Stoffe Im Land der Weber

Wolle, Mohair und Kaschmir bilden die Basis für Anzüge der Luxusklasse. Je dünner das Garn, desto höher die Qualität. Die edelsten Tuche stammen aus der stillen Bergregion um das Städtchen Biella im Piemont.

Andächtig öffnet Luciano Barbera (65) die Tür, dabei flüstert er leise: "Jetzt betreten wir das Allerheiligste."

Ein Kellergewölbe tut sich auf. In meterlangen Regalen stapeln sich schlichte Holzkisten. Darin: Garne, Garne, Garne. Bevor sie verwebt werden, lagern sie monatelang im milden Ambiente von 18 Grad. "Das ist wie beim Wein", sagt Barbera, "der wird durchs Lagern auch immer besser."

Der elegante Signore - in grünbraunes Tuch gekleidet - ist Chef und Mitinhaber der Carlo Barbera & C., einer edlen Stoffweberei in Pianezze, einem kleinen Dorf im nördlichen Piemont. Rund 20 Kilometer sind es von hier bis Biella, der Provinzhauptstadt mit rund 50.000 Einwohnern.

Aus der Gegend um Biella kommen die besten Stoffe der Welt. Kleine, schmucke Dörfer kleben an den Hängen rund um Biella. In jedem Flecken gibt es eine Kirche und eine Weberei.

60 Firmen zählt die Associazione Ideabiella, der Verband der Bielleser Weber. Einige Unternehmen wie Zegna, Cerruti und Barbera sind auch dem Endverbraucher bekannt, weil sie neben Stoffen auch Bekleidung herstellen. Andere wie Guabello, Garlanda, Loro Piana oder Reda sind reine Stoffproduzenten und deshalb nur Modemanagern vertraut.

Zum Beispiel Lothar Reiff (49), Kreativvorstand der Hugo Boss AG . Er urteilt: "Die Biella-Weber sind im hochwertigen Bereich weltweit konkurrenzlos."

Es gibt die Engländer, aber die haben nur klassische Stoffe im Angebot. Es gibt die Italiener in der Gegend um Prato, aber die bieten billigere Stoffe an. Wer beste Qualität und modische Raffinesse haben will, der muss nach Biella.

So ist es seit vielen Jahrzehnten. Am Anfang war das Wasser, das aus den Alpen Richtung Po-Ebene fließt. Klares, weiches Wasser - ideal für Spinnereien und Webereien, die während der Produktion mehrmals ihre Rohstoffe waschen müssen.

Heute haben die Bielleser Weber noch andere Vorteile: ihr über viele Jahre erworbenes Textil-Know-how und ihr einmaliges modisches Gespür.

"Jeder hat seine Nische gefunden"

Die 60 Webereien - fast alle noch in Familienbesitz - sind zwar mehr oder weniger Konkurrenten, aber man kennt sich, man tut sich gegenseitig nicht weh. Die Patrone fahren zusammen Ski in den nahen Bergen, sie tauschen sich regelmäßig aus, am Telefon, im Ristorante oder in der Associazione. Nein, nicht über Preise, aber zum Beispiel über Maschinen, von denen sie immer die besten und teuersten haben.

Eigentlich sind sie auch keine richtig harten Wettbewerber, denn sie sind alle irgendwie spezialisiert. "Jeder hat seine Nische gefunden", sagt Luciano Barbera. Der eine webt nur Wolle, der andere Mohair, ein anderer ist der Kaschmir-Spezialist. Und es gibt große Firmen, die verarbeiten verschiedene Stoffe - wie Ermenegildo Zegna.

Die Zegnas sind in Trivero zu Hause, einem 1500-Seelen-Dorf. Neben der unbewohnten Gründervilla aus den 20er Jahren steht die Weberei, 70.000 Quadratmeter groß. Hier werden Wolle, Mohair und Kaschmir zu edlen Stoffen gewoben. Kunden sind Nobelschneider wie Brioni oder Kiton.

Ein Teil aber geht in die Eigenfertigung, denn Zegna ist einer der wenigen Bielleser Weber, der - seit über 50 Jahren schon - eigene Konfektion und Läden besitzt. Geschäftsführer Paolo Zegna (47) sieht darin einen Vorteil: "So sind wir näher am Markt."

Ein paar kurvenreiche Kilometer weiter unten im Tal liegt Vallemosso. Das Ortsbild dominieren die quaderförmigen Fabrikhallen der Weberei Reda. Die jungen Chefs, Ercole Botto (32) und Vetter Francesco Botto (38), fahren eine andere Strategie als Zegna. "Wir konzentrieren uns auf Wolle, und wir wollen Masse machen", sagt Ercole Botto. Zu ihren rund 600 Kunden zählen Hugo Boss und fast alle deutschen Herrenschneider, aber neuerdings auch die schwedische Billigkette Hennes & Mauritz .

Reda hat sogar eigene Farmen auf der Südinsel Neuseelands. Rund 30.000 Schafe weiden dort. Der Rohstoff ist für die Bielleser Weber enorm wichtig. Sie sind deshalb permanent auf der Suche nach den besten Farmen der Welt, mögen sie noch so weit von Biella entfernt sein.

Wolle kaufen sie meist in Australien und Neuseeland, Kaschmir in der Inneren Mongolei (China) und Mohair in Südafrika. Die raren und sündhaft teuren Stoffe von Vicuña und Guanako importieren sie aus den südamerikanischen Andenstaaten.

Die Chefs der Webereien reisen mehrmals jährlich in diese Regionen. Paolo Zegna düst zweimal im Jahr nach Australien, besucht dort Schaffarmen und verleiht in Sydney die "Vellus Aureum Trophy" für die beste Wolle Australiens.

Je dünner, desto besser

Die beste ist meist auch die dünnste. Gemessen wird in Mikron, also Tausendstelmillimetern. Je dünner der Faden, desto teurer ist er. 20 Mikron sind gut, 15 Mikron super, 12 Mikron absolute Weltspitze. Die Faden-"Stärke" des letztjährigen Sydney-Gewinners betrug mickrige 10,3 Mikron.

Paolo Zegna erklärt: "Die Anzüge werden immer leichter, deswegen brauchen wir immer dünnere Garne." Männer würden viel mehr auf Stoffe schauen als Frauen, weiß Zegna.

Das sieht auch Boss-Vorstand Lothar Reiff so. Die Metzinger Modemacher kaufen fast nur bei den Biellesern ein. Zum Beispiel Massenware bei Reda, teures Tuch für die Baldessarini-Linie bei Barbera. Drei Meter Stoff brauchen sie für einen Anzug. Bei Reda zahlen sie dafür 30 Euro.

Über die Jahre hat sich eine Art Partnerschaft zwischen den Modefirmen und den Stofflieferanten entwickelt. Ein- und Verkäufer kennen einander. Sie treffen sich regelmäßig zum Ideenaustausch in Biella und in Metzingen - und auf der Modemesse Ideabiella, die inzwischen im idyllischen Erba am Comer See stattfindet.

Ende September hatte die Ideabiella ihr 25-jähriges Jubiläum. Doch dort waren nicht nur die neuen Stoffe Gesprächsstoff, sondern auch die andauernde Krise der Biellesen.

Die Webereien sind unter Druck. Wichtige Märkte brechen ein. Der deutsche zum Beispiel. Vor fünf Jahren nahmen deutsche Modehersteller rund 30 Prozent der Bielleser Produktion ab. "Heute ist es viel weniger", seufzt Paolo Zegna. Ersatz suchen die gebeutelten Italiener nun verstärkt in Nordamerika und Fernost.

Doch von dort droht auch Gefahr - die Chinesen kommen. Luciano Barbera hebt die Brauen und sagt: "Das wird ein sehr, sehr ernster Wettbewerber." Die Chinesen besitzen bereits die besten Maschinen, und sie kaufen die beste Wolle.

Nur eines konnten sie bislang nicht erwerben: das Know-how und das Faible für Mode. "Das haben Gott sei Dank noch wir", sagt Luciano Barbera - und streichelt fast zärtlich noch einmal über die Garne in seinen Holzkisten, bevor er die Tür zum Allerheiligsten hinter sich verschließt.

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