Spezial E-Business Tradition über Bord

Erwin Staudt, Deutschland-Chef von IBM, rät den deutschen Unternehmen zur Eile. Vor allem der Mittelstand hängt im Internet weit zurück.

mm:

Noch vor einem Jahr schienen die deutschen Unternehmen das Internet-Zeitalter zu verpassen. E-Commerce lief fast nur in den USA. Jetzt rollt die E-Welle auch hier zu Lande an. Welche deutschen Firmen sind ganz vorn mit dabei?

Staudt: Meiner Erfahrung nach beschäftigen sich vor allem die Vorstände der datenintensiven Branchen sehr stark mit dem Netzthema. Bei Versicherern und Banken steht geradezu eine Palastrevolution ins Haus.

mm: Ihr Vorgänger als IBM-Deutschland-Chef, Hermann-Josef Lamberti, wurde in die Führungsspitze der Deutschen Bank abgeworben. War das ein Zeichen von Einsicht oder von Panik?

Staudt: Ich will das nicht kommentieren. Fakt ist, dass die Finanzbranche unter enormem Wettbewerbsdruck steht ­ gerade durch das Web. Nehmen Sie die deutsche Assekuranz. Zur Zeit ermöglichen nur 3 Prozent der Gesellschaften ihren Kunden die Abfrage, Überprüfung oder Aktualisierung ihrer Policen über das Internet. Dieser Anteil wird in den nächsten fünf Jahren dramatisch steigen. Viele Kunden wollen ihre Kfz-Schadensmeldung lieber elektronisch als persönlich abwickeln.

mm: Gibt es schon erfolgreiche E-Projekte im Versicherungsbereich?

Staudt: Aber ja. Die S-Direkt Versicherung hat seit ihrem Start im März 1999 bereits mehr als 30.000 Kfz-Versicherungen über das Netz abgeschlossen. Potenzielle Kunden können online den günstigsten Versicherungstarif für ihr Fahrzeug auswählen und die Zulassung des Wagens beim Straßenverkehrsamt beantragen.

mm: Sind die deutschen Unternehmen webagiler als ihr Ruf?

Staudt: Einige wenige Champions schon. Aber insgesamt gibt es noch enorme Lücken. Vor allem kleine und mittlere Firmen scheuen den Gang ins Internet. Das Forschungsinstitut für Telekommunikation in Dortmund hat herausgefunden, dass bisher nur knapp ein Viertel der deutschen Klein- und Mittelbetriebe mit über zehn Mitarbeitern an das Internet angebunden ist. Das ist sehr bedenklich.

mm: Woher rührt die Web-Abstinenz des Mittelstands?

Staudt: Die meisten kleineren Firmen sind technisch nicht für Geschäfte im Netz gerüstet. Noch glauben zu viele Geschäftsführer, sie könnten ihr Unternehmen ohne technische Hilfsmittel managen. Das ist ein Trugschluss. In drei Jahren rechnen wir in Deutschland mit rund 30 Millionen Internet-Nutzern, die E-Commerce-Umsätze von 60 Milliarden Mark generieren werden. Wer da nicht im Web präsent ist, katapultiert sich selbst aus dem Geschäft.

mm: Wo liegen Chancen für die Kleinen?

Staudt: Der elektronische Handel bietet mittelständischen Unternehmen die einzigartige Möglichkeit, sich direkt an einem internationalen Marktplatz zu beteiligen. Sie können sich in Internet-Shopping-Malls einmieten, mit Gleichgesinnten kooperieren und hohe Investitionskosten vermeiden. Überspitzt ausgedrückt: Ein Computer für 2500 Mark und ein Telefonanschluss reichen aus, um global ins Geschäft zu kommen.

mm: Klingt verlockend. Aber woher soll sich der Geschäftsführer eines kleineren Unternehmens das Web-Wissen holen?

Staudt: Gern würde ich jetzt sagen: bei uns. Aber bei E-Commerce läuft heute vieles über Mund-zu-Mund-Propaganda. Erfolgreiche E-Projekte sprechen sich schnell herum.

mm: Welche Lehren hat IBM aus der E-Herausforderung gezogen?

Staudt: Wir betreiben heute weltweit das größte E-Business. Etwa 25 Prozent unseres Gesamtumsatzes von über 80 Milliarden Dollar sind netzbezogen. Allein 1999 kauften wir Waren und Dienstleistungen im Wert von über zwölf Milliarden Dollar von unseren Lieferanten via Internet ­ vom Kugelschreiber bis hin zu Betriebsstoffen. Das allein hat uns Einsparungen von rund 250 Millionen Dollar eingebracht.

mm: Vor acht Jahren galt IBM als träger Koloss, der die Zukunft zu verschlafen schien. Wie kam es zum Internet-Schub?

Staudt: Mein persönliches E-Erlebnis als altgedienter IBMer kam 1993 mit der Berufung von Lou Gerstner zum neuen CEO. Auf einem Meeting kurz nach seinem Amtsantritt wies er als Branchenfremder auf die enormen Chancen hin, die IBM durch die Vernetzung erwachsen. Vor Gerstner saß ­ darunter ich ­eine völlig verblüffte Mannschaft, die sich erst einmal die Augen rieb. Es dauerte dann über zwei Jahre, bis wir marktfähige Produkte entwickelt hatten und eine führende Position in diesem Wachstumssegment einnehmen konnten.

mm: Was war das Schwierigste bei dem Umstellungsprozess?

Staudt: IBM kämpfte mit den Problemen aller Traditionsfirmen: Wir waren gezwungen, etwas zu tun, was wir noch nie getan hatten. Wir mussten alte Werte und Erfahrungen über Bord werfen. Erfahrungen, so zeigte sich, können hinderlich sein, weil sie den Blick auf das Neue verstellen.

mm: Wäre IBM ohne Web-Einsatz im Markt überlebensfähig?

Staudt: Eindeutig nein. Nehmen Sie das Jahr-2000-Problem. Wir konnten alle unsere Kunden im Netz über die Verträglichkeit unserer zahllosen Systeme informieren. Wenn diese wichtigen Informationen über unseren Vertrieb gelaufen wären, hätten wir die Mehrzahl unserer Kunden mangels Mannschaft nicht erreicht. Es ist viel effektiver, Bits reisen zu lassen statt Menschen.

mm: Ist das Internet ein Synonym für Kostenersparnis?

Staudt: Diese Definition wäre viel zu kurz gegriffen. Weder die Technik noch die Produktivitätsfortschritte treiben den E-Commerce voran, sondern die Schaffung von Mehrwerten.

mm: Was heißt das konkret?

Staudt: Die Internet-Buchhandlung Amazon.com bietet ihrem Kunden den Mehrwert, ohne Rücksicht auf Ladenschluss, ohne Stau und Parkplatzsuche, wann immer er will, ein Buch oder eine CD zu bestellen. Ich persönlich kaufe meine Hemden über das Internet bei einem amerikanischen Hersteller, weil dessen Modelle meine Halsweite und Armlänge richtig dimensionieren. Früher musste ich einen Trip nach New York abwarten, um die passenden Hemden zu bekommen.

mm: Welche Internet-Firmen beeindrucken Sie am meisten?

Staudt: Diejenigen, die mit E-Commerce schnell Geld machen, wie der US-Broker Charles Schwab. Er betreibt heute die größte E-Commerce-Site der Welt, mit Transaktionen im Wert von mehr als zehn Milliarden Dollar pro Woche. Etwa 16 Prozent des weltweiten Aktienhandels werden derzeit schon im Internet abgewickelt. Und fast ein Drittel dieses Handels läuft über Schwab.

mm: Können etablierte Konzerne je so schnell und clever reagieren?

Staudt: Aber sicher. Nicht nur IBM tritt diesen Beweis an, auch klassische Handelskonzerne wie Carrefour aus Frankreich tun das. Carrefour ist Mitglied von SourcingLink.net, einem Internet-Verbund, in dem sich sieben große Einzelhändler aus den USA und Europa zusammengeschlossen haben. Dieser virtuelle Firmenverbund ordert über einen Internet-Katalog bei 5000 verschiedenen Zulieferern. Das ist eine ungeheure Bündelung von Nachfragemacht, sie zwingt die Produzenten zu Topkonditionen.

mm: Führt der Preisdruck via Web nicht zu einem gewaltigen Ausleseprozess in zahlreichen Branchen?

Staudt: In Zukunft gibt es nur noch einen Preis ­ den Internet-Preis. Der Kunde wird durch die neue Netztechnik enorm gestärkt. Der Preisbildungsprozess wird für ihn transparent, und das im globalen Maßstab. Experten gehen davon aus, dass in der Autobranche nur sechs Hersteller überleben werden. Die Anzahl der Zulieferer wird von weltweit 8000 auf 2000 schrumpfen. In naher Zukunft werden wir unser Wunschauto ­ wie heute schon Computer ­ im Web konfigurieren und wenige Tage später geliefert bekommen.

mm: Wie können sich künftig Anbieter im Netz von der Konkurrenz absetzen und differenzieren?

Staudt: Das ist im Internet nicht anders als im wirklichen Leben: bequeme Zufahrt, schöne Präsentation, gute Produkte und ­ bei Bedarf ­ ausgefeilte Lieferlogistik.

mm: Welche Rolle spielt der Markenname im Netzgeschäft?

Staudt: Wir haben derzeit ein interessantes Phänomen. Die Marke wird nicht mehr am Produkt festgemacht, sondern am Zugang zum Netz. Amazon.com hat einen neuen Brandname für Buchhandel geschaffen, das Buch selbst tritt in den Hintergrund.

mm: Was bedeutet das für starke Marken wie IBM?

Staudt: Wir entwickeln für das Internet einen IBM-Shop, in dem Sie nicht nur unsere Produkte und Services abrufen können, sondern auch Reiseinformationen oder Computerspiele. Unser Markenname soll der Zugang für Millionen von Menschen werden, die an Auktionen teilnehmen oder sich weiterbilden wollen.

mm: Durch das Internet steigt die Informationsflut. Wie bewahren Sie als Manager noch den Überblick?

Staudt: Ich erhalte täglich rund 100 E-Mails von Mitarbeitern und Business-Partnern, die ich sofort wieder abarbeite. Da ich viel unterwegs bin, druckt mir meine Sekretärin oft den E-Mail-Stapel aus, und ich antworte entweder mit meinem Laptop oder ganz konventionell auf Papier.

mm: Da sind Sie ja Stunden beschäftigt.

Staudt: Ich fasse mich kurz, schreibe höchstens ein, zwei Sätze, manchmal nur o. k. Es muss ruck, zuck gehen.

mm: Kommt dabei nicht die eigentliche Kommunikation zu kurz?

Staudt: E-Mail verändert den Umgang miteinander. Wir haben seit 1985 ein IBM-internes E-Mail-System, das intensiv genutzt wird. Trotz dieser Technik dürfen wir den Menschen nicht aus den Augen verlieren. E-Mails sind knapp und manchmal rüde im Ton. Bei bestimmten Mitteilungen ist es besser, zum Telefon zu greifen und mit den Mitarbeitern persönlich zu sprechen. Ich bemühe mich beispielsweise auch bei E-Mails immer um Höflichkeit. Wenn ich eine Note schicke, rede ich meinen Partner immer mit Namen an und beende die Mitteilung mit einem freundlichen Gruß. Auch die Kultur des elektronischen Zeitalters muss erst erlernt werden.

Internet-Einstieg für Manager


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