Myners: "Hochfrequenzhändler agieren ohne fundamentales Interesse."
Derweil dauern die Ermittlungen gegen Sergey Aleynikov an. Er wurde zwar vorläufig auf freien Fuß gesetzt. Seine Karriere aber ist bis auf Weiteres beendet: Der Wertpapierhändler, zu dem Aleynikov von Goldman Sachs gewechselt war, feuerte ihn. Die Suche nach einem neuen Job verlief bislang erfolglos. Der Mann ist raus. Das Spiel geht weiter.
Hochfrequenzhändler: So erzielen sie Börsengewinne Vorsicht, Blase: Warnsignale für Privatanleger