Pharma Klein, aber allein
Am 23. Februar 2004 stand der Unternehmer Jochen Hückmann vor einer ungewöhnlichen Herausforderung. Das erste Mal in seinem Leben musste er sich schminken lassen. Sodann trat er hinaus in das gleißende Scheinwerferlicht eines gigantischen Kongresssaals in Disneyland, Florida. 3000 Pharmaverkäufer begrüßten ihn im Stehen und mit lautem Johlen. "Kein Erlebnis, das ich häufiger haben werde", vermutet Hückmann.
Dazu muss man wissen, dass Hückmann ein Herr von 63 Jahren ist, der seine grauen Haare akkurat gescheitelt trägt und nach Feierabend bisweilen die Sonderangebote studiert, die es bei Aldi im Erdgeschoss seiner Firmenzentrale zu kaufen gibt. Auftritte in Disneyland gehören nicht zu Hückmanns normalem Repertoire.
Als Enkel des Firmengründers Friedrich Merz führt Hückmann die Frankfurter Merz GmbH & Co. KGaA. Ein Familienunternehmen, das im laufenden Geschäftsjahr gut 460 Millionen Euro Umsatz machen will. Und zwar mit einem Portfolio bunt wie eine Blumenwiese. Merz verkauft Kugelschreiber ("Senator"), Kosmetika ("Merz Spezial Dragees") sowie Badezusätze ("Tetesept") - und bedruckt auch noch Reklamebecher.
Zu seiner Florida-Nummer verhalf Hückmann allerdings sein Kerngeschäft, die Pharmazie. In Disneyland feierten ihn die Mitarbeiter seines US-Vertriebspartners für ein Alzheimer-Medikament, das Merz entwickelt hat. Man sagt, die Substanz namens Memantine habe das Zeug zum Blockbuster. Zu einem Präparat, das mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz jährlich einbringt.
Wie kann es sein, dass ein hessisches Familienunternehmen einen Blockbuster entwickelt? Dass ein Mittelständler mitmischt in der forschenden Pharmaindustrie? In einer Branche also, in der Größe gemeinhin als wichtigste Erfolgsvoraussetzung gilt - und in der es nicht fehlt an immer neuen Belegen für diese These: Anfang des Jahres stellte Altana seine Pharmasparte zum Verkauf - mangels Masse. Kurz darauf wollte Merck (Darmstadt) mit der Übernahme von Schering an kritischer Größe gewinnen, wurde aber von Bayer überboten.
Für das Streben nach mehr gibt es gute Gründe. Weil die allermeisten Projekte scheitern, kostet es, statistisch gesehen, 800 Millionen Dollar, ein neues Medikament zur Marktreife zu bringen. Je mehr Umsatz ein Konzern erwirtschaftet, je größer eine Forschungsabteilung, desto besser lassen sich solche Risiken verkraften.
Vertriebsheere und Zauberformeln
Ebenso offensichtlich erscheinen die Größenvorteile im Vertrieb: Wer ein Medikament weltweit bei Allgemeinmedizinern anpreisen will, braucht heute rund 10.000 Pharmavertreter. Solche stehenden Vertriebsheere lassen sich nur mit einem kontinuierlichen Ausstoß neuer Medikamente unterhalten. Den wiederum kann nur ein gewaltiger Forschungsapparat sicherstellen.
So weit die Theorie. In der Praxis sitzt der grau gescheitelte Herr Hückmann in seinem Frankfurter Büro, die Fotos von Vater und Großvater stets im Blick, und sagt mit ruhiger Stimme: "Der Zwang zur Größe wird überschätzt."
Die Wirklichkeit scheint ihm Recht zu geben. Auch die angeblich von Merck umworbene Monheimer Schwarz Pharma AG will eigenständig bleiben. Ebenso Boehringer Ingelheim, mit 9,5 Milliarden Euro Umsatz bis zum Bayer-Schering-Deal der größte deutsche Pharmakonzern - und doch international nur unter "ferner liefen".
Haben die drei deutschen Pharmazwerge womöglich so etwas wie eine Zauberformel entdeckt, die es ihnen erlaubt, im Spiel der Riesen mitzumischen? Wenn ja, wie lautet diese Formel? Und wie lange wird ihre Wirkung anhalten?
Tatsächlich hat der Erfolg der Kleinen mit Zauberei gar nichts, mit Glück ein wenig und mit ganz konkreten Managemententscheidungen sehr viel zu tun. Wer als Kleiner mitmischen will, muss seine Forschung und seinen Vertrieb anders organisieren als die anderen. Und er braucht eine stabile Eigentümerstruktur.
So wichtig eine durchlässige, auf Tempo angelegte Unternehmenskultur ist (alle drei Zwerge haben sie), an den grundlegenden Regeln des Pharmaroulettes ändert mehr Effizienz wenig. "Niemand kann auf Dauer die Statistik schlagen", sagt Axel Heinemann, Pharmaexperte bei Boston Consulting. Außer er spielt ein anderes Spiel.
Anders forschen: Boehringer Ingelheim hat einen solchen Paradigmenwechsel geschafft: Während die meisten Pharmakonzerne ihre Forscher getrennt nach Therapiegebieten arbeiten lassen, hat Boehringer Ingelheim in den 90er Jahren unter dem damaligen Pharmachef Rolf Krebs so genannte Kompetenzzentren geschaffen.
In ihnen arbeiten Wissenschaftler an bestimmten Technologien - unabhängig davon, gegen welche Krankheit die Forschungsergebnisse helfen sollen. So befasst sich etwa eine Forschergruppe am Firmensitz Ingelheim mit der Frage, wie sich Wirkstoffe möglichst nachhaltig inhalieren lassen. Daraus entstanden dann neue, effektivere Möglichkeiten zur Behandlung von Lungenkrankheiten.
Wie eine Investmentbank
Boehringer umgeht so ein Problem, an dem kleine Pharmaunternehmen häufig kranken: Wegen ihrer beschränkten Kapazitäten in Forschung und Vertrieb haben sie sich meist auf bestimmte Indikationen spezialisiert, etwa Krebs- oder Atemwegserkrankungen. Deshalb werden die Möglichkeiten vieler Wirkstoffe für ganz andere Anwendungsgebiete nicht ausgereizt.
Wer selbst nicht genug Medikamente durch Forschung entwickelt, versucht viel versprechende Entwicklungen einzukaufen. Davon lebt auch ein Angreifer aus dem Rheinland: Schwarz Pharma.
Schneller kaufen: Das Monheimer Unternehmen verzichtet komplett auf eine eigene Grundlagenforschung. Stattdessen sieht das Unternehmen seine Kernkompetenz darin, viel versprechende Substanzen und Technologien von anderen Firmen einzukaufen und bis zur Marktreife weiterzuentwickeln, vor allem in der Neurologie und - inzwischen mit gebremster Kraft - in der Urologie.
Spezialisierung ist hier entscheidend, denn nur so können die Einkäufer den Markt in der ganzen Tiefe ausloten und die eigenen Wissenschaftler später auch etwas zur Weiterentwicklung des eingekauften Produkts beitragen.
Als Schwarz Pharma Ende der 90er Jahre zum Beispiel der Prototyp eines Pflasters angeboten wurde, dessen Wirkstoff durch die Haut in den Körper eindringt und gegen Parkinson hilft - da glich der Pillenfabrikant auf einmal einer Investmentbank, die alles daransetzt, ein lukratives Übernahmemandat durchzuziehen.
Wochenlang, fast Tag und Nacht, arbeitete ein Team von Kaufleuten und Pharmazeuten daran, die Pflastertechnologie der Konkurrenz wegzuschnappen. Und es ist ganz normal in solchen Situationen, dass Vorstandschef und Mitinhaber Patrick Schwarz-Schütte (49) persönlich ins Büro kommt und die Mannschaft anfeuert: "Wir brauchen diesen Deal." In einem Großkonzern undenkbar.
Die Verhandlungen führten zum Erfolg. In den kommenden Jahren soll das Pflaster unter dem Produktnamen Neupro zum wichtigsten Umsatzträger des Unternehmens heranwachsen.
Zu einem ähnlichen Ergebnis - einem Blockbuster - ist auch Merz gekommen - allerdings mit ganz anderen Mitteln.
Lizenzen und Kooperationen
Nischen ausfüllen: Merz, selbst unter den Pharmazwergen mit Abstand der kleinste, bekennt sich zu einer Nischenstrategie: Die Frankfurter mit ihren 250 Forschern sehen sich als Spezialisten für Neurologie und Psychiatrie. Eine gute Wahl: Hier wächst der Markt, weil solche Krankheiten verstärkt im Alter auftreten und viele von ihnen heute noch gar nicht behandelbar sind.
Die Merz-Leute scheuen sich nicht, jene kleinen Nuggets aufzulesen, denen die Pharmariesen keine Beachtung schenken: Der Wirkstoff Memantine, der Merz-Blockbuster in spe, geht zurück auf ein patentfreies Molekül, das auch jedem anderen Pharmakonzern zur Verfügung gestanden hätte. Doch nur Merz machte sich die Mühe, die Substanz auf weitere Anwendungsmöglichkeiten zu prüfen und zu patentieren.
Nischenstrategie bei Merz, Jagd nach lukrativen Lizenzen bei Schwarz, ungewöhnliche Organisationsstruktur bei Boehringer: Im Forschungsbereich fallen die Überlebenstrategien der drei Pharmazwerge unterschiedlich aus. Im Vertrieb hingegen folgen alle drei einem ähnlichen Rezept: Wo immer die Kräfte der eigenen Vertretertruppe nicht ausreichen, werden Lizenzen vergeben.
So vertreibt der US-Pharmakonzern Forrest das Merzsche Alzheimer-Präparat in den USA - und organisierte die Verkäuferstampede in Florida. Weltmarktführer Pfizer soll für Schwarz das Inkontinenzmittel Fesoterodin an den Mann bringen. Und Boehringer kooperiert beim Vertrieb des Antidepressivums Cymbalta mit dem Wettbewerber Eli Lilly.
Die Kehrseite dieser Outsourcingstrategie: Den Unternehmen geht ein großer Teil ihres Erlöspotenzials verloren. So sorgte der Merz-Verkaufsschlager Memantine im Geschäftsjahr 2004/05 für 480 Millionen Euro Umsatz. Doch Forrest und Lundbeck, ein weiterer Lizenzpartner, sackten das Gros des Geldes ein. Für Merz blieben nur 50 Millionen Euro übrig. Nicht zuletzt aus diesem Grund will Hückmann jetzt zumindest in Europa einen flächendeckenden eigenen Vertrieb aufbauen.
Weil es nur relativ wenige Neurologen gibt, lässt sich der Markt schon mit einigen Dutzend Pharmavertretern pro Land leidlich bearbeiten.
Die Stunde der Kugelschreiber
Um den Branchenzwergen das Überleben zu sichern, reichen allerdings neue Wege in Forschung und Vertrieb allein nicht aus. Man braucht auch Stabilität. Alle drei Unternehmen haben Familien als Mehrheitseigentümer. Bei Boehringer und Merz halten sie sämtliche Anteile, bei der börsennotierten Schwarz Pharma die Aktienmehrheit.
"Hätte Schwarz Pharma keinen klaren Mehrheitseigentümer, sie wäre längst ein Übernahmekandidat", sagt Peter Düllmann, Pharmaanalyst beim Bankhaus Sal. Oppenheim. Immer wieder kommt es nämlich vor, dass die Unternehmen auf Gewinne verzichten müssen, um in ihre Produktpipeline zu investieren.
So machte Schwarz im vergangenen Jahr 54 Millionen Euro Verlust, weil es eine teure Lizenz für das Parkinson-Medikament Rotigotin erwarb. Ein Wettbewerber mit prall gefüllter Produktpipeline, der wegen schwacher Gewinne billig zu haben ist - genau so sieht gemeinhin die Lieblingsbeute großer Pharmakonzerne aus.
Wenn bereits die planmäßige Einführung eines neuen Produkts ausreicht, um einen Pharmazwerg in die roten Zahlen zu treiben - wie mögen die Gewinn-und-Verlustrechnungen erst in Unordnung geraten, wenn einem potenziellen Blockbuster in letzter Minute die Zulassung verweigert wird oder gar eine Pille vom Markt genommen werden muss? Ein Gau, der nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit früher oder später jede Pharmafirma ereilt.
Wenn der Katastrophenfall eintritt, dann trifft er kleine Unternehmen naturgemäß am härtesten. Was Boehringer noch überlebt, könnte für Merz bereits tödlich sein. Mit diesem erhöhten Risiko müssen die Pharmazwerge leben.
Für Merz lässt sich das kritische Datum bereits benennen: 2014 läuft der Patentschutz für Memantine aus. Bis dahin muss Ersatz her. Wenn das der Forschungsabteilung nicht gelingt, dann bekäme das bunt gescheckte Produktportfolio von Merz auf einmal einen Sinn.
Zwar schreibt die Kugelschreibersparte Verluste, und der Umsatz mit Merz Spezial Dragees ist rückläufig. Doch 2014 könnten diese Sparten Merz das Überleben sichern. "Wir müssen unser Risiko streuen", sagt Hückmann nachdenklich und nimmt einen Schluck aus seinem Reklamebecher - der natürlich im eigenen Haus mit dem Merz-Firmenlogo bedruckt wurde.