Seit Jahrzehnten taumelt Brasilien von einer Krise zur anderen. Doch nun tut sich Erstaunliches in Politik und Wirtschaft. Experten sagen dem Riesenreich eine blühende Zukunft voraus.
Karlheinz Pohlmann steckt in einer verzwickten Situation. Seine Metallfabrik Brasimet in São Paulo kann die Flut von Aufträgen kaum mehr bewältigen. Vor den Fließbändern stehen Körbe voll mit Einfüllstutzen für Benzintanks und Kompressoren für Kühlschränke. Die Teile müssten längst ausgeliefert sein, doch die Arbeiterinnen kommen mit dem Löten der Rohlinge nicht nach.
Schon seit einem Jahr ringt Pohlmann mit sich selbst. Würde er die Kapazitäten ausbauen, könnte Brasimet "einen großen Satz nach vorn machen". Aber rechnet sich die Investition wirklich? 18 Prozent Zinsen müsste seine grundsolide Firma an die Banken zahlen - und das in einer Situation, in der keiner weiß, wie sich die Konjunktur entwickeln wird.
Brasiliens Unternehmer sind derzeit hin- und hergerissen - zwischen Chance und Risiko, zwischen Hoffen und Bangen. Obwohl die Nachfrage anzieht und lohnende Geschäfte locken, zweifelt so mancher an einem dauerhaften Hoch.
Dabei gibt es durchaus Grund für Optimismus. "Die makroökonomischen Bedingungen sind fantastisch. In den nächsten Jahren wird die Wirtschaft um durchschnittlich 4 Prozent wachsen", schwärmt Ben van Schaik, bis vor kurzem Chef von DaimlerChrysler do Brasil und Präsident der deutsch-brasilianischen Industrie- und Handelskammer.
Die Analysten von Goldman Sachs setzen noch eins obendrauf. Sie glauben, dass Brasilien 2025 ein größeres Sozialprodukt als Italien erwirtschaften kann. Bis 2036 werde das Land selbst Frankreich und Deutschland überflügeln.
Man mag sie gern glauben, die rosigen Prognosen. Immerhin ist das Riesenreich, dessen Fläche etwa der doppelten Größe Europas entspricht, mit schier unerschöpflichen Reserven an Rohstoffen und Ackerland gesegnet. Und es verfügt über eine ausbaufähige industrielle Basis.
Schätze, die Brasilien lange nicht zu heben wusste. Militärdiktatoren hatten über 20 Jahre hinweg die Marktkräfte ausgeschaltet. Erst 1989 begannen demokratisch gewählte Politiker mit der Liberalisierung. Sie verringerten die Importzölle, privatisierten die meisten Staatsmonopole und führten eine frei konvertierbare Währung ein. Gleichwohl erschütterten immer wieder Krisen und Hyperinflation die Wirtschaft.
Ein Linker umwirbt die Manager
Ein Linker umwirbt die Herzen der Manager
Wohin also steuert Brasilien? Ist die Nation wirklich auf dem Weg zur Wirtschaftsgroßmacht von morgen? Oder lodert da nur ein Strohfeuer auf?
Fest steht, dass in den vergangenen beiden Jahren völlig Unerwartetes auf das Land hereingestürmt ist. Bemerkenswerte Entwicklungen haben sich vollzogen, die Brasilien nachhaltig verändern könnten.
Als der ehemalige Maschinenschlosser Luiz Inácio Lula da Silva Anfang 2003 das Amt des Präsidenten in Brasilia übernahm, war die Industrie geschockt. Viele befürchteten, dass der Chef der sozialistischen Partei PT die Volkswirtschaft ins Chaos stürzen würde.
Doch es kam anders. Lula gelang ein kleines Wunder: Er zog die Unternehmerschaft im Handstreich auf seine Seite.
Ben van Schaik erinnert sich noch gut an frühere Auftritte Lulas vor den Toren des DaimlerChrysler-Werks in der Nähe São Paulos. Ausgerüstet mit Megafon und Transparent, demonstrierte er gegen Entlassungen und für Gehaltserhöhungen. Damals holte die Werksleitung die Polizei, um Lula vom Fabrikgelände fern zu halten.
Wie sich die Zeiten ändern. Mittlerweile zieht die Polizei auf, um Lula Sicherheit zu gewähren. Etwa bei der Visite im DaimlerChrysler-Werk kurz nach seiner Amtsübernahme. Anstatt im Blaumann erschien Lula in edlem Tuch und versicherte, dass er sich für die Belange der Industrie verwenden werde.
Lula hat Wort gehalten. Er stieß die Neuordnung des Renten- und Steuersystems an. Und er schlug einen drastischen Sparkurs ein, um das Haushaltsdefizit zu senken und die gigantisch hohen Auslandsschulden abzutragen.
Seine Politik könnte sich als Glücksfall erweisen. "Lula gibt uns das, was wir im Augenblick am dringendsten brauchen - nämlich Stabilität", sagt Sérgio Almeida, Manager bei Votorantim, einem großen Papierhersteller in Brasilien.
Hohe Zinsen dämpfen Konsumlust
Hohe Zinsen dämpfen die Lust am Geldausgeben
Kaum etwas lieben die 180 Millionen Brasilianer mehr - außer dem Karneval natürlich - als den Kauf auf Pump. Selbst ein Paar Schuhe, das nicht mehr kostet als 45 Real, also etwa 13 Euro, stottern sie in drei oder vier Monatsraten ab.
Dumm nur, dass die Zinsen so horrend sind. Wer sich Geld für die Anschaffung eines Autos leiht, dem berechnen die Banken 30 Prozent pro Jahr, für einen neuen Fernseher sind 60 Prozent fällig, und wer sein Girokonto überzieht, wird mit 200 Prozent bestraft.
Der Vorteil der strengen Notenbankpolitik: Die Inflationsrate sinkt. Gleichwohl vergällt das hohe Zinsniveau den Konsumenten die Lust am Geldausgeben - 2003 schrumpften die Ausgaben der privaten Haushalte um 3,3 Prozent.
Immerhin konnte Lula da Silva das Vertrauen der Finanzmärkte zurückgewinnen. Der Internationale Währungsfonds erweiterte den Kreditrahmen für das Land, das noch vor zwei Jahren am Rande der Zahlungsunfähigkeit stand. Zudem steigen die seit 2000 drastisch gefallenen ausländischen Direktinvestitionen wieder.
Unerwartete Hilfe aus dem Fernen Osten
Gilberto Goellner zeigt seinen Reichtum gern. Der Mann fährt einen nagelneuen Jeep, er bewohnt zwei mondäne Häuser, und er besitzt eine Farm, die so groß ist, dass gleich drei Flugzeuge für die Bewässerung der Ländereien zum Einsatz kommen.
Baumwolle und Soja baut Goellner an. Schon lange ein attraktives Geschäft, denn die Sojafelder im westlichen Bundesstaat Mato Grosso werfen erkleckliche Erträge ab, und die Produktionskosten liegen extrem niedrig. Doch so gute Gewinne wie derzeit konnte Goellner noch nie einfahren.
Zu verdanken hat der Großgrundbesitzer den Geldsegen vor allem den Chinesen. Mit ihrem Hunger nach Soja haben sie die Weltmarktpreise nach oben katapultiert. Und nicht nur Soja kaufen die Chinesen wie verrückt. Sie ordern auch ungeheure Mengen von Stahl oder Eisenerz - alles Produkte, die Brasilien liefern kann.
Brasiliens Bauern als Welternährer
Hohe Nachfrage nach Agrargütern, Stahl und Rohstoffen
Es ist die hohe Nachfrage nach Agrargütern, Stahl und Rohstoffen, die Brasiliens Exporterlöse vergangenes Jahr anschwellen ließ und die Leistungsbilanz ins Plus drehte. "Vor fünf Jahren spielten die Chinesen für uns überhaupt keine Rolle, heute sind sie der große Wachstumstreiber", sagt Walter von Kalm, Unternehmensberater in São Paulo (siehe: "Der Gang an den Zuckerhut rechnet sich").
Natürlich hat auch Regierungschef Lula erkannt, wie wichtig die Heilsbringer auf der anderen Seite des Globus für sein Land sind. So organisierte er im Mai flugs eine Reise nach Peking. Der Bedeutung der Visite angemessen, begleiteten Lula acht Minister und 450 Unternehmer. Als die Delegation wieder nach Brasilia zurückkehrte, hatte sie 15 wertvolle Vereinbarungen im Handgepäck.
Allein die Verträge der CVRD-Gruppe (sie ist der weltgrößte Exporteur von Eisenerz) mit chinesischen Partnern umfassen fünf Milliarden Dollar. Das Geld soll im Wesentlichen für neue Fabriken in Brasilien verwendet werden. Darüber hinaus haben sich die Chinesen verpflichtet, in den Ausbau von Straßen und Häfen sowie des brasilianischen Eisenbahnnetzes zu investieren.
Brasilianische Bauern ernähren die Welt
Gilceana Galerani blättert in einer Broschüre und zeigt auf zwei Landkarten. Auf der einen sind ein paar gelbe Tupfer zu sehen. Die andere ist fast zur Hälfte mit gelber Farbe überzogen. "Schauen Sie sich das an", sagt Galerani stolz, "vor 20 Jahren gab es bei uns nur ganz vereinzelt mal ein Sojafeld. Und heute? Überall Soja."
Die Forschungsanstalt Embrapa, bei der Galerani arbeitet, hat viel zu dieser erstaunlichen Vermehrung beigetragen. Unter anderem züchtete Embrapa 200 verschiedene Sojasorten, aus denen Milch, Brot, Kekse oder Tofu hergestellt werden.
Mittlerweile liefern die Brasilianer rund ein Drittel aller weltweit konsumierten Sojabohnen. Obendrein sind sie der größte Exporteur von Kaffee, Zucker, Orangensaft, Tabak sowie von Hühner- und Rindfleisch.
Noch transportieren Lastwagen und Schiffe hauptsächlich Rohprodukte in die lateinamerikanischen Nachbarstaaten, nach Europa, Nordamerika und Asien. Ein margenschwaches und von Preisschwankungen geprägtes Geschäft. Daher versuchen immer mehr Betriebe, die Wertschöpfung zu vertiefen.
Investoren fürchten Justizwillkür
Landwirtschaft ist stetig gewachsen
Zu den Vorreitern gehört der Lebensmittelkonzern Sadia, ein Unternehmen, das von 15.000 Bauernhöfen beliefert wird und 34.000 Mitarbeiter beschäftigt. "Bis 1997 verkauften wir hauptsächlich Fleisch und Geflügel", sagt Sadia-Manager Luiz Gonzaga Murat, "doch dann haben wir einen radikalen Strategiewechsel eingeleitet."
Das Kalkül ging auf. Heute stammt fast die Hälfte des Sadia-Umsatzes aus dem Verkauf von Tiefkühlpizza, Quiche, Salami, Mortadella oder Parmesankäse. Der Export von Fertigprodukten schnellte 2003 um 52 Prozent in die Höhe.
Eine Erfolgsgeschichte, die stellvertretend für viele Nahrungsmittelfirmen steht. Kein anderer Bereich entwickelt sich so positiv wie das Agrobusiness. Maschinenbauer, Textilhersteller oder Softwarehäuser - sie alle mussten in den zurückliegenden Jahren herbe Rückschläge hinnehmen. Nur die Landwirtschaft ist stetig gewachsen. Die Produktivität stieg zwischen 1990 und 2003 um 125 Prozent.
Und das soll nur der Anfang sein. Zwischen dem Amazonas und Argentinien erstrecken sich rund 106 Millionen Hektar höchstens als Weideland genutzter fruchtbarer Boden - eine Fläche, die etwa dreimal so groß ist wie Deutschland. Experten glauben, dass die Agrarwirtschaft nirgendwo sonst in der Welt so rasant wachsen wird wie in Brasilien, zumal der Einsatz moderner Technologien längst nicht ausgereizt ist. Ein Lichtblick für das aufwärts strebende Land. "Brasilien", sagt Walter von Kalm, "könnte in wenigen Jahren der größte Lebensmittelexporteur der Welt werden."
Investoren fürchten die Willkür der Justiz
Zu Erntezeiten geht auf den Straßen nichts mehr. 100 Kilometer lang stauen sich die Lastwagen vor dem Hafen Paranaguá im Bundesstaat Paraná. Die Trucker kämpfen sich im Schritttempo voran. Und wenn sie endlich angekommen sind, dauert es noch einmal zwischen 15 und 20 Tage, bis der Weizen, den sie herangekarrt haben, auf den Schiffen verstaut wird. Oftmals ist ein Teil der Ladung dann schon verdorben.
Zu wenige Straßen, Kanäle, Häfen und Schienen - die Infrastruktur in Brasilien ist eine einzige Katastrophe. Adalgiso Telles vom Agrokonzern Bunge hat ausgerechnet, dass allein die Getreidehändler 2,4 Milliarden Dollar pro Jahr verlieren, weil ihre Ware nicht zügig genug verladen wird.
Die Bunge-Manager würden gern für Abhilfe sorgen. Vor vier Jahren wollten sie 30 Millionen Dollar in den Ausbau des Hafens São Francisco do Sul stecken. Die Behörden lehnten ab. Nun plant Bunge, 100 Millionen Dollar in den Hafen Santos nahe São Paulo zu investieren. Die Behörden konnten sich bisher nicht zu einer Entscheidung durchringen.
Über nichts klagen brasilianische Manager lauter als über die Mängel bei der Infrastruktur, die Ineffizienz der Bürokratie und das chaotische Steuersystem.
Die Kaufkraft der Massen schrumpft
Die Gerichte sind überlastet
Mittlere und kleine Betriebe, die immerhin 50 Prozent des brasilianischen Bruttosozialprodukts erwirtschaften, rutschen meist durch das Netz der Behörden. Sie zahlen weder Steuern noch Sozialabgaben für die Mitarbeiter.
Zur Kasse gebeten werden fast nur größere Unternehmen, wobei der Fiskus besonders jene abkassiert, die ihre Wertschöpfungsketten verlängern und Arbeitsplätze schaffen. "Wer sogar Investitionen hoch besteuert, darf sich nicht wundern, wenn die Firmen das Geld lieber auf der Bank liegen lassen", sagt Unternehmensberater von Kalm.
Das gesamte Steuer- und Rechtssystem zeichnet sich durch Intransparenz und Komplexität aus. Die Gerichte sind überlastet, von Rechtssicherheit kann keine Rede sein.
Hans Prayon, Spross einer deutschstämmigen Textildynastie, erlebt immer wieder, wie langsam die Behörden arbeiten. Während er durch Blumenau chauffiert, ein von Deutschen geprägtes Örtchen im Süden des Landes, weist Prayon auf die Textilfirma Sul Fabril hin, die 1500 Menschen beschäftigt. 1999 hat das Unternehmen Insolvenz angemeldet. Das Verfahren läuft noch immer.
Die Kaufkraft der Massen schrumpft
Kein Geld für die Gläubiger, keine Steuern für den Staat. Lassen die Behörden die Firma unbehelligt, weil sie die Arbeitsplätze nicht gefährden wollen? Oder hatten die Richter bislang einfach keine Zeit, sich um den Fall zu kümmern? Prayon weiß es auch nicht. "So läuft es halt bei uns."
In kaum einem anderen Land ist die Gesellschaft so zerrissen wie in Brasilien. Im Süden hat sich die Industrie angesiedelt, im Norden gibt es kaum Fabriken; viele Menschen hungern. In Städten wie São Paulo oder Rio de Janeiro residiert der Geldadel in traumhaften Villen. Oft wuchern nur wenige hundert Meter entfernt schmutzige Armenviertel.
Einem Prozent der Farmer gehört fast die Hälfte des fruchtbaren Bodens. Sie schwelgen im Überfluss. Viele der Kleinbauern aber darben. Noch schlechter dran sind die Millionen von Menschen, die überhaupt keinen Boden besitzen - ein Erbe des Kolonialismus und der Sklaverei.
Industrieproduktion wächst wieder
Industrieproduktion wächst wieder
Fatal ist, dass sich die Kluft zusehends weitet. Anders als in China oder Indien, wo eine zahlungskräftige Mittelschicht heranreift, werden die Reichen in Brasilien immer reicher und die Armen immer ärmer.
Wie aber soll die Wirtschaft nachhaltig wachsen, wenn die Kaufkraft der breiten Masse schrumpft?
Die Auswirkungen dieser Entwicklung zeigen sich besonders deutlich in der Automobilindustrie. Fast alle globalen Pkw-Hersteller ließen sich in den 90er Jahren von euphorischen Marktprognosen zum Neubau oder zur Erweiterung von Fabriken verführen.
Doch als 1998 eine Krise über das Land hereinbrach, knickte der Absatz ein. Seither liegt rund ein Drittel der Kapazitäten brach. Es gibt einfach zu wenige Menschen, die sich ein Auto leisten können.
Unglaubliche 20 Milliarden Dollar investierten die Konzerne im zurückliegenden Jahrzehnt, die Verluste türmten sich zwischen 1998 und 2003 auf rund 6,2 Milliarden Dollar.
Nun zieht die Autokonjunktur wieder an; im Wesentlichen dank höherer Ausfuhren. Die aber lassen sich nur begrenzt steigern, "denn Brasilien ist kein Niedriglohnland, das es mit Konkurrenten in Tschechien oder der Slowakei aufnehmen könnte", sagt Hans-Christian Maergner, der Chef von VW do Brasil. Der Grund: Die Arbeiter verdienen wenig, aber die Lohnnebenkosten sind enorm hoch.
Nur wenn sich die Inlandsnachfrage belebt, können die Autobauer an Fahrt gewinnen. Und es sieht so aus, als würden die beiden Protagonisten, die das Schicksal Brasiliens seit zwei Jahren maßgeblich bestimmen - nämlich Lula und die Chinesen -, den Motor tatsächlich ankurbeln.
Dank des von China ausgelösten Exportbooms planen die Stahlhersteller, in den nächsten Jahren zehn Milliarden Dollar in die Erweiterung ihrer Werke zu investieren, die Fabriken der Lastwagenhersteller sind optimal ausgelastet, und die Zulieferbetriebe holen zusätzliche Aufträge herein. Folge: Die Industrieproduktion wächst seit einigen Monaten, die Arbeitslosigkeit sinkt.
Brot für Arme, Bildung für Kinder
Brot für die Armen, Bildung für die Kinder
Möglicherweise erlebt Brasilien wirklich einen nachhaltigen Aufschwung. Viele Experten gehen davon aus, dass die Weltmarktpreise für landwirtschaftliche Produkte, Rohstoffe und Stahl auf hohem Niveau verharren. Zudem wird Lateinamerika von der Liberalisierung der Agrarmärkte profitieren, die die Welthandelsrunde anstrebt.
Gleichwohl ist den Brasilianern der Aufstieg vom Schwellenland zu einer globalen Wirtschaftsmacht noch längst nicht sicher.
Der große Sprung nach vorn kann nur gelingen, wenn Präsident Lula die verhängnisvolle Spirale aus mangelnder Ausbildung, Lethargie und Armut kappt.
Er muss den Anteil der Kinder, die einen Schulabschluss machen (heute: 30 Prozent), erhöhen. Er muss die Menschen, die gerade in den nördlichen Landesteilen gern in den Tag hinein leben, zur Weiterbildung anspornen. Und er muss bäuerliche Kooperativen fördern, nur dann können die Kleinbauern im Konkurrenzkampf mit den Großgrundbesitzern bestehen.
Es gilt, die sozialen Gegensätze zu entschärfen und gleichzeitig für wirtschaftliche Stabilität zu sorgen, wobei besonders wichtig ist, dass die hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte sinkt.
Eine schier unlösbare Aufgabe - und doch hat Lula eine Chance: Anders als viele seiner Amtsvorgänger genießt er das Vertrauen eines großen Teils der Bevölkerung.
Die hohe Akzeptanz und die ersten wirtschaftlichen Erfolge der Regierung Lula schüren nun auch die Zuversicht von Unternehmern wie Brasimet-Chef Pohlmann. Der hat sich mittlerweile zu einer Entscheidung durchgerungen: Bis Ende des Jahres wird er drei Millionen Euro in seine Fabrik in São Paulo und in die fünf weiteren Standorte in Brasilien stecken. "Unsere Auftragsbücher quellen über", sagt Pohlmann. "Jetzt können wir die Kapazitätserweiterung nicht mehr weiter hinauszögern."
Oktoberfest in Blumenau
Oktoberfest in Blumenau
Die Nachkommen deutscher Einwanderer pflegen noch immer die Tradition in Brasilien - und sie beflügeln die Wirtschaft
Pioniere: Sie tragen so putzige Namen wie Blumenau, Brüdertal, Dreizehnlinden oder Hamburgerberg. Und noch immer zeugen verspielte Giebelbauten und hübsche Fachwerkhäuser zwischen gesichtslosen Betonkästen davon, dass diese Ortschaften im Süden Brasiliens einst von Deutschen gegründet wurden.
Zwischen 1824 und 1939 zogen rund 250.000 verarmte Bauern, abenteuerlustige Städter und politisch Verfolgte nach Brasilien. Einige ihrer Nachkommen pflegen bis heute die Tradition, sammeln sich in Schützenvereinen und feiern das Oktoberfest. Doch nur die wenigsten sprechen noch die Sprache ihrer Ahnen.
Projekteure: Zahlenmäßig bilden die deutschstämmigen Familien eine winzige Minderheit. Der Einfluss deutscher Unternehmen auf die Wirtschaft aber ist gewaltig. Vorreiter wie Siemens, Bayer oder Hoechst gründeten schon um 1900 Niederlassungen in Brasilien.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen dann alle anderen nach - VW, Degussa, Ferrostaal, Mercedes-Benz oder Bosch. Gerade in den 50er Jahren, als die Brasilianer die Industrialisierung starteten, beflügelten die Deutschen mit Kapital und technischem Wissen die Wirtschaft.
Profiteure: Mittlerweile betreiben hunderte deutscher Mittelständler und nahezu alle Konzerne eigene Niederlassungen in Brasilien. Siemens beschäftigt zum Beispiel in 13 Fabriken etwa 10.000 Menschen. "Wir haben hier eine sehr hohe Wertschöpfung, und wir arbeiten profitabler als in den meisten anderen Ländern", so der Chief Executive Officer Adilson Antonio Primo.
Die Mehrzahl der deutschen Firmen hat sich rund um São Paulo angesiedelt. Mit etwa 1000 Unternehmen gilt die Metropole als größter deutscher Industriestandort. Betriebe deutscher Provenienz produzieren rund 5 Prozent des brasilianischen Bruttoinlandsprodukts.
Partner: Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner und Investoren Brasiliens. Um so bedauerlicher finden es die Chefs der deutschen Ableger, dass sich die Regierung Lula weigert, das 1995 ausgehandelte Investitionsschutzabkommen zu unterzeichnen.