D 500 Keine Angst vor Aktien
Sell in May and go away? Die alte Börsenweisheit scheint gründlich überholt. Der wahre Crash-Monat ist der Juli. Genau wie schon im vergangenen Jahr erwischte es auch in diesem Sommer Aktienanleger eiskalt.
Doch diesmal hält die Baisse an. Extreme Schwankungen bestimmen seit einem Vierteljahr den Alltag an den Aktienmärkten. Die deutsche Börse, die im ersten Halbjahr fast täglich historische Höchststände vermelden konnte, ist auf Talfahrt. Aktionär zu sein ist, wieder mal, keine Einbahnstraße mehr in Richtung Reichtum und Erfolg. Die Anlagestrategen des Bankhauses HSBC Trinkaus bringen die vorherrschende Stimmung in ihrer jüngsten Analyse mit zwei Worten auf den Punkt: "Massive Verunsicherung.
Der Dax erlebte Anfang Oktober einen seiner schwersten Einbrüche seit dem Crash 1987. Verzweifelte Analysten und Händler auf dem Börsenparkett versuchten in ihrer Ratlosigkeit, den Beginn einer Weltwirtschaftskrise herbeizureden.
Was ist eigentlich passiert? Die Konjunktur in Deutschland läuft weiter gut. Die Chef-Volkswirte der Banken sprechen lediglich von einer Verlangsamung des Wachstums. Die Unternehmensgewinne mußten nur leicht korrigiert werden. Immer noch erzielen viele deutsche Firmen zweistellige Renditen. Die Zinsen, seit jeher einer der wichtigsten Indikatoren für die Entwicklung an den Börsen, sind in Deutschland auf dem niedrigsten Niveau seit 1912. Inflation ist ein Fremdwort.
Hierzulande scheint alles in Ordnung. Die Ursachen für die Kurseinbrüche liegen in den Krisen rund um den Erdball. Sie sorgen bei Privatanlegern wie Profis für Nervosität. Das Chaos in der japanischen Wirtschaft nimmt kein Ende. Immer wieder brechen Banken zusammen. Der neuen Regierung unter Premierminister Keizo Obuchi gelang es bisher nicht, das verkorkste Finanzsystem Nippons zu sanieren.
Rußlands Reformbemühungen sind vorerst gescheitert. Die ehemalige Weltmacht ist zwar mit einer neuen Regierung wieder politisch handlungsfähig, jedoch fehlt den Führenden das richtige Konzept. Das ökonomische Vertrauen in die junge Marktwirtschaft ist verspielt. Die Schulden bei internationalen Gläubigern werden nicht mehr bedient. Rußland schlittert in eine tiefe Depression.
Doch es sind nicht die ökonomischen Auswirkungen der russischen Krise, die weltweit Investoren ängstlich stimmen und bis zur Wall Street ausstrahlen. Die Volkswirtschaft Rußlands ist nicht einmal so groß wie die der Niederlande; Rußlands größte Banken sind in Deutschland mit der Kreissparkasse Köln zu vergleichen, wie Deutsche-Bank-Sprecher Rolf -E. Breuer kürzlich anmerkte.
Die Baisse an den Aktienmärkten ist Folge einer tiefsitzenden Angst. Das große Arsenal an Atomwaffen in Rußland, gepaart mit politischer Unzuverlässigkeit, wird vor allem in den USA als ernste Bedrohung empfunden. Dazu kommt, daß die Vereinigten Staaten über Wochen kein wichtigeres Thema als das Sexualleben ihres Präsidenten hatten. Die Führer der beiden Supermächte Hand in Hand, der eine mit leeren Taschen, der andere mit heruntergelassenen Hosen, so zeichneten Karikaturisten das Bild, das auch den Anlegern weltweit durch die Köpfe geisterte.
Dann kollabierte Ende September auch noch der von renommierten Finanzexperten gemanagte US-Hedgefonds Long Term Capital. Viele große Banken mußten hohe Millionenbeträge abschreiben. Die Anleger stellten fest, daß auch Profis der Krise nicht gewachsen waren.
Wenn aber Psychologie und damit Angst die Aktienmärkte beherrschen, verlieren die Akteure schnell den Überblick. So mancher institutionelle Investor ging auf Nummer Sicher und nahm erst einmal Gewinne aus der Hausse der vergangenen Monate und Jahre mit.
Die Stimmung kann allerdings schnell wieder drehen. Politische Unsicherheiten beeinflussen die Börsen nicht dauerhaft. Der Trend zur Aktie ist ungebrochen. Große Liquidität in privaten wie in institutionellen Händen will zur Vermögensbildung angelegt werden. Niedrig verzinste Anleihen sind für immer weniger Menschen eine Alternative zur Aktie. Nur muß der Fokus, muß die Anlageregion neu definiert werden. Fast alles spricht hierbei für Europa.
In Europa schließen sich Unternehmen zu weltweit wettbewerbsfähigen Konzernen zusammen. Fast überall entstehen neue Industrien, finden die Topanalysten der großen Banken und Investmenthäuser aussichtsreiche Wachstumswerte in den Branchen der Zukunft Zukunftsbranchen. Die einheitliche Währung und das Zusammenwachsen der verschiedenen Börsenplätze wird den europäischen Aktienmarkt übersichtlicher und damit attraktiver auch für internationale Anleger machen. Denen erscheint Europa im weltweiten Vergleich als sicherer Hafen in Krisenzeiten.
Der wichtigste und interessanteste Aktienmarkt in Euroland ist Deutschland. Viele Konzerne haben durch Restrukturierungen ihre fundamentale Ertragskraft verbessert. Die Manager machen endlich Ernst in Sachen Shareholder Value. Längst hat der Umbau deutscher Unternehmen das Interesse großer ausländischer Investoren geweckt, die auf die fundamentale Stärke der Aktiengesellschaften vertrauen und ihnen großes Wachstums- und Gewinnpotential einräumen Qualität ist Trumpf.
manager magazin favorisiert seit nunmehr zwölf Jahren die Fundamentalanalyse. Reinhart Schmidt, Finanzprofessor an der Universität Halle, untersucht alljährlich die 500 größten deutschen börsennotierten Aktiengesellschaften nach Rendite, Sicherheit und Wachstum. Der große Aktientest ist der umfassendste Performancevergleich seiner Art. Die besten Aktien finden sich in allen Größenklassen, Branchen und Marktsegmenten. Die ungeheure Datenfülle verdichtet Schmidt mit einem eigens entwickelten Verfahren zu einem Score, der die Unternehmen vergleichbar macht So wird gerechnet.
Besonders intensiv hat sich der Finanzprofessor in seiner Untersuchung auch in diesem Jahr den Börsenneulingen gewidmet. Gerade am zwischenzeitlich als Zockermarkt verrufenen Neuen Markt ist wie bei den Blue chips Stock-Picking angesagt: Die Profis großer Fonds und Asset-Management-Gesellschaften achten auch bei den Newcomern auf die Auswahl der fundamental guten Unternehmen. Schmidt ermittelte hier Verblüffendes. In seinem Ranking übertreffen viele junge Wachstumsunternehmen des Neuen Marktes die etablierten Börsenwerte Super-Markt?.
Anleger sind gut beraten, sich nicht auf Dauer von einer aus psychologischen Gründen wankelmütigen Börse fernzuhalten. Im Gegenteil: Wer langfristig orientiert ist und Aktien als wichtigen Bestandteil seiner Vermögensbildung ansieht, sollte die jetzt wieder niedrigeren Kurse nutzen. Depots können optimiert werden, günstige Börsenstars reizen zum Nachkaufen, ja sogar für Neueinsteiger scheint das aktuelle Kursniveau attraktiv zu sein.
Matthias Graf von Krockow, Mitinhaber und Sprecher des Kölner Bankhauses Sal. Oppenheim, Europas größter Privatbank, hält zum Jahresende 1999 einen Dax von 6000 Punkten für durchaus möglich "Jetzt kaufen".
"Kaufen Sie jetzt europäische Aktien", rät der Bankier, "denn Euroland wird künftig die neue Lokomotive für die Weltwirtschaft sein."