Manager des Jahres 1998 Die Stunde des Perfektionisten
Für das "Issue Resolution Team Dieselmotoren" war der 30. September irgendwie kein guter Tag. Die kleine Gruppe aus Daimler-Benz- und Chrysler-Fachleuten soll im Auftrag des Vorstands Anwendungsmöglichkeiten für Mercedes-Selbstzünder in Chrysler-Fahrzeugen ausloten. Nun hatte sich das Team verrannt, kam offenbar nicht weiter.
Die Truppe signalisierte Trouble und schaltete ihre Datenbankampel auf Rot. Im selben Moment leuchtete die Alarmfarbe auch im schwarzen "IBM Think Pad" des Vorstandsvorsitzenden auf: Egal, wo er gerade ist in der Welt, überall kann Jürgen Schrempp (54) den Verlauf der Verhandlungen in Echtzeit auf seinem tragbaren PC mitverfolgen und sich einschalten.
Jack Welch (63), der quirlige Chairman von General Electric, hat Schrempp auf die Möglichkeiten des Speed-Managements aufmerksam gemacht. Lou Gerstner (56), der IBM-Chef, hat ihm gezeigt, wie es geht. Aber perfektioniert hat diese Variante der Konzernführung der vermeintliche Bauchmensch und Bonvivant aus Stuttgart selbst: Schrempp, in Wahrheit ein detailbesessener Fleißarbeiter, ließ sich ein Management-Informationssystem maßschneidern, das in der Industriewelt seinesgleichen sucht.
Der wissenshungrige Mann an der Spitze des künftigen DaimlerChrysler-Konzerns kennt auf den Tag genau den Stand der Gespräche in den 29 Teams, die sich mit den wichtigsten und eiligsten Themen des Megamergers befassen.
Auf Knopfdruck weiß Schrempp, was welcher der mehr als 20 Topmanager von Daimler und Chrysler in Interviews von sich gibt; er hat den Börsenkurs genauso im Blick wie die aktuellen Zahlen aller Konzernaktivitäten, die veröffentlichten Daten der jeweiligen Konkurrenten, der relevanten Märkte und die dienstlichen wie privaten Telephonnummern der verantwortlichen Geschäftsfeldmanager.
Die Daten fließen über ein Lagezentrum (intern: "War Room") in Stuttgart-Möhringen. Dieses sammelt Tag und Nacht Informationen aus allen Winkeln des Weltkonzerns, bereitet sie auf und sorgt dafür, dass innerhalb und außerhalb des Unternehmens niemand besser informiert ist als der Vorstandsvorsitzende.
Das hat, natürlich, etwas von Orwells "Big Brother"; das ist vermutlich aber auch die einzige effektive Möglichkeit, den Doppelkonzern DaimlerChrysler an der Spitze zusammenzuhalten.
Akribisch und unkonventionell
Das Gefühl, laufend über alles informiert zu sein, gibt Schrempp ein Stück weit Sicherheit. Noch ist nur die Vorbereitung, der spektakuläre Deal an sich, eine Erfolgsgeschichte; ob DaimlerChrysler zu den 70 Prozent der Fusionen gehören wird, die scheitern, oder zu den 30 Prozent, die erfolgreich sind, ist hingegen offen.
Geschwindigkeit, Prozessdesign und Informationsmanagement sind die Stellgrößen, mit denen Schrempp den Zusammenschluss gestaltet. Nur wenige Monate bevor er im Januar 1998 Chrysler-Chairman Robert ("Bob") J. Eaton (58) mit der Idee einer Fusion konfrontierte, war das Intranet-Infosystem betriebsbereit; in den Winterferien 1996/97 hatte sich Schrempp auf seiner Ranch in Südafrika zum erstenmal mit einem Laptop und dem PC-Programm Lotus Notes vertraut gemacht. Zufall?
Schrempp hat die Argumente auf seiner Seite, wenn er sagt, dass die Fusion "kein Schuss aus der Hüfte ist, sondern Teil eines Gesamtkonzepts" (siehe Interview: "Ohne Mut läuft nichts").
Ohne die Steigerung des Daimler-Unternehmenswerts um das Dreifache, ohne die dramatische Verbesserung der Ertragskraft, ohne die Verschmelzung von Mercedes-Benz auf Daimler-Benz, ohne eine stark operativ arbeitende, geschäftsführende Konzernholding, ohne die Verschlankung von Produktion, Verwaltung und Prozessen - und ohne Jürgen E. Schrempp an der Spitze - wäre dieser transatlantische Zusammenschluss nie zustande gekommen.
Vor allem für seine richtungweisenden Entscheidungen wurde er trotz aller Mergerrisiken von der hochkarätigen Jury des manager magazin zum "Manager des Jahres" gewählt (siehe "Kandidatenkür).
Die Juroren würdigten damit auch einen persönlichen Turnaround, der nicht alltäglich ist in der Managerwelt: Aus dem "Rambo" und Großsprecher ("Daimler-Benz braucht mich mehr, als ich Daimler-Benz brauche") ist ein "Diener seines Konzerns" (SPIEGEL) geworden, ein Perfektionist, der seinen unkonventionellen Stil, seinen Mut zur Provokation, seine unbändige Lust auch am eigenen Risiko nun dosiert und gezielt einsetzt.
Schrempp ist immer noch unverkennbar Schrempp. Doch er beherrscht den Auftritt des Großindustriellen inzwischen virtuos. Seine unkonventionelle Art nutzt er, um in allen Situationen seine Umgebung für sich zu gewinnen - sein größtes Talent, das er mit ungeheurem Arbeitseinsatz zu paaren gelernt hat.
Vom "Rambo" zum "Diener
Nie war Schrempps Drang zur Perfektion augenfälliger als in diesen Wochen, in denen die Integration der beiden Konzerne vorbereitet wird. Am Tag nach dem "Closing", dem Vollzug der Fusion, starten 69 Arbeitsgruppen in den gemeinsamen Alltag. Sie ergänzen die 29 "Issue Resolution Teams", die seit Juli die dringlichsten Dinge vorbereiten.
Quer zu den Themengruppen arbeiten die Kontrolleure des Koordinationsteams: Sie stellen die Standardisierung der Prozesse sicher, sie beschleunigen die Entscheidungsgeschwindigkeit, und sie fordern Synergievorschläge ein (siehe Organigramm).
Längst sind für den Tag X alle Themen definiert, die Projektleiter berufen, die Berichtslinien festgelegt. Mit seinem Sinn für Fallen und Fußangeln hat Schrempp zudem dafür gesorgt, dass es keinen Vorstand oder Executive Vice President gibt, der nicht in operative Integrationsaufgaben eingebunden ist. Opponierende "Klugscheißer auf der Zuschauerbank", so ein Daimler-Direktor, wird es im fusionierten Konzernvorstand nicht geben.
Was inzwischen wie ein Serienfilm abläuft, stand mehr als einmal auf der Kippe. Schrempps Erfahrungen als Vorstand unter seinem Vorgänger Edzard Reuter (70) und seine eigenen Fehlentscheidungen als Chef der Daimler Aerospace (Dasa) prägten die Verhandlungsführung der Schwaben: Bei einer Handvoll Schlüsselthemen, darunter die Führungsfrage, der Firmenname und die Markenführung, gab es keine Kompromisse.
Von AEG und Dornier, von den Daimler-Engagements Fokker oder Cap Gemini hatte Schrempp gelernt, dass sich schlechte Verhandlungsergebnisse in Kernfragen später nie wieder korrigieren lassen.
Vor allem der Reinfall mit dem niederländischen Pleiteunternehmen Fokker, der den damaligen Daimler-Aerospace-Chef fast die Karriere gekostet hätte, stand bei Schrempps Gesprächen Pate: Nie wieder wollte er während der Verhandlungen Zugeständnisse machen, die er hinterher bereuen würde.
So stand der Megamerger vier Tage vor der geplanten Bekanntgabe noch einmal vor dem Aus: Schrempp hatte erfahren, dass Eaton seinem Board of Directors den Namen Chrysler Daimler-Benz zusichern wollte. Schrempp rief Eaton an, es war ein "Lass uns trotzdem Freunde bleiben"-Gespräch, der Deal war begraben.
Streit bis zum Schluss - der neue Name
Das Ende ist bekannt, der Konzern heißt DaimlerChrysler, doch der Schriftzug entstand erst zwölf Stunden vor der gemeinsamen Pressekonferenz am 7. Mai in London.
Schrempp blieb hart, weil er in Detroit noch einen weiteren Interessenten für einen Zusammenschluss hatte: den Chairman der Ford Motor Company, Alex Trotman (65). Der zweitgrößte Autokonzern der Welt war für die Stuttgarter zweite Wahl, weil der starke Einfluss der Ford-Familie auf Daimler-Ford nicht wegzuverhandeln gewesen wäre; aber als Rückfallposition galt die Ford-Option in Stuttgart allemal, wie Honda in Japan.
Dass dann doch die Wunschpartner zusammenfanden, hat viel mit einem Talent zu tun, das Schrempp erstmals als junger Trompeter in einer Jazz-Combo entdeckte: Der Daimler-Chef kann begeistern, kann andere mit unbändiger Energie mitreißen. Und er versteht es, diese Qualitäten einzusetzen: bei Mitarbeitern, die sich, so einer seiner engen Vertrauten, "für ihn aufgeben"; bei Gewerkschaftern und Aktionären; bei Politikern wie Gerhard Schröder, der seine Partei prompt auf Pro-DaimlerChrysler-Kurs gebracht hat; oder eben bei Bob Eaton.
Andererseits: Wer sich nicht anstecken lässt, der findet keinen Zugang zu Schrempp. Es ist daher kein Wunder, dass den Daimler-Chef heute nichts mehr mit seinem einstigen Förderer Edzard Reuter verbindet.
Der eigentliche Grund für "das tiefe Zerwürfnis" (Daimler-Finanzvorstand Manfred Gentz) zwischen Schrempp und seinem Vorgänger liegt in den unterschiedlichen Wesenszügen. Sachliche Divergenzen sind nur vorgeschoben. Der eitle, aber hölzerne Reuter ist an der Menschenführung gescheitert; dass Schrempp den Konzern aus seiner Angststarre aufrütteln konnte, verzeiht ihm der Vorgänger nie.
Die Positionskämpfe werden heftiger
Geschichten aus der Geschichte - der Konzern und sein Kopf befassen sich mit der nahen und ferneren Zukunft, gespannt, größtenteils auch optimistisch. Aber nicht immer ohne Sorgen.
Die "digitalen Entscheidungen" (Schrempp), die jetzt getroffen werden, produzieren Gewinner und Verlierer, Auf- und Absteiger im neuen DaimlerChrysler-Konzern. Wer gestaltet die Zukunft im Kerngeschäft Pkw, Jürgen Hubbert (59) oder Thomas Stallkamp (52)? Wer übernimmt letztendlich die Gesamtverantwortung für den globalen Vertrieb, Dieter Zetsche (45) oder James Holden (47)? Wer macht die Personalführung, die Chrysler-Powerfrau Kathy Oswald oder Daimler-Vorstand Heiner Tropitzsch (56)?
"Es gibt auch ein Leben außerhalb von DaimlerChrysler", erklärt Vorstandschef Schrempp derzeit auffallend oft in internen Zirkeln. Und schürt mit dieser trivialen Bemerkung Karriere- und Zukunftsängste.
Schon werden die Positionskämpfe heftiger. Chefdesigner Bruno Sacco (63), der im Gegensatz zu seinem Chrysler-Kollegen Thomas Gale (55) nicht im Konzernvorstand sitzt, wettert prophylaktisch: "Natürlich ist das Chrysler-Design interessant, aber es ist eben absolut traditionslos."
Das Ziel - Integration in nur 24 Monaten
Und Chrysler-President Stallkamp, der von Eaton sicherheitshalber bereits als Schrempp-Nachfolger ins Spiel gebracht wird ("Hervorragend geeignet, eines Tages Jürgen zu ersetzen"), steckt ebenfalls weiträumig die Claims ab: "Wir wollen das Unternehmen als amerikanische Firma führen. Die werden einiges ändern müssen."
Nicht erst in drei Jahren, wie Eaton und Schrempp immer wieder sagen, sondern spätestens in 24 Monaten soll die Integration der beiden Organisationen stehen (siehe mm 8/1998). Bis dahin soll die Linienorganisation so arbeiten, wie es heute bereits die Projektteams tun. Sonst, so befürchten die Treiber der Integration um den Konzernstrategen Eckhard Cordes (47) und Chefplaner Rüdiger Grube (45), entsteht eine künstliche Parallelorganisation, die überall auf Widerstand und Ablehnung stößt.
Schrempps engster Beraterkreis, zu dem neben Cordes und Grube noch der Investmentbanker Alexander C. Dibelius (38) von Goldman Sachs gehört, hat das 24-Monats-Szenario in einem 10-Punkte-Programm durchgeplant. So sollen beispielsweise laufend kleine Projekte mit sehr hoher Erfolgswahrscheinlichkeit in den Integrationsprozess eingebaut werden, um mit schnellen Durchbrüchen die Mannschaften in Möhringen und Auburn Hills zu motivieren.
Auch Chrysler-Chairman Eaton scheint sich dem Daimler-Drive zu beugen, er kündigte im SPIEGEL bereits die Möglichkeit eines frühzeitigen Rücktritts an, um Jürgen Schrempp die Spitze allein zu überlassen.
Alle wissen: Die Logik der Fusion ist schlüssig, Chrysler fehlt es an Internationalität, Daimler an Volumen. Selbst wenn die Stuttgarter alle Premiumhersteller der Welt schlucken würden, kämen sie gerade mal auf 12 Prozent des Weltautomobilmarktes.
Bald allein an der Spitze der Welt AG
Eine Verdoppelung des Umsatzes alle zehn Jahre, wie es der Schwabenkonzern bisher kennt, wäre künftig nicht mehr möglich gewesen, ohne die Marke Mercedes nachhaltig zu beschädigen.
Die A-Klasse war bereits ein Schritt zu weit in die falsche Richtung. Der frühere Mercedes-Chef Helmut Werner (62) hat das anders gesehen, er wollte Mercedes zur Massenmarke machen. Anders als bei Reuter war die Trennung von Werner fachlich begründet, und so sprechen die beiden Kontrahenten längst wieder miteinander.
Schrempp weiß, dass er die eigentliche Managementleistung erst noch erbringen muss. Der routinierte Dealmaker muss aus Daimler und Chrysler mehr machen als BMW aus Rover, General Motors aus Saab, Peugeot aus Citroën - oder Daimler aus AEG, Dornier, Fokker und Cap Gemini.
Die Historie spricht gegen die Schwaben, die Zukunft für sie: Von den alten, protokollarisch-hierarchisch geprägten Führungskräften, die den "integrierten Technologiekonzern" an den Rand des Ruins führten, hat heute niemand mehr wirkliche Macht in Stuttgart. Die, die noch in Amt und Würden sind, beugen sich, nicht immer ganz freiwillig, dem neuen Stil des Hauses.
Und Schrempp kann bei der Integrationsaufgabe auf seine Fähigkeit setzen, mit nimmermüdem Tempo-Management den beiden noch fremden Truppen das Äußerste abzuverlangen. Der Daimler-Chef dieser Tage entwickelt charismatische Züge: Wenn er seine Rede zur Eröffnung einer neuen Lkw-Fabrik im tiefsten Kanada mit "God bless you all" beschließt, dann erntet er von den Werkern frenetischen Beifall; nicht anders ergeht es ihm daheim, wenn er auf der Hauptversammlung Stuttgart zur "wunderschönen Stadt" erklärt und dafür von Belegschaftsaktionären gefeiert wird.
Der Zusammenschluss der schwäbisch-badischen Tüftlertrutzburg Daimler-Benz mit dem Erfinder des "Buy-American"-Slogans ist vermutlich das größte Abenteuer der Automobilindustrie, seit Henry Ford die Fließbandproduktion erfand.
Wenn überhaupt einer die beiden Kulturen zur Zusammenarbeit anstiften kann, dann der begnadete Kommunikator, Motivator, Antreiber und akribische Arbeiter Jürgen E. Schrempp.
Kandidatenkür: Der Daimler-Chef im Urteil der Juroren
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