Aktientest Zukunftsbranchen
Freud und Leid liegen in den Bankpalästen der Londoner City derzeit dicht beieinander. Charles Brown tätig für das Investmenthaus Goldman Sachs und Europas Chemieanalyst Nummer eins starrt in seinem Zimmerchen verzweifelt auf den Bildschirm des Reuters-Monitors. Die Märkte fallen und mit ihnen, teilweise noch schneller, die Kurse der Chemieaktien.
Mitte Juli, als die Baisse begann, war der Anfang vom Ende der Korrektur, stöhnt Brown. Nur wo das Ende vom Ende ist, weiß niemand.
Keine 20 Meter entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite des Großraumbüros, sitzt Charles Elliott, europaweit einer der Topanalysten für Informationstechnologie (IT). Anders als Kollege Brown ist Elliott bester Stimmung. Die Kurse der IT-Papiere erholen sich schnell wieder. Wenn die Märkte volatil sind, schauen die Investoren besonders genau hin: Wo ist langfristig gutes Wachstum? Und dort steigen sie dann ein.
So unterschiedlich die beiden Branchen von den Börsen auch bewertet werden fundamental waren Chemie und Informationstechnologie in den vergangenen drei Jahren außergewöhnlich erfolgreich. Sie gehören zu den sechs Sektoren, die laut mm-Rating in puncto Rendite, Sicherheit und Wachstum überdurchschnittlich gute Ergebnisse ablieferten.
IT-Werte haben die besten Chancen
Die Informationstechnologie verdankt ihren Spitzenplatz vor allem hohen Eigenkapitalquoten, einem Umsatzwachstum von 30 Prozent pro Jahr und einer Eigenkapitalrendite, die mit 22,3 Prozent vor Steuern mehr als doppelt so hoch war wie beim Durchschnitt aller von mm getesteten 500 Unternehmen. Überdurchschnittliche Profitabilität war auch der ausschlaggebende Faktor für die gute Plazierung der deutschen Chemieindustrie. Die Unternehmen erwirtschafteten auf ihr Eigenkapital eine durchschnittliche Rendite von 17,8 Prozent jährlich.
Das gilt nicht mehr. Die Krisen an den Emerging Markets Asien, Rußland und Lateinamerika , der dramatische Einbruch der internationalen Aktienbörsen und die dadurch deutlich verschlechterten Wachstumsaussichten für die Weltwirtschaft haben die Brancheneinschätzungen jetzt grundlegend verändert. Informationstechnologie, Gesundheit/Pharma und Kommunikation sind hier immer noch top. Sie gelten nach wie vor als Zukunftsbranchen. Die Perspektiven für die Autozulieferer, die Chemie und die Finanzdienstleister hingegen sind trotz ihrer Erfolge in der Vergangenheit eher düster.
Branchenanalysen werden im Zuge der Globalisierung immer wichtiger. Der Heimatmarkt der Unternehmen früher eines der entscheidenden Anlagekriterien spielt heute nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Portfoliomanager fragen: Welches sind die aussichtsreichsten Sektoren? Und dort picken sie sich die besten Unternehmen heraus, beschreibt Markus Rausch, Pharmaanalyst bei der Deutschen Bank in Frankfurt, den Ausleseprozeß der Profis.
mm hat Europas führende Branchenexperten nach ihren Favoriten gefragt. Das Ergebnis: Fast überall gibt es Wachstumswerte selbst in jenen Wirtschaftszweigen, die nicht unbedingt zu den Zukunftsbranchen zählen. Und die Experten raten, jetzt einzusteigen. Deutsche Aktien sind seit Ende Juli deutlich stärker eingebrochen als andere europäische Papiere oder amerikanische Titel. Sie sind daher vergleichsweise günstig zu haben.
Gesundheitswelle spült Pharmatitel nach oben
IT-Analyst Elliott zögert nicht eine Sekunde mit seiner Empfehlung: SAP muß man haben. Wir erwarten Gewinnsteigerungen von jährlich 25 bis 35 Prozent über die nächsten zehn Jahre. Ernstzunehmende Wettbewerber für den Walldorfer Computerriesen sieht Elliott nicht. Neue Kunden hingegen en masse. Im Finanzbereich fängt SAP gerade erst an.
Grundsätzlich bescheinigt der Analyst der gesamten Branche glänzende Perspektiven. Immer mehr Dienstleistungen, für die man bislang teures Personal brauchte, werden künftig durch einfach zu bedienende, billige Software ersetzt werden. Da tut sich ein riesiger Markt auf. Anleger sollten aber jedes einzelne Unternehmen genau prüfen, denn gerade in einer so rasant wachsenden Branche können aus Gewinnern sehr schnell Verlierer werden.
Auch für die Pharmaindustrie sind die Perspektiven günstig. Das allgemeine Gesundheitsbewußtsein, so Branchenexperte Rausch, nimmt stetig zu. Lifestyle-Medikamente wie Viagra gegen Potenzstörungen oder Xenical gegen Übergewicht sind Umsatzrenner, selbst wenn die Patienten die Präparate teilweise aus eigener Tasche zahlen müssen.
Der wachsende Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung treibt außerdem die Nachfrage nach Medikamenten zur Behandlung altersbedingter Krankheiten (zum Beispiel Diabetes) drastisch in die Höhe. Im Alter zwischen 65 und 70 vervierfachen sich die Ausgaben für pharmazeutische Produkte, so Rausch.
Sein Liebling in der deutschen Gesundheitsindustrie ist die Dialyse-Firma Fresenius Medical Care (FMC), die sowohl Produkte für die Blutwäsche bei Nierenkranken anbietet als auch die dazugehörigen Serviceleistungen in den Krankenhäusern vor Ort. Die Begründung des Experten: FMC ist unangefochtener Weltmarktführer und wird derzeit von den meisten Anlegern unterschätzt. Die FMC-Prognosen waren nach der Fusion mit einem großen US-Unternehmen zu optimistisch und konnten vom Management nicht eingehalten werden. Das hat die Börse bis heute nicht vergessen meiner Meinung nach zumindest teilweise zu Unrecht. Das Management ist ohne Frage hervorragend, und die Perspektiven sind nach wie vor sehr gut. Rausch schätzt, daß der FMC-Gewinn zwischen 1998 und 2002 im Schnitt um 25 Prozent jährlich steigen wird.
James Sawtell von der Deutschen Bank in London, nach einer Reuters-Umfrage unter Fondsmanagern einer der besten seiner Zunft, hält den deutschen Telekommunikationsmarkt in puncto Gewinnaussichten für den weitaus interessantesten in Europa. Bei Ferngesprächen gehörten die Margen nach wie vor zu den höchsten auf dem Kontinent. Das, so Sawtell, mache das Geschäft spannend. Sowohl für Unternehmen als auch für Anleger.
Die Deregulierung ist weiter fortgeschritten als in den meisten anderen Ländern, und Firmen wie Mobilcom haben gezeigt, wie man davon profitieren kann, sagt der Analyst. Mobilcom hält er denn auch für eine der interessantesten und wachstumsträchtigsten Anlagemöglichkeiten am deutschen Telekom-Markt ( siehe Seite 220).
Auch der Deutschen Telekom attestiert Sawtell gute Chancen. Sie hat sich gegenüber Anbietern wie Mannesmann, RWE oder Viag besser geschlagen, als viele gedacht haben. Der Ex-Monopolist sei zwar nicht gerade ein Wachstumswert, aber im Vergleich zu anderen deutschen Papieren ein sicherer Hafen in turbulenten Zeiten.
Interesse am deutschen Medienmarkt ist riesig
Das Mediengeschäft gilt in der internationalen Finanzwelt ebenfalls als außerordentlich attraktiv. Mark Beilby von der Deutschen Bank in London empfiehlt aus ganz Europa allerdings derzeit nur eine einzige Aktie: Pro Sieben. Deutschland ist der zweitgrößte Medienmarkt der Welt, sagt Beilby.
Das Privatfernsehen hat einen riesigen Nachholbedarf. Nur 22 Prozent aller Werbung werden derzeit im Privatfernsehen plaziert, in Großbritannien sind es 34, in Italien sogar 55 Prozent. Von diesem Trend wird Pro Sieben enorm profitieren. Und die Aktie ist billig. Deshalb erwartet Beilby für den Kirch-Sender ein durchschnittliches Gewinnwachstum von 21 Prozent in den nächsten fünf Jahren.
Schon heute verfügt Pro Sieben über einen hochwertigen Kreis institutioneller Investoren. Der Grund: Für die Profis gibt es kaum Alternativen, in das deutsche Mediengeschäft einzusteigen. Ein Unternehmen wie Springer sei zwar hochinteressant, habe aber, so Beilby, viel zuwenig Streubesitz. Bertelsmann befinde sich ganz in privater Hand. Internationale Anleger würden sofort zugreifen, gäbe es mehr börsennotierte Medienunternehmen. Beilby: Das Interesse ist riesig.
Solche Komplimente bekommen Deutschlands Autozulieferer, fundamental gut bewertet, selten zu hören. Das Gros der Unternehmen ist im internationalen Vergleich zu klein, droht im Falle einer Rezession unterzugehen. Björn Kirchner, Auto-Analyst bei der Banque Nationale de Paris (BNP) in Frankfurt, hat dennoch eine Kaufempfehlung: den Schließanlagenspezialisten Kiekert. Das Unternehmen hat in Europa keine ernstzunehmende Konkurrenz, ist dem Markt technologisch um gut zwei Jahre voraus.
Zwar hat sich Kiekerts streitbarer Vorstandschef Werner Sterzenbach den Unmut großer Kunden wie Ford, Opel und VW zugezogen, weil er seine Klientel mit bisweilen rüden Methoden zum Abschluß abenteuerlicher Verträge zwingt. Doch die Produzenten können aufgrund laufender Vereinbarungen laut Kirchner frühestens in fünf Jahren den Lieferanten wechseln.
Ob sie es dann tatsächlich tun, hält der Analyst für mehr als fraglich. Kiekert ist einfach zu gut. Seine Prognose für das Gewinnwachstum des Autozulieferers: im Schnitt 36 Prozent jährlich bis zum Jahr 2000.
Unter Deutschlands Finanzdienstleistern gibt es ein einziges Unternehmen, das bei dieser Wachstumsrate mithalten kann: Der Gesamtsieger des mm-Ratings Marschollek, Lautenschläger und Partner (MLP). Kein Wunder, die Aktie ist auch der Favorit der Analysten des Londoner Investmenthauses Fox-Pitt, Kelton, europaweit führend im Finanz-Research.
Den Rest der deutschen Geldgilde, vor allem die Häuser mit stark internationaler Ausrichtung, halten die Experten derzeit größtenteils für uninteressant. Ihre Begründung: Die Institute seien wenig wachstumsträchtig und wegen der Krisen an den Emerging Markets und der unsicheren Lage an den Börsen besonders risikobehaftet.
Das gilt selbst für die Assekuranz. Wenn die Märkte einbrechen, werden die Versicherungen aufgrund ihrer großen Wertpapierportfolios überproportional stark in Mitleidenschaft gezogen, meint Versicherungsexperte William Hawkins von Fox-Pitt, Kelton.
Deutschlands Banken schneiden im Urteil der Analysten mit wenigen Ausnahmen zudem fundamental schlecht ab, wie Chris Williams, Kollege von Hawkins, herausgefunden hat. Was die künftige Profitabilität, die Sicherheit und die Wachstumschancen anbetrifft, gehören die deutschen Institute derzeit zu den Schlußlichtern in Europa.