Kolumne Über Oberhemden
Es gehört zu den schönsten Paradoxien der Mode, denn je mehr die Etikette verfällt, desto wichtiger wird das Hemd. Schon in der inzwischen klassischen Bibel der Pariser Hautevolee, dem "Guide du Bon Chic Bon Genre", habe ich Ende der 80er Jahre gelesen, wie die Oberschicht über das Oberhemd dachte: "Es ist der entscheidende Punkt der BCBG-Garderobe. Das eigentlich essentielle Stück. La chemise c'est l'homme!"
Wir haben in Deutschland zwar keinen Grafen Buffon, der sich textil so einprägsam variieren ließe, doch wir besitzen unseren untrüglichen Volksmund, der immer schon wußte, daß uns das Hemd näher ist als der Rock. Und es mehren sich die Stimmen zu seinem Ruhme:
"Seit die meisten von uns das Jackett abwerfen, kaum daß sie ihren Arbeitsplatz erreicht haben", dekretiert ein neues englisches Modelehrbuch ("Men's Wardrobe"), "ist das Hemd, zusammen mit der Krawatte, zum wichtigsten modischen Ausdruck des Mannes geworden." Und spätestens seit Hollywood-Held Michael Douglas als Börsenjongleur Gekko nicht schlips-, aber jackettlos in Hemd und Hosenträgern die Wall Street unsicher machte, hat sich auch in ansonsten gutgekleideten Kreisen eine neue Modeästhetik etabliert: Schlips und Kragen, bislang eine Formel für eher hinlängliches Wohlbenimm, hat sich wortwörtlich verselbständigt; heute glauben immer mehr Männer, sie seien auch schon im Hemd gesellschaftsfähig.
Das hätte man wohl, wäre es vor ein paar Jahrzehnten passiert, als Revolution bezeichnet. Heute, in den Zeiten eines schleichenden Etiketteverfalls, kümmert das kaum jemanden, so ressortiert das Thema zeitgeistkonform im emotionslosen Raum.
Das war mal total anders: Ganze Generationen wohlanständiger Frauen haben nie einen Mann im Hemd, genauer: im Oberhemd, gesehen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war von ihm unter der Oberbekleidung nur der Kragen sichtbar. Das Hemd gehörte traditionell zum Bereich Unterwäsche, also in die Tabuzone. "Manchmal denke ich", sinniert meine Pöseldorfer Freundin bösartig, "vielleicht wäre es da auch heute noch am besten aufgehoben."
Etikettefest und unnachsichtig nimmt sie Anstoß an dem lockeren Look, insbesondere wenn nicht der Schalterbeamte, sondern ein Topmanager ihn zeigt. Die Modeleute sind weit milder: "Wenn es darauf ankommt, wenn Entscheidungen fallen", urteilt der niederländische Fachautor John de Greef ("Hemden"), "dann sind Hemdsärmel auch im Geschäftsleben erlaubt."
Hemdsärmelig hat ja im Deutschen durchaus doppelte Bedeutung, es meint nicht nur abschätzig ungehobelt, grobschlächtig oder einfach schlecht erzogen; so manchen gelten Hemdsärmelige als dynamische Macher und durchsetzungsfähige Aufsteiger. Kein Wunder, daß Reklamegenies und Rambojournalisten sich gern ohne Jackett der Kamera stellen.
Wo Hemden so an Wichtigkeit gewinnen, sollte man annehmen, daß ihre Käufer ihnen mehr Aufmerksamkeit widmen (und auch mehr dafür ausgeben). Meine Freunde in der Modebranche haben indes ganz andere Erfahrungen.
"Der Kunde mutiert zum kragenlosen Ungeheuer", überspitzt der Hamburger Herrenausstatter Jean Braun, was er in den vergangenen Jahren bemerkt zu haben glaubt. Dabei hat Braun, der hanseatischen Schlipsträgern unermüdlich ein bißchen Eleganz und Etikette zu vermitteln sucht, in seinem Laden eh nur Männer, die überproportional viel Geld für ihre Garderobe ausgeben.
Was Braun beobachtet, sehe ich auch andernorts. Wann immer bunte Publikumszeitschriften, wie jüngst wieder der "Stern", den neuen mode- und beautybewußten Mann entdecken (also etwa einmal im Jahr), zeigen sie junge Leute kragenlos in T-Shirt und Armani-Jackett; auch Außenminister Fischer wählt, wenn er schlipslos vor seine Grünen tritt, gern diese Uniform. "Ach ja, die alte Miami-Vice-Masche", spottet meine Pöseldorfer Freundin, "Männer halten das offenbar für elegant und jugendlich zugleich." Auf jeden Fall ist es "höllisch unhygienisch" (Braun), einen Jackettkragen auf der nackten Haut zu tragen.
Der deutsche Durchschnittsmann, in allen Modefragen eh ein deprimierendes Wesen, besitzt lediglich 13 Oberhemden zum Stückpreis von kaum mehr als 60 Mark, und, schlimmer noch, nur ein Fünftel davon taugt als korrektes Businesshemd. Dazu paßt, daß feinere Hemdenmarken wie Borrelli, Lorenzini oder die Brioni-Töchter Burini und Ciceri, selbst Van Laack allenfalls fortgeschrittenen Kunden ein Begriff sind.
Auch bei den klassischen Hemden in weiß, blau oder gestreift (ziemlich daneben: Streifen mit weißem Kragen) lockert sich ein wenig die Etikette. Der Tabkragen verliert galoppierend an Beliebtheit, vielleicht weil es unschicklich ist, ihn offen zu tragen. An seine Stelle tritt der Haikragen, ziemlich gespreizt und mit füllig gebundener Krawatte. Button down, in Italien neuerdings vorwiegend mit offenen Knöpfen getragen, verteidigt seine Nische.
Im Gegenzug vermehren sich wieder die Umschlagmanschetten, die Hersteller von Manschettenknöpfen freut es. Und es gibt auch wieder mehr Männer, die sich mit ihren Initialen schmücken. Doch ein präsentables Oberhemd, höre ich immer wieder aus Pöseldorf, muß zuvörderst zwei Qualitäten haben: "Es muß unbedingt vermeiden so auszusehen, als sei es pflegeleicht oder bügelfrei." Hemden ab etwa 200 Mark können das.
Dann darf man auch mal den Ärmel aufkrempeln, doch nie bis über den Ellenbogen. Kurzärmelige Hemden dagegen, sagt Braun, "sind nur etwas für Buchhalter." Oder man muß, wenn man im Kurzärmeligen und einer Krawatte unter Menschen gehen will, in Uniform sein, Navy-Angehöriger in den Tropen etwa oder Pilot bei einer südamerikanischen Airline.
Gesehen habe ich das freilich auch einmal mit Anstand und Grazie, und zwar auf den Bermudas: Dort tragen sie freilich dazu auch die nach diesen Inseln benannte kniekurze Hose.