Ratingagenturen Apostel ohne Moral
Auf den 17. Dezember vergangenen Jahres hatte sich Stefan Kirsten (42) minutiös vorbereitet. An jenem Tag erwartete der Finanzchef von ThyssenKrupp wichtigen Besuch.
Die Ratingagentur Standard & Poor's (S&P) hatte sich angesagt, um über die gewaltigen Verpflichtungen des Stahlriesen für seine Firmenrentner zu diskutieren.
Der selbstsichere Kirsten ließ die Besucher erst einmal ein Weilchen schmoren. Dann hielt er den Kreditanalysten einen sorgsam ausgearbeiteten Vortrag. Tenor: Alles im Griff, in den Bilanzen von ThyssenKrupp tickt keine Zeitbombe.
Drei Tage später verkündete der Finanzmanager auf der Bilanzpressekonferenz das Ergebnis der Sitzung - so wie er es sah: Die Ratingagentur teile seine Einschätzung.
Der Mann irrte. Mitte Februar gab S&P eine ganz andere Sicht der Dinge kund: Die Unternehmensbewerter stuften die Bonität von ThyssenKrupp wegen der Pensionsschulden herab, und das gleich um zwei Stufen (siehe: "Die Ratingkeule").
Für Kirsten und seine Vorstandskollegen eine Katastrophe. Die Anleihen von ThyssenKrupp rutschten bei S&P auf "Junkbond"-Status ab, Ramschniveau. Solche Papiere sind nur etwas für Zocker; bei den meisten institutionellen Anlegern sind sie tabu. Wenn der deutsche Traditionskonzern sich am Kapitalmarkt künftig verschulden will, muss er das sehr viel teurer bezahlen als bisher.

Ramschniveau: Zu hohe Pensionsschulden - ThyssenKrupp-Vorstand Schulz
Foto: DDP
Zwei Stufen runter: Drastisch herabgestuft - Telekom-Primus Kai-Uwe Ricke
Foto: DDP
Ausblick negativ: Auf der "Watchlist" - Siemens-Chef Heinrich von Pierer
Foto: DDP
Herabgestuft: Nach Gerüchten abgewertet - Commerzbank-Lenker Klaus-Peter Müller
Foto: DDP
Deutschlands Konzernlenker im Visier Bitte klicken Sie einfach auf ein Bild, um zur Großansicht zu gelangen. |
Ein schwacher Trost bleibt den ThyssenKrupp-Oberen: Sie sind nicht die einzigen deutschen Spitzenmanager, die mit den Ratingagenturen im Clinch liegen. Allianz (Kurswerte anzeigen), Commerzbank (Kurswerte anzeigen), Eon, HypoVereinsbank (Kurswerte anzeigen), Deutsche Telekom (Kurswerte anzeigen), Deutsche Post (Kurswerte anzeigen), Siemens - die Liste der Topkonzerne, die bei den Bonitätsaposteln in Ungnade fallen, wird immer länger.
Vor dem Hintergrund der globalen Wirtschaftskrise und spektakulärer Firmenpleiten hat sich der Stil der Ratinghäuser geändert. Immer hektischer und schneller stufen sie die Bonität von Industriekonzernen und Finanzdienstleistern herab - nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Unfaire Praktiken
Unfaire Praktiken
Auf eine Aufwertung kommen bei S&P derzeit mehr als sieben "downgrades", wie Abwertungen im Fachjargon heißen. Konkurrent Moody's stufte 2002 fast ein Viertel aller Unternehmen herab - Rekord. Die Zahl derer, die auf der "Watchlist" stehen, also eventuell bald abgestraft werden, ist bei Moody's binnen weniger Monate um die Hälfte angestiegen.
Zum Leidwesen der Betroffenen. Schließlich hat das Urteil der drei großen Ratinghäuser S&P, Moody's und Fitch enormes Gewicht. Senken die Wertungsrichter den Daumen, müssen die Unternehmen in der Regel höhere Risikoprämien bezahlen, sprich: höhere Zinsen etwa für Emissionen von Anleihen. Ein schlechtes Rating kann die Firmen sogar von Finanzierungsquellen abschneiden.
Besonders abhängig von dem Urteil der Agenturen sind Banken. Eine Herabstufung kann sie leicht einen dreistelligen Millionenbetrag im Jahr kosten - oder sogar ganz von lukrativen Geschäftsfeldern aussperren. Im Extremfall, unken Experten, könnten die Ratinghäuser sogar zu einer Bedrohung für das Finanzsystem werden - wenn eine Großbank durch eine Herabstufung in einen Abwärtssog geraten und umkippen würde.
Werden die Ratinghäuser ihrer großen Verantwortung nicht gerecht? Oder ist die geballte Kritik an ihrer Arbeit haltloses Gejammer frustrierter Konzernlenker?
Jürgen Berblinger weiß ganz genau, wodurch sich eine gedeihliche Beziehung zwischen einem Unternehmen und einer Ratingagentur auszeichnen sollte: "Absolute Transparenz und Offenheit ist auf beiden Seiten gefragt", doziert der Deutschland-Chef von Moody's gern, "Überraschungen sollten vermieden werden."
Das klingt gut. Es scheint indes, als gerate die goldene Regel bei Berblinger und seinen Kollegen von den anderen großen Ratingagenturen in der Praxis allzu oft in Vergessenheit.
Beispiel HypoVereinsbank: Dieter Rampl, der neue Chef des Geldhauses, bekam die Praktiken der Ratingagenturen schmerzlich zu spüren. Angesichts mieser Zahlen mussten er und seine Vorstandskollegen mit einer Rating-Verschlechterung rechnen. Dass Moody's die Bank im Januar aber ohne Vorwarnung gleich um zwei Stufen herunterprügelte, schockte die Münchener. Warum es zu der brachialen Maßnahme kam, ist ihnen bis heute ein Rätsel.
Auch Heinrich von Pierer wurde unliebsam überrascht. Der Siemens-Chef wollte Anfang Dezember bei der Vorlage seiner Bilanzzahlen Optimismus verbreiten. Just am Vorabend hatte Moody's aber den Ausblick für die Kreditwürdigkeit des Elektrokonzerns auf "negativ" gesenkt. Die Aktie fiel prompt um etwa 5 Prozent.
Was den Siemens-Vormann besonders erzürnte: Die Agentur hatte das Unternehmen ohne Rücksprache mit dem Management zurückgestuft, obwohl für die darauf folgenden Tage ein Treffen vereinbart worden war.
"Völlig undurchsichtig"
"Völlig undurchsichtig"
Die Umgangsformen der Kollegen von S&P sind nicht viel besser. Als die Commerzbank im Herbst 2002 in den Ruch einer Liquiditätskrise gekommen war, stuften die S&P-Analysten das bedrängte Institut herab - sehr zum Ärger des Managements. Man habe, hieß es in der Frankfurter Zentrale, auf die Zusage von S&P vertraut, bis zur Vorlage der nächsten Quartalszahlen stillzuhalten.
Alles bedauerliche Einzelfälle? Unglückliches Timing arroganter Mitarbeiter? Keineswegs. Unberechenbarkeit und mangelnde Offenheit, da sind Branchenkenner sicher, haben bei den Ratingfirmen trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse System.
"Das Bewertungssystem der Agenturen ist völlig undurchsichtig", urteilt der Finanzchef eines großen Kreditinstituts. "Wir haben keine Chance, genau nachzuvollziehen, wie eine Note zu Stande gekommen ist."
Das nervt die Betroffenen schon lange. Die Unzufriedenheit hat jedoch deutlich zugenommen, seit die Ratingagenturen in jüngster Zeit ihre Schlagzahl spürbar erhöht haben.
Schuld an dieser Entwicklung ist Enron. Bei der Pleite des US-Energiehändlers im Jahr 2001 hatten die Bonitätsprüfer alle Alarmsignale übersehen. Seither bangen die Ratingagenturen um ihre Reputation. Sie haben panische Angst davor, noch einmal zu spät zu kommen - und schlagen im Zweifel lieber zu früh und mit größerer Härte zu.
"Die Branche muss aufpassen", mahnt sogar Jens Schmidt-Bürgel, Deutschland-Statthalter der Ratingfirma Fitch, "dass sie nicht über das Ziel hinausschießt."
Eine Chance, sich gegen das Verdikt einer Agentur zu wehren, haben die Betroffenen nicht. Im Kampf mit den Bonitätsfirmen herrscht keine Waffengleichheit. Die Unternehmen zahlen zwar für die Ratings. Doch als Emittenten von Anleihen sind sie auf die Agenturen angewiesen; ohne Rating traut sich kaum ein Unternehmen mehr auf den Kapitalmarkt.
Kritik an den Bonitätswächtern üben deutsche Manager daher meist nur hinter vorgehaltener Hand. Öffentliche Schelte gilt als gefährlich. "Sie können es sich nicht mit einer Ratingagentur verderben. Das käme einem Todesurteil gleich", warnt ein Frankfurter Banker.
Widerworte wagt nur, wer nichts mehr zu verlieren hat. So wie Ekkehard Schulz. Die Herabstufung durch S&P, kommentierte der ThyssenKrupp-Chef, sei "wirtschaftlich unsinnig". Er werde sich dem Druck der Ratingagentur nicht beugen (siehe: "Aufmarsch gegen Ratinganalysten").
Der wachsende Unmut in der Wirtschaft beeindruckt die Ratinghäuser keineswegs. Da werde "der Übermittler schlechter Botschaften kritisiert und als Sündenbock für eigene Fehler hingestellt", hält Moody's-Mann Berblinger dagegen.
Der Nimbus bröckelt
Der Nimbus bröckelt
Viel wichtiger als die Zuneigung der Unternehmen ist den Kreditwächtern das Vertrauen der Investoren. Doch auch hier bröckelt die Glaubwürdigkeit. Die Anleger nehmen das Urteil der Agenturen manchmal kaum noch zur Kenntnis.
Als Moody's Anfang dieses Jahres die Bonitätseinschätzung für die Deutsche Telekom drastisch um zwei Stufen zurücknahm, passierte am Anleihenmarkt: nahezu nichts. Die Telekom-Bonds rutschten kurzfristig ab, erholten sich aber sofort und setzten ihren monatelangen Kursanstieg fort.
Ähnlich war Ende 2002 die Marktreaktion auf den nach Ansicht von Moody's verschlechterten Siemens-Ausblick. Ein kurzes Zucken, das war's. Heute liegt die Rendite der Siemens-Anleihen etwa gleichauf mit der von Konkurrent General Electric (GE) - obwohl GE von den Ratern deutlich besser bewertet wird.
Die Beispiele zeigen: Die Investoren folgen dem Urteil der Agenturen längst nicht immer. "Die Ratingnote ist nur eine Information unter vielen", sagt Peter Walburg, Leiter Kreditanalyse bei der DWS.
Seit zehn Jahren macht die Fondstochter der Deutschen Bank den Ratingagenturen Konkurrenz. 35 Experten prüfen die Bonität von Emittenten und raten den Rentenfondsmanagern der DWS zum Kauf oder Verkauf einer Anleihe. "Das Rating dient uns lediglich als Vergleich. Wir wollen wissen, ob die Agenturen die Lage ähnlich einschätzen wie wir", sagt Walburg.
Wie die DWS haben fast alle großen Fondsgesellschaften und Brokerhäuser "Credit Research"-Abteilungen - und sind damit durchaus erfolgreich. "Banken und Broker sind oft näher an den Unternehmen dran und deshalb schneller als die Agenturen", urteilt Martin Hochstein, Leiter des Rentenfondsmanagements bei der Frankfurter SEB Invest.
Die Folge: "In 80 Prozent der Fälle", so DWS-Mann Walburg, "hat der Markt eine Änderung des Ratings bereits vorweggenommen." Sprich: Der Kurs einer Unternehmensanleihe sinkt schon vor und nicht erst zum Zeitpunkt der Herabstufung.
Ein Imageproblem für Moody's & Co. Schließlich prahlen die Agenturen, über Insiderinformationen zu verfügen, die sonst kein Analyst habe.
Entsprechend bemüht sind die großen Drei der Ratingzunft, jeden Anschein zu vermeiden, sie würden nur der Marktmeinung hinterher hecheln. Die immer häufigeren und teils drastischen Änderungen der Ratings, vermuten Branchenkenner, seien deshalb auch ein Versuch der Bonitätsapostel, sich bei den Investoren wieder mehr Respekt zu verschaffen.
Doch deren Skepsis ist begründet. Sogar die Agenturen selbst empfehlen, weitere Ansichten einzuholen. "Ein Rating", sagt Torsten Hinrichs, Deutschland-Chef von S&P, "ist eine objektive, unabhängige Meinung. Sie enthebt keinen Investor der Pflicht, sich ein eigenes Bild der Risiken zu machen."
Argwöhnische Aufseher
Argwöhnische Aufseher
Von Unternehmen gescholten, von Investoren mit Missachtung gestraft - droht den Ratingfirmen das Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit?
Wohl kaum. Ihr "Aaa" oder "BBB-" liefert den Kapitalmärkten noch immer einzigartige, weltweit vergleichbare und verständliche Signale. Auch wenn die Bonitätsapostel alles andere als beliebt sind - für Emittenten und Anleger bleiben sie trotz aller berechtigten Kritik unentbehrlich.
Ungemach droht Moody's & Co. von anderer Seite: den Aufsichtsbehörden. Um das gestörte Vertrauen in die Kapitalmärkte wiederherzustellen, dürften sich die staatlichen Kontrolleure nach Wirtschaftsprüfern und Investmentbanken als nächstes die Ratinghäuser vornehmen.
Ende Januar kündigte die US-Börsenaufsicht SEC an, sich intensiver um die Branche zu kümmern. Vor allem der Mangel an Wettbewerb und Transparenz ist der US-Behörde suspekt. Auch die deutsche Regierung plant Maßnahmen zur Überwachung der Ratinghäuser.
Ein Mindestmaß an Regulierung, das wissen die Agenturen, wird auf sie zukommen. Doch sie sehen den Bemühungen gelassen entgegen. Ihren Platz wird ihnen so leicht niemand streitig machen. In kaum einer anderen Branche sind die Eintrittsbarrieren so hoch wie im Ratinggeschäft - das haben mehrere gescheiterte Versuche, eine neue Agentur zu etablieren, gezeigt. Nur Anbieter mit jahrelanger Erfahrung und umfangreichen Datenbeständen werden am Kapitalmarkt ernst genommen.
Bereits der Dritte im Rating-Bunde, Fitch, hatte größte Mühe, sich neben S&P und Moody's als weltweit anerkannter Kreditwächter zu etablieren. Dass dies noch einem Vierten gelingen könnte, gilt Branchenkennern als unmöglich.
Das Oligopol wird weiter bestehen, damit müssen sich die Unternehmen abfinden. Eine Chance, gegen vermeintliche Fehlurteile der Bonitätswächter vorzugehen, haben sie nicht.
Mit einem Gutachten die Unsinnigkeit einer Herabstufung zu beweisen, wie es ThyssenKrupp plant, dürfte die Ratinghäuser kaum beeindrucken. Und Gerichte zu bemühen wäre wohl vollends aussichtslos.
Bisher jedenfalls ist eine Ratingagentur noch nie mit Erfolg verklagt worden. Schließlich können sich die gestrengen Kreditwächter notfalls ganz einfach auf ihr Grundrecht zurückziehen: Meinungsfreiheit.
Rating-Monopoly
Rating-Monopoly
Wie Moody's & Co. das Geschäft dominieren - und was die Unternehmen für ihre Benotung zahlen müssen
Dominant: Drei Agenturen beherrschen den Weltmarkt. Moody's und S&P setzten 2002 jeweils rund eine Milliarde Dollar um, Fitch erreichte etwa ein Drittel dieser Summe. Die operative Gewinnmarge lag beim börsennotierten Ratinghaus Moody's bei fast 53 Prozent. S&P (gehört zur US-Verlagsgruppe McGraw-Hill) und Fitch (Teil des französischen Fimalac-Konzerns) verdienen nach Branchenschätzungen ähnlich gut.
Lukrativ: Bezahlt werden muss ein Rating vom Unternehmen selbst. Zwischen 50.000 und 300.000 Euro - je nach Größe des Konzerns - kostet ein erstmaliges Rating. Auch die anschließende jährliche Überwachung kostet, bei S&P zum Beispiel 35.000 Euro.
Verschwiegen: Die Firmen sind per Vertrag angehalten, den Ratinghäusern alles Wichtige vorab zu melden. Die Agenturen selbst geben kaum Einblick in ihre Arbeit. Vor allem der Entscheidungsprozess in den Rating-Komitees und die Gewichtung der Benotungsfaktoren sind intransparent. "Rating", entschuldigt sich ein Branchenvertreter, "ist eher Kunst als Wissenschaft".
Fitch: "Jedem dritten Lebensversicherer droht das Aus Pensionsverpflichtungen: Konzerne in Finanznöten Kreditranking: Deutsche Konzerne benachteiligt? Wirtschaftslage: Deutschland in der Bonitätsfalle? Ratingagenturen: Gesundheitscheck für Schuldner