Boehringer Ingelheim Die Erfolgspille
Im vergangenen Mai war es wieder so weit. Die Familien Boehringer und von Baumbach - die Gesellschafter des Pharmakonzerns Boehringer Ingelheim - brachen auf zu einer Reise, und fast alle kamen mit: die rund zwei Dutzend Anteilseigner, ihre Ehepartner und die Kinder.
Zur japanischen Landesgesellschaft führte diesmal der Weg. Der Tross kutschierte mit dem Bus durch Tokio, besuchte die Zentrale und traf sich mit dem Management zum Abendessen. Dann noch ein bisschen Zeit fürs Sightseeing - und schon ging es weiter mit dem Shinkansen zu einer Fabrik in der Präfektur Yamagata und mit dem Flugzeug nach Kobe, wo Boehringer Ingelheim ein Forschungsinstitut betreibt.
Der Ausflug hat Tradition. Jedes Jahr steht eine andere Niederlassung auf dem Programm, aber der Zweck bleibt stets der gleiche: Die Eigentümer wollen ihr Unternehmen und dessen Mitarbeiter kennenlernen - und sie wollen gemeinsam unterwegs sein. "Solche Momente fördern den Zusammenhalt", sagt Clanchef Christian Boehringer (43).
"Solidarität und Einigkeit", diese altertümlich anmutenden Begriffe kommen Boehringer leicht über die Lippen, und sie sind offenkundig mehr als Worthülsen. "Mit gegenseitiger Wertschätzung und Rücksicht", urteilt Volhard Hofmann (55), Partner der Strategieberatung Boston Consulting, sei es der Dynastie gelungen, auch in heiklen Situationen einen Konsens zu finden und eine kleine, 1885 im Weinstädtchen Ingelheim errichtete Chemiefabrik zum zweitgrößten deutschen Pharmakonzern nach Bayer auszubauen.
Heute beschäftigt Boehringer Ingelheim fast 40.000 Mitarbeiter. Die Firma wächst schneller als der globale Markt (2007 stieg der Umsatz um 3,6 Prozent auf elf Milliarden Euro), wirft ordentliche Renditen ab und gilt als eines der innovativsten Pharmaunternehmen der Welt.
Die Erfolgsgeschichte der Ingelheimer beruht auf kontinuierlich verfeinerten Regeln, die das Zusammenwirken der Gesellschafter untereinander und auch das Zusammenspiel der Anteilseigner mit dem Vorstand definieren. Diese formellen und informellen Steuerungsmechanismen gelten vielen Familienbetrieben als nachahmenswertes Vorbild.
In den nächsten Jahren muss sich das Modell allerdings in einer Branche bewähren, deren Umsätze nicht mehr so schnell wachsen und deren Gewinne nicht mehr so heftig sprudeln werden wie bisher.
So wie die gesamte Pharmaindustrie steckt auch Boehringer Ingelheim im Umbruch: Im Gesellschafterausschuss fand in den vergangenen Jahren der Wechsel von der dritten zur vierten Generation statt. Doch nicht nur das. Anfang 2009 tritt auch ein neues Management an. Drei der vier Vorstände scheiden aus, inklusive Sprecher Alessandro Banchi (62). Chef wird dessen bisheriger Stellvertreter Andreas Barner (55).
Zugleich zieht - erstmals seit langer Zeit - mit Hubertus von Baumbach (40) ein Familienmitglied in die Konzernleitung ein. Der künftige Finanzvorstand und Christian Boehringer, beide Urenkel des 1939 verstorbenen Firmengründers, sind dann die einflussreichsten Repräsentanten der Sippe.
Die zwei Männer könnten vom Typ her nicht gegensätzlicher sein. Von Baumbach ist ein zurückhaltender Zahlenmensch, ein Jurist mit Banklehre, der als Analyst und Controller für Boehringer Ingelheim tätig war und heute die Finanzen der Deutschland-Organisation verantwortet. Eingeweihte raunen, von Baumbach sei wohl nur deshalb zum CFO bestellt worden, weil es der Familienproporz erforderte.
Christian Boehringer hingegen wird allerorten hohe soziale Kompetenz bescheinigt. Er selbst bezeichnet sich als "Integrationsfigur im Unternehmen", als einen, "der gut mit Leuten kann". Ein fröhlicher, offener Mensch, der in seiner Freizeit gern joggt oder mit seinen Rollerblades über Straßen und Wege düst.
Betriebswirtschaft hat Boehringer studiert und sich dann in verschiedenen Firmen verdingt, ehe er bei Boehringer Ingelheim einstieg. Die Belegschaft mag ihn - auch wegen seiner Marotten: Egal ob er Gäste empfängt oder ob er mit den Mitarbeitern in der Kantine isst, fast immer trägt er einen strengen dunklen Anzug mit Weste, der überhaupt nicht zu seinem verschmitzten Charme passt.
So unterschiedlich die Charaktere der einzelnen Familienmitglieder auch sind, zwei Wesenszüge einen sie: ihre Zurückhaltung (öffentlich treten sie nur bei Werkseinweihungen oder Pensionärsfesten auf) und ihre Bescheidenheit. "Wir haben Respekt vor dem Geld, weil wir wissen, dass es nicht vom Himmel fällt", sagt Boehringer. Natürlich leben die Multimillionäre im Wohlstand, "aber es gibt weder Schickimicki-Gehabe noch Exzesse" (Boehringer), und innerhalb des Unternehmens auch keine Privilegien für die Gesellschafter.
Die Herrschaft des Herrn Liebrecht
Amüsiert erzählt Boehringer eine Geschichte aus der Zeit, als er noch im Marketing der heimischen Firma beschäftigt war. Auf einem Flug nach Amerika fragte ihn eine Stewardess irritiert, warum er in der Business-Class sitze, ein Mitarbeiter von ihm aber in der First Class reise. Der vermeintliche Mitarbeiter war Konzernchef Banchi - und nur ihm und seinen Vorstandskollegen steht das teurere Ticket zu.
Die Beschäftigten schätzen die klaren Vorgaben, an die sich auch die Familie hält. Nicht von ungefähr lag Boehringer Ingelheim 2007 bei einer Umfrage unter Wissenschaftlern auf Platz eins der besten Arbeitgeber. Besonders positiv bewerteten die Forscher den großen Spielraum, den sie bei der Arbeit genießen.
Das war vor 20 Jahren noch anders. Damals herrschte Hubertus Liebrecht (sein Vater war mit einer Tochter des Firmengründers verheiratet) gebieterisch über die Angestellten. Unter seiner Ägide wagte es kaum einer, Initiative zu zeigen. Auch die Zusammenarbeit zwischen Forschern und Entwicklern funktionierte nicht.
Wie schlimm es um ihr Unternehmen stand, realisierten die Anteilseigner erst, als Liebrecht, der sowohl an der Spitze des Gesellschafterausschusses stand als auch das operative Geschäft leitete, 1991 nach 20-jähriger Regentschaft starb. Keine innovativen Medikamente, zu hohe Kosten, verkrustete Strukturen - die Firma drohte an den Folgen des liebrechtschen Missmanagements fast zu zerbrechen.
Die Gesellschafter beschlossen umgehend, dass die beiden Steuerungs- und Überwachungsgremien künftig nicht mehr in Personalunion geführt werden durften. Und sie ernannten mit Heribert Johann (71) einen familienfremden Manager zum Sprecher des Vorstands, ein Novum in der Firmentradition. Gemeinsam mit Erich von Baumbach (78), dem damaligen Präses des Gesellschafterausschusses, schuf Johann ein tragfähiges Fundament für die Zukunft.
Doch schon bald tauchte das nächste Problem auf: Der Gesellschafterausschuss brauchte einen neuen Vorsteher, denn die Vertreter der dritten Generation hatten entweder die selbst gesetzte Altersgrenze von 70 Jahren überschritten oder wollten sich den Vorsitz des Gremiums nicht zumuten.
Die potenziellen Nachfolger indes waren alle in den Dreißigern und damit nach Meinung der Familie zu unerfahren.
Lösen musste die Frage die Gesellschafterversammlung - eine Art Hauptversammlung, in der alle Anteilseigner ab dem 27. Lebensjahr vertreten sind. Dort herrschen übersichtliche Verhältnisse: 100 Prozent der Stimmrechte liegen bei gut zwei Dutzend Aktionären (dazu gehören auch die Kinder, denen bei der Geburt ein Anteil übertragen wird). Jeder der drei Stämme besitzt ähnlich viel Kapital, gleichwohl wird nach Köpfen abgestimmt. "Wir sind alle gleich stark, das fördert den Zusammenhalt", sagt Boehringer.
Nach langer Debatte fand die Gesellschafterversammlung eine einvernehmliche Lösung: Fünf Mitglieder der vierten Generation rückten sukzessive in den Gesellschafterausschuss auf, dessen Leitung aber wurde 2001 Johann übertragen. Zeitgleich räumte Johann seinen Sitz im Vorstand für Rolf Krebs (68).
Während das Duo Krebs/Johann den Konzern mit ruhiger Hand steuerte, konnten die Youngster ihre neue Rolle einüben. "Unsere Väter haben uns gesagt, wir sollten die Spielregeln ausdiskutieren, nach denen wir das Unternehmen führen wollen", erinnert sich Boehringer. "Es war eine große Chance, die Dinge hinterfragen zu dürfen."
Fragen gab es genug. Sollte der im Gesellschaftervertrag enthaltene Passus beibehalten werden, wonach Anteile weder an Ehepartner vererbt noch verkauft werden dürfen, nicht einmal unter den Eigentümern? Wollte man auch weiterhin nur einen sehr schmalen Teil (weniger als 20 Prozent) vom Gewinn ausschütten? Und sollte die zu entnehmende Summe tatsächlich immer langfristig festgelegt werden, damit nicht Investitionen zugunsten eines kurzfristig höheren Profits unterbleiben?
Zwei Jahre nahm man sich Zeit für Gesprächsrunden, die von einem professionellen Mediator geleitet und von externen Ratgebern begleitet wurden.
Die Boehringers und von Baumbachs (Liebrecht-Nachkommen gibt es nicht, seine Anteile liegen in einer Stiftung) luden Vertreter anderer Familienbetriebe zu Vorträgen ein, oder sie setzten sich mit Mitgliedern des hochkarätigen Konzernbeirats zusammen, zu dem unter anderen Ex-Deutsche-Bank-Chef Rolf Breuer (70) gehört.
Am Ende des Marathons stand fest: Der Gesellschaftervertrag wird nicht angetastet. Und auch die Parameter, über die der Konzern gesteuert wird, bleiben unverändert. Marktanteilsentwicklung, Innovationskraft, Attraktivität für Mitarbeiter und Produktivität - diese Faktoren genießen weiterhin Priorität, und nach ihnen bemessen sich auch die Boni der Vorstände. Das sei, so Boehringer, der Unterschied zu börsennotierten Gesellschaften: "Bei uns kann man nicht mal schnell ein Sparprogramm fahren und dadurch den Kurs kurzfristig nach oben drehen, um dann Aktienoptionen auszuüben."
Schließlich galt es noch, die Ämterverteilung zu regeln, ein kontroverser Punkt. Doch auch hier fand sich ein Konsens. Boehringer übernahm 2007 die Leitung des Gesellschafterausschusses. Im Gegenzug wurde von Baumbach ein Platz im Vorstand zugesprochen.
Wenn von Baumbach Anfang nächsten Jahres sein Amt antritt, wartet auf ihn und seine Kollegen jede Menge Arbeit. Das Unternehmen ist in guter Verfassung, gewiss. 2007 verfügte es über drei Blockbuster, die zusammen Erlöse von 3,9 Milliarden Euro in die Kasse spülten: das Atemwegspräparat Spiriva, Micardis gegen Bluthochdruck und das Prostatamittel Flomax.
Ein Erfolg der Forschungs- und Entwicklungsmannschaft, aber auch des Vertriebs. Der quirlige Italiener Banchi, der seit 2004 die Firma führt, hat seinen Außendienstlern Beine gemacht, ein globales Marketing geschaffen und die Internationalisierung vorangetrieben.
Ihm ist es zu verdanken, dass der amerikanische Markt, wo die höchsten Margen locken, heute die Hälfte zum Gesamtumsatz beiträgt. Gleichwohl prophezeit Boehringer: "Was in der Vergangenheit geleistet wurde, reicht nicht aus für die nächsten zehn Jahre." Der Pharmamarkt stehe vor Umbrüchen, es werde immer komplizierter, neue Wirkstoffe zu finden und die höher werdenden Zulassungshürden zu überwinden.
Um die künftigen Herausforderungen zu meistern, befand der Gesellschafterausschuss, brauche es einen erfahrenen Forschungsmanager - einen wie Barner. Der designierte Konzernchef, ein promovierter Arzt und Mathematiker, soll den Nachschub an Medikamenten sicherstellen und neue Strategien entwerfen.
So steht die Entscheidung an, ob die Generikasparte weitergeführt wird. Sie bildet einen Fremdkörper im Unternehmen, das 73 Prozent seiner Erlöse mit patentgeschützten Medikamenten erzielt. Das Geschäft mit Nachahmerpräparaten, das Boehringer Ingelheim nur in den USA betreibt, brach 2007 ein, weil nicht genügend neue Produkte zur Verfügung standen.
"Wir überprüfen im Augenblick alle Aktivitäten", sagt Banchi. Mithin ist es nicht auszuschließen, dass sich Boehringer Ingelheim von Randbereichen trennt und auch Teile des Geschäfts mit nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten abstößt.
Nicht um den Abbau, sondern um den Aufbau geht es in der Onkologie. Experten rechnen bei Krebsmedikamenten in den nächsten Jahren mit den höchsten Zuwachsraten, aber ausgerechnet auf diesem Therapiefeld (eines von sieben, auf denen Boehringer Ingelheim forscht) liegt die Firma weit zurück.
Der Grund für die Malaise: Über fast zwei Dekaden fuhren die Ingelheimer einen Zickzackkurs. Die Krebsforschung wurde aufgenommen, dann eingestellt und schließlich wieder von Neuem begonnen. Mittlerweile sind vier Präparate in der Entwicklung, ob sie eines Tages den Weg zu den Ärzten finden, ist offen.
Auch in einem zweiten, zukunftsträchtigen Bereich - in der Biotechnologie - kann der Konzern nicht punkten. Boehringer Ingelheim stellt zwar in zwei großen Anlagen Biopharmazeutika her, im Wesentlichen handelt es sich dabei aber um Auftragsproduktion. Selbst entwickelt wurde nur ein Biopräparat - das Thrombosemittel Actilyse.
Es ist eine gefährliche Lücke, die da klafft, denn viele neu zugelassene Medikamente stammen aus Biotech-Laboren. Banchi hat den Nachholbedarf erkannt und im vergangenen Juni mit den Besitzern der US-Biotech-Bude Actimis einen Vertrag geschlossen. Demnach übernimmt Boehringer Ingelheim mit jedem Meilenstein, den Actimis bei der Entwicklung eines Asthmamittels erreicht, ein Stück der Firma. Kommt das Präparat tatsächlich auf den Markt, geht Actimis ganz in die Hände der Deutschen über, für 515 Millionen Dollar.
Der Actimis-Deal ist (sofern er zu Ende gebracht wird) die größte Akquisition, die sich Boehringer Ingelheim je zutraute. Anders als der Darmstädter Konkurrent Merck, der hauptsächlich durch Übernahmen wächst, haben sich die vorsichtigen Kaufleute vom Rhein nur kleinere Firmen einverleibt; wobei es meist - wie auch bei Actimis - um den Zugriff auf Substanzen und Technologien ging.
Der Zukauf von Umsatz war nie das Ziel von Boehringer Ingelheim, und dabei soll es auch bleiben. "Wenn man sich die Merger in unserer Branche ansieht, stellt man fest, dass die Unternehmen hinterher keinesfalls gesünder waren", sagt Boehringer. "Warum sollten wir uns das antun?"
Verschiedene Wege: Boehringer Ingelheim vs. Merck