Kommentar Jenseits des Hurra-Kapitalismus
Es war eine tolle Geschichte, ein schöner Traum. Aber es war eben auch eine große und fatale Illusion. Die Weltwirtschaft sei auf dem besten aller Wege - das war in den vergangenen Jahren die Mehrheitsmeinung unter Managern und Unternehmern, unter Bankern und Ökonomen. Ein hohes, gar steigendes inflationsfreies Wachstum von 4 bis 5 Prozent im Jahr sei drin, global gesehen. Nun endlich seien große Teile der Weltbevölkerung in einen dauerhaften, sich selbst verstärkenden Wohlstandszyklus geraten.
Wir haben im manager magazin immer wieder gegen diese Illusion von Hurra-Kapitalismus angeschrieben. In vielen Artikeln und Kommentaren seit der Jahrtausendwende haben wir auf die Risiken hingewiesen: zu hohe Verschuldung, zu stark steigende Häuserpreise, zu niedrige Notenbankzinsen, zu große globale Ungleichgewichte.
Zu lange ist die Welt mit Vollgas in die falsche Richtung gefahren. Deshalb erleben wir derzeit keine normale Rezession, sondern eine Jahrhundertkrise.
Und jetzt?
Jetzt müssen Unternehmen und Privatpersonen, Regierungen und Notenbanken ihre Erwartungen für die weitere Zukunft nach unten korrigieren. Und zwar empfindlich.
Das Kieler Institut für Weltwirtschaft hat den globalen Wachstumspfad (Potenzialwachstum) kalkuliert, zum einen mit Zahlen von 2008, zum anderen mit Zahlen von 2009. Die Ergebnisse sehen Sie in der Grafik: Statt zuletzt bei 4,5 Prozent (blaue Linie), nähert sich der Trend nun der 3-Prozent-Marke (rote Linie). Mit dem Wissen von heute stellt sich heraus, dass die Expansionsmöglichkeiten der Weltwirtschaft in den vergangenen Jahren systematisch überschätzt wurden (seit dem Jahr 2000 wächst der Abstand zwischen blauer und roter Linie).
In der Rückschau entpuppt sich der globale Boom der vergangenen Jahre als Wachstumsillusion. Das ist eigentlich nicht überraschend. Schließlich haben wir bereits im vergangenen Jahr deutliche Überhitzungserscheinungen erlebt, als die Nahrungsmittel-, Energie- und sonstigen Rohstoffpreise dramatisch stiegen. Und sogar jetzt, mitten in der tiefsten Krise, ziehen die Rohstoffpreise schon wieder an.
Das ökonomische Tempolimit
Ein deutliches Zeichen, dass fundamentale Knappheiten - an abbaubaren Rohstoffvorkommen, beackerbarem Land, sauberem Wasser - inzwischen das ökonomische Tempolimit gesenkt haben.
Hinzu kommen weitere bremsende Faktoren: die Finanzkrise, die die Kreditversorgung verknappt; die Finanzsektoren, die schrumpfen; der stärkere Staatseinfluss, der die Dynamik dämpft; die Alterung der Gesellschaften, die in Europa, Japan und Nordamerika bereits spürbar ist. Es gibt wenig Zweifel daran, dass der globale Wachstumspfad für längere Zeit deutlich flacher verlaufen wird als bislang geglaubt.
Wir erleben derzeit das triste Erwachen aus einem Menschheitstraum. Die Bürger in den Schwellenländern, insbesondere in Osteuropa, stellen nun plötzlich fest, dass sie nicht so reich sind, wie sie dachten. Und auch wir im Westen laufen Gefahr, uns in üble Probleme zu verstricken.
Da ist erstens die Inflation. Wenn der Wachstumspfad abknickt, erreicht die Wirtschaft eher ihre Überhitzungsschwelle. Deshalb müssten die Notenbanken bei den ersten Aufschwunganzeichen für Abkühlung sorgen und die Liquidität wieder einsammeln, die sie seit Monaten in die Märkte gepumpt haben. Eigentlich.
Doch es kann leicht sein, dass sie die Lage falsch einschätzen - dass ihre aktuellen Schätzungen noch zu optimistisch sind und das mögliche inflationsfreie Wachstum noch geringer ist. So war es auch in den 70er Jahren: Die Notenbanken, vor allem die amerikanische Fed, gingen damals von zu hohen Wachstumsschätzungen aus und erzeugten eine galoppierende Inflation, die sie später nur durch schmerzhaft hohe Zinsen wieder einfangen konnten.
Und da ist zweitens die Staatsverschuldung. Eine wenig dynamische Volkswirtschaft kann nicht so leicht aus ihren Schulden herauswachsen. Entsprechend schwierig wird es in den kommenden Jahren sein, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren. Im Gegenteil, die fiskalische Lage dürfte sich weiter zuspitzen: Die in der Krise rapide gestiegenen Schulden drücken. Hohe Arbeitslosenzahlen und eine schwache Lohnentwicklung vermindern die Einnahmen und erhöhen die Ausgaben.
Die möglichen Auswege sind allesamt holprig: Steuererhöhungen? Schwächen das Wachstum noch weiter. Ausgabenkürzungen? Sind politisch schwer durchsetzbar. Inflation? Gefährdet das Vertrauen ins Geld und in die Institutionen. Eine Kombination aus den drei Optionen? Keine unrealistische Erwartung.
Zweifellos, das Leben mit der großen Wachstumsillusion war angenehmer.