Werteverfall Sittenverfall
Es waren die großen Geister der Vergangenheit, die Joachim Milberg kürzlich beschwor: Immanuel Kant, Thomas Mann, Adam Smith. Logisch, auch Hans Jonas ("Das Prinzip Verantwortung") durfte nicht fehlen. Dann redete der ehemalige BMW-Chef über "Moral", "Ethik" und "Werte", über "Vertrauen" und "Verlässlichkeit" - und all das, resümierte Milberg, "benötigen wir heute dringender denn je". Ungewohntes Terrain für einen Ingenieur.
Nur die Sonntagsrede eines emeritierten Managers?
Auch Lufthansa-Chef Jürgen Weber hadert mit den Zeitläuften. In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich, fragt er sich: "Herausholen, was herauszuholen ist, und nach mir dann die Sintflut?"
Nur die Säuernis eines Konzernchefs, dem seine Piloten voriges Jahr einen Gehaltsaufschlag von sagenhaften 30 Prozent abtrotzten?
Robert Suckel, Chef der Aktienanalyse-Firma SES Research, treibt die Frage um, wem er eigentlich noch trauen kann.
Mehrfach ist er in den vergangenen Jahren belogen worden. Ob CPU, Comroad, Infomatec, Kabel New Media oder EM.TV - mit unfassbarer Dreistigkeit haben einige der einstigen Stars am Neuen Markt abgezockt (siehe: "Die Glücksritter des Neuen Marktes"). Suckel sagt: "Die Anleger haben Angst, betrogen zu werden. Man glaubt den geprüften Bilanzen nicht mehr."
Nur die Klage eines Analysten, dem die aktuelle Baisse das Geschäft verdirbt?
Dieter Heuskel, Deutschland-Vormann der Boston Consulting Group (BCG), beunruhigt, dass in den vergangenen Jahren "die Loyalität in den Unternehmen durch die reine Ausrichtung auf den Kapitalmarkt bedroht wurde: Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die Institution Unternehmen."
Nur Gedanken eines ratlosen Beraters?
Die Liste ließe sich verlängern. Moral, Anstand, Vertrauen, Loyalität - auf einmal sind diese Begriffe, die aus einer längst vergangenen Ära zu stammen scheinen, wieder im Gespräch.
Den Exzessen der vergangenen Jahre folgt eine neue Nachdenklichkeit. Nach der großen Party, als Globalisierung, Internet und Börsenboom alles Bestehende ab- und umzuwerten schienen, kommt nun die tiefe Verunsicherung: Was wird aus dieser Gesellschaft? Bricht das sittliche Fundament weg, ohne das die Wirtschaft nicht funktionieren kann?
Anatomie einer Vertrauenskrise
Anatomie einer Vertrauenskrise
Ein massiver Vertrauensverlust hat die Wirtschaft erfasst, in Europa wie in den USA. Die Krisensymptome sind unübersehbar:
- Die Finanzmärkte zweifeln an der Glaubwürdigkeit von Managern und Wirtschaftsprüfern. Auf Firmenbilanzen ist kein Verlass mehr. Fälle wie Metabox oder Phenomedia am Frankfurter Neuen Markt, die 100-Milliarden-Dollar-Pleite des US-Energieriesen Enron und der jüngste Bilanzskandal bei dem zweitgrößten US-Telekommunikationskonzern Worldcom schüren den Verdacht, inzwischen sei jedes Mittel recht, um kurzfristig den Aktienkurs in die Höhe zu schrauben.
- Die Bürger zweifeln an der Integrität von Managern und Politikern. Ständig kommen neue Korruptionsfälle ans Tageslicht. Auf dem weltweiten Index der unabhängigen Anti-Korruptionsorganisation Transparency International ist Deutschland in den vergangenen fünf Jahren von Platz 13 auf Platz 20 abgerutscht. Nie zuvor gab es so viele Ermittlungsverfahren gegen bestechliche Politiker und bestechende Manager - die Zahl der Korruptionsverfahren hat sich laut Bundeskriminalamt (BKA) seit Mitte der 90er Jahre verfünffacht.
- Die Manager zweifeln an der Verlässlichkeit ihrer Geschäftspartner. Weil sich Unternehmen nicht an Verträge und Absprachen halten, weil sie Preise drücken, zu spät oder gar nicht zahlen, geraten jährlich zigtausende Firmen in Schwierigkeiten. Besonders dramatisch ist die Lage in der Bauindustrie: 78 Prozent der Pleiten gehen auf verspätete Zahlungen der Kunden zurück.
- Die Mitarbeiter zweifeln am Anstand ihrer obersten Chefs. In einem nicht nachvollziehbaren Maß sind die Gehälter der Topmanager gestiegen (siehe: "Die maßlose Elite"). Zwischen 1997 und 2000 genehmigten sich die Vorstände der Dax-Unternehmen Zuschläge von im Schnitt 30 Prozent jährlich, so Kienbaum-Gehälterexperte Heinz Evers. Nach dem Krisenjahr 2001 gibt es nun zwar bei einigen Konzernen - DaimlerChrysler, Infineon, SAP, Lufthansa - deutliche Abschläge. Aber das Niveau bleibt hoch, der Vorwurf der Selbstbedienungsmentalität wird immer lauter erhoben. "Volkswirtschaftlich hauen uns die hohen Gehälter nicht um", urteilt der Berater Augustinus Graf Henckel von Donnersmarck, "aber unter dem Gesichtspunkt der sozialen Kompetenz sind sie skandalös."
Ein "totaler Opportunismus" habe sich ausgebreitet, sagt der Saarbrücker Wirtschaftsprofessor Christian Scholz. Jeder gucke nur noch auf seinen eigenen Vorteil: "Ganz oben in der Hierarchieebene gibt es Leute, deren Bezüge in den Himmel schießen, während die Aktienkurse in den Keller gehen. Auf der unteren Ebene klinken sich immer mehr Mitarbeiter einfach aus oder melden sich krank - ohne Rücksicht auf die Firma."
Moral als Wirtschaftsfaktor
Moral als Wirtschaftsfaktor
Na und, könnte man argumentieren. Wozu gibt es Gesetze, Staatsanwälte, Gerichte? Ist nicht die Wirtschaft für die Mehrung des Wohlstands zuständig, während Moral Sache der Pastoren und Politiker ist? Was haben ausgerechnet Manager mit der Wertefrage zu tun? Eine ganze Menge.
"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral", ließ Bert Brecht den Gangster Macheath in der "Dreigroschenoper" proklamieren. Wohlstand und Anstand, so sah es der Marxist Brecht, schließen sich im liberalen Raubtiersystem gegenseitig aus. Es ist der uralte Generalverdacht gegen alle Erfolgreichen - wie im Kamel-durch-das-Nadelöhr-Gleichnis der Bibel.
Und es ist wahr: Leute wie Comroad-Gründer Bodo Schnabel, der über Jahre die Anleger betrogen haben soll; oder Ex-ABB-Deutschland-Chef Michael Pohr, der durch ein akribisch organisiertes Schmiergeldsystem den Umsatz gesteigert haben soll; oder Klaus-Dieter Schweickert, Ex-Vorstandschef der Bayerischen Beamtenversicherung, der unter anderem 1,4 Millionen Euro Schmiergeld beim Verkauf eines Bonner Regierungsgebäudes erhalten hat - sie gelten heute als Symbolfiguren für die Zustände in der Wirtschaft.
Nur: Brechts Macheath hat deshalb noch lange nicht Recht. Es ist gerade umgekehrt: Ohne Moral gibt es auch nicht viel zu fressen.
Die liberale Wirtschaft funktioniert nur, wenn die Verantwortlichen einem informellen Wertekanon folgen. Rechnungen werden (prompt) bezahlt; Verträge eingehalten; Mitarbeiter, Aktionäre, Wettbewerber, Kunden, Zulieferer und das Finanzamt fair behandelt. Nur wenn sich die große Mehrheit an diese Regeln hält, funktioniert die Wirtschaft reibungslos.
Nehmen jedoch die Verstöße überhand und wird Raffgier zum dominierenden Verhaltensmuster - dann wird die Effizienz insgesamt gemindert.
Studien der OECD und des Internationalen Währungsfonds (IWF) zeigen: Gesellschaften mit einem hohen Vertrauenspotenzial wachsen schneller (siehe: "Soziales Verhalten als ökonomischer Faktor"). Moral - das ist ein wichtiger Standortfaktor, volkswirtschaftlich gesehen.
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist Moral ein Erfolgsfaktor erster Güte. Mitarbeiter, die bereit sind, untereinander und mit dem Management zu kooperieren, sind produktiver, so eine IWF-Studie. Wer Kunden und Zulieferern trauen kann, hat mehr Planungssicherheit.
Eine korruptionsarme Wirtschaft sorgt dafür, dass es im Wettbewerb um die besten Produkte geht, nicht um die besten Kontakte. Staatsausgaben fließen in effizientere Projekte. Der internationale Vergleich zeigt: Zwischen Korruption und Wohlstand gibt es einen eindeutigen Zusammenhang (siehe: "Wie Korruption die Wirtschaft abwürgt").
Besonders sensibel reagieren die Börsen. Wo Misstrauen herrscht, steigen die Zinsen. Die Unternehmensfinanzierung wird teurer - Moral ist auch ein Shareholder-Value-Thema.
Bedenklich, dass das Vertrauenskapital schrumpft. Empirische Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass nicht nur in Deutschland, sondern gerade auch in den angelsächsischen Ländern USA, Großbritannien und Australien die gemeinsamen Werte schwinden.
Ein gefährlicher Trend. "Wenn eine nennenswerte Anzahl von Geschäftsleuten gegen das Prinzip wechselseitigen Vertrauens verstößt", warnt US-Fed-Chairman Alan Greenspan, "werden unsere Gerichte und unsere Wirtschaft zur Bewegungslosigkeit verurteilt."
So weit, so schlecht. Wie konnte es so weit kommen?
Spurensuche.
Exzesse der Blasen-Ökonomie
Exzesse der Blasen-Ökonomie
Oh ja, er hat viele von ihnen gesehen. All die smarten Schnösel mit einem maßlosen Selbstwertgefühl und ebensolchen Gehaltsvorstellungen. "Viele Leute", sagt Burkhard Schwenker, Partner bei Roland Berger, "hatten den Sinn für ihren tatsächlichen Wert verloren." All die jungen selbst ernannten High Potentials, die einfach mal eben den Cashflow in ihre Richtung lenken wollten. So war das in den Zeiten der Börseneuphorie: Der schnelle Reichtum schien greifbar nahe. Konzernvorstände wie Rolf-Ernst Breuer (Deutsche Bank), dessen Jahresgehalt mutmaßlich auf einen zweistelligen Millionen-Euro-Betrag emporschoss, und Showmen wie Thomas Haffa (EMTV), der mit Aktienverkäufen seiner Neue-Markt-Firma nach Branchenschätzungen Millionen Euro erlöste, machten es vor.
Millionen träumten davon, es ihnen gleichzutun. Wenigstens als Aktionäre: 50 Prozent Rendite im Jahr einzufahren galt plötzlich als normal.
Dies ist eine der Ursachen der derzeitigen Krisensymptome: In Zeiten der Börsenblase stiegen die Ansprüche auf einer nach oben offenen Gierskala ins Unermessliche. Das Denken wurde extrem kurzfristig. "Das schnelle Geld war eine Versuchung, der viele offenbar nicht widerstehen konnten", sagt der Analyst Suckel. Enron, Comroad, Global Crossing, Insidergeschäfte am Neuen Markt - um nur die schlimmsten Auswüchse zu nennen.
In der extrem kurzsichtigen Schneller-reich-Wirtschaft stieg der Preis des Anständigseins. Insofern ist der Zusammenbruch der Börsenblase ein gutes Zeichen: Wenn die Ansprüche sich normalisieren, dürfte die Moral sich bessern. Genau das geschieht derzeit, indem nun die Auswüchse dieser Phase geahndet und öffentlich gebrandmarkt werden.
Kein Grund zur Entwarnung allerdings. Es sind noch weitere, tiefer gehende Veränderungen am Werk, die Werte und Normen grundsätzlich in Frage stellen.
Risiken der Globalisierung
Risiken der Globalisierung
Viel ernster als der Exzess der Börsenblase ist ein fundamentaler Vorwurf: dass der Kapitalismus dabei sei, sich seiner sittlichen Basis zu berauben. "Ökonomische Unsicherheit" mache die Menschen misstrauisch, analysiert der US-Politologe Francis Fukuyama. Sie zögen sich zurück, seien schwieriger in Unternehmen und gesellschaftliche Gruppen zu integrieren. "Wir haben gesehen, wie ökonomische Unsicherheit, von der Ölkrise bis zum Downsizing, dem Zynismus Auftrieb gegeben hat." Ein Prozess, der insbesondere in den USA sichtbar sei - der Kapitalismus frisst seine eifrigsten Adepten.
Firmen gehören, neben Familien und Schulen, laut OECD zu den wichtigsten Institutionen, in denen Vertrauen gebildet wird. Globalisierung und rascher Strukturwandel hingegen bringen Unordnung in soziale Netzwerke.
Unternehmen zerfallen, werden neu zusammengesetzt. Menschen werden verschoben oder rausgeworfen. Risikokapitalismus. Die Folge: eine große Verunsicherung. Manager haben in den vergangenen Jahren vor allem eine Doktrin verfolgt: alles für die Renditen, alles für die Börsen. Nur Zahlen zählen.
Das Unternehmen als Wertegemeinschaft, als Großgruppe von Menschen, welche die gleichen Ziele mit den gleichen Mitteln verfolgen, verliert an Bedeutung. Angesichts all der Fusionen, Akquisitionen, Umstrukturierungen, Zerschlagungen sei es "sehr schwer geworden, sich in einem Unternehmen zu Hause zu fühlen", sagt BCG-Chef Heuskel.
Paradoxerweise geht beim Versuch, supereffiziente Strukturen zu schaffen, eines der wichtigsten Vermögensgüter des Unternehmens verloren: das Vertrauenskapital.
Wo Personen zu Personalnummern degradiert würden, trügen Firmen eine Mitschuld, wenn auch die Mitarbeiter versuchten, so viel wie möglich herauszuholen, meint Axel von Heyden, Leiter des Bereichs Vertrauensschadenversicherung der Hermes Kreditversicherung.
Und das kann teuer werden: Durch Veruntreuung, Betrug und Unterschlagung entsteht den Firmen in Deutschland nach Hermes-Schätzungen jährlich ein Schaden von zwei Milliarden Euro - mehr als doppelt so viel wie noch vor zehn Jahren.
Bei einem Autohersteller verschwanden binnen zwei Jahren 450.000 Glühstifte im Wert von 1,3 Millionen Euro. Videoüberwachungen ergaben, dass fünf Mitarbeiter die hochwertigen Motorenteile gleich kistenweise vom Werksgelände geschafft hatten.
Mitarbeiter eines Stahlwerks deklarierten Edelstahl im Wert von 1,8 Millionen Euro als Ausschuss - und verhökerten das Material anschließend an einen Schrotthändler.
Wem kann man eigentlich noch trauen?
Eine schwierige Frage. Am besten dem direkten Familien- und Freundeskreis. Je unübersichtlicher die Gesellschaft wird, so zeigen sozialwissenschaftliche Untersuchungen, desto enger wird der Vertrauensradius.
Fließende Moralwerte der Ego-Gesellschaft
Fließende Moralwerte der Ego-Gesellschaft
Das gesellschaftliche Umfeld, in dem Unternehmen heute agieren, ist ziemlich rau. "Rationaler, aber auch kälter" sei das Klima in den vergangenen zwei Jahrzehnten geworden, so die "Dialoge"-Studie des Verlags Gruner + Jahr, die größte deutsche Langfriststudie zum Thema. Solidarische Werte und Verhaltensweisen haben an Bedeutung verloren, soziales Verantwortungsbewusst sein weicht zunehmend einem individuellen Vorteilsdenken.
Unternehmen können sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Gesellschaft ihnen loyale Mitarbeiter bereitstellt. Stabile Teams zu formen wird schwieriger, weil die Menschen anders sind: individualistisch, hedonistisch, unverbindlich.
Eine ausgeprägte Ich-Bezogenheit hat Helmut Klages, Professor in Speyer und einer der renommiertesten wissenschaftlichen Trendforscher Deutschlands, geortet. Wer nur noch sich selbst vertraut, mag sich nicht mehr auf andere verlassen: "Die Gesellschaft im Ganzen beginnt sich als eine Egoistengesellschaft zu verachten, wie man feststellen kann, wenn man die Menschen fragt, was sie von 'den anderen' halten." Nämlich herzlich wenig.
Weil das alle umfassende Gemeinschaftsgefühl schwindet, zerfasern die Wertvorstellungen. Es gibt keinen festen Kanon mehr, was "man" tut und lässt. Moral im beginnenden 21. Jahrhundert - das ist ein fließender Maßstab. Im Zweifel gewinnt die wirtschaftliche Opportunität.
So erklärt sich der Widerspruch, dass Manager ständig die "Kundenorientierung" beschwören; dass sie aber, wenn sich die Gelegenheit bietet, nur zu gern Kartellabsprachen treffen - sich also mit Wettbewerbern gegen die Abnehmer verbünden.
Früher, sagt Georg de Bronett, der Chef des Brüsseler Kartellfahnderteams, habe schlicht das Unrechtsbewusstsein gefehlt. "Jetzt wissen die sehr genau, dass ihr Handeln verboten und verwerflich ist. Aber sie machen es trotzdem. Sie gehen das Risiko bewusst ein." Gerade in der jetzigen konjunkturellen Schwächephase wachse die Versuchung, via Kartellvereinbarungen die Erträge zu stabilisieren.
Traditionsreiche deutsche Großunternehmen wie BASF, Commerzbank und Dresdner Bank oder der Hoechst-Ableger SGL Carbon wurden vergangenes Jahr von der EU-Kommission wegen Preisabsprachen zu hohen Geldbußen verurteilt. In der Regel ziehen die Betroffenen vor Gericht - von Reue ist nicht viel zu sehen.
Auch Korruptionsfälle zeigen, wie die Opportunität über die Moral siegt. Zum Beispiel bei ABB: Einen satten zweistelligen Millionenbetrag soll der Anlagenbauer in den 90er Jahren an so genannten Provisionen und Nützlichen Aufwendungen (NA) für Türöffner im In- und Ausland ausgegeben haben - mutmaßlich großteils gut getarnte Schmiergelder. "Beatmen" hieß das im ABB-Jargon. Die Zahlungen wurden weitgehend von höchster Stelle angewiesen. So unterzeichnete der damalige ABB-Europa-Chef Eberhard von Koerber zwischen 1995 und 1997 eigenhändig sieben "Provisionszahlungen" über jeweils 125.000 Schweizer Franken, die auf das Schweizer Konto einer dubiosen Briefkastenfirma flossen.
Das Grundproblem der westlichen Gesellschaften liege in einer "völligen Monetarisierung des Lebens", sagt Ulrich Hemel, Vorstandsvorsitzender des Hygieneartikel-Herstellers Paul Hartmann AG, der nebenbei als Professor katholische Theologie lehrt: "Sogar das Selbstwertgefühl bemisst sich nur noch in Geld. Weil andere Wertmaßstäbe fehlen, schlagen die Leute über die Stränge - sie tun alles, um erfolgreich zu sein."
Gier, Werteverfall, Korruption - stehen wir nun, nach dem Hyper-Kapitalismus der vergangenen Jahre, vor dem Offenbarungseid der Wettbewerbsgesellschaft?
Geht die Marktwirtschaft an sich selbst zu Grunde, weil sie die schlechtesten Seiten des Menschen offen legt?
Mündet der globale Wettbewerb gar in jenen "Krieg aller gegen alle", den einst der britische Philosoph Thomas Hobbes als wolfsgesetzlichen Naturzustand der Menschheit beschrieb?
Wie geht es weiter? Was tun?
Thomas Hobbes' Antwort war klar: Die Gesellschaft lasse sich nur befrieden, wenn einerseits ein gerechter Staat den Kampf aller gegen alle unterbinde und wenn andererseits die Bürger von "Tugenden" wie "Gerechtigkeit" und "Sittlichkeit" geleitet würden - von "gemäßigten Leidenschaften", wie Hobbes formulierte.
Gerade diese gemäßigten Leidenschaften machen die Marktwirtschaft zu einem so erfolgreichen System: Gier, zu Gewinnstreben domestiziert, ist ein höchst produktiver Antrieb. Solange die Bürger freiwillig und vernünftig auf Exzesse verzichten, entfalten sie ihre Fähigkeiten zum allgemeinen Nutzen.
Erst wenn die Schranken der Mäßigung fallen - wie im Boom der vergangenen Jahre -, gefährden die Leidenschaften ganze Unternehmen (Enron) oder ganze Systeme (Neuer Markt) in ihrer Existenz.
Auf die Manager kommt es an
Auf die Manager kommt es an
Dass die Grenzen des Anstands derart löchrig geworden sind - an dieser Entwicklung hat die Managerelite tatkräftig mitgewirkt. Wer seit Jahren nur noch "Profit, Profit, Profit" (DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp) predigt und dabei das eigene Gehalt ohne jedwedes Sozialempfinden in die Höhe treibt, taugt nicht mehr als Vorbild.
"Man kann nicht erwarten, dass die Mitarbeiter sich an die Spielregeln halten, wenn die Leute an der Spitze sich über Normen und Werte hinwegsetzen", meint Berater Augustinus Graf Henckel von Donnersmarck.
"Die Führungspersönlichkeiten haben versagt", kritisieren Warren Bennis und Burt Nanus, zwei renommierte US-Wirtschaftsprofessoren und Berater. Die Manager hätten es versäumt, "Visionen zu erzeugen, ihren Mitarbeitern einen Sinn zu vermitteln und eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen".
Manager als sinnstiftende Ersatzpriester?
So weit würde Roland-Berger-Berater Burkhard Schwenker nicht gehen. Aber auch er fordert Führungskräfte auf, sich gemäß ihrer Vorbildrolle zu verhalten: "Fairness, Glaubwürdigkeit, Integrität - das müssen sie vorleben. Es ist die beste und vielleicht einzige Möglichkeit, die Bedeutung dieser Werte im Unternehmen zu erhalten."
Das oberste Gebot muss lauten: völlige Transparenz. Regeln offen legen und sich selbst daran halten; Managergehälter veröffentlichen; mit den Mitarbeitern einen verbindlichen Rahmen definieren, welche Geschäftspraktiken erlaubt sind und welche nicht.
Beispielsweise bietet die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG Seminare an, bei denen Manager und Mitarbeiter anhand von Beispielen aus dem Unternehmensalltag selbst Wertvorstellungen für ihre Arbeit entwickeln. Beim Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé werden Mitarbeiter von Anwälten geschult, um Verstrickungen in Kartelle zu verhindern.
Moral, Werte, Vertrauen - das soziale Gerüst stellte früher die Gesellschaft den Unternehmen zur Verfügung. Kostenlos.
Heute müssen Unternehmen in diese Faktoren investieren.
"Moral", mahnt Ex-BMW-Chef Joachim Milberg, "ist eine Grundvoraussetzung für unternehmerischen Erfolg."
Korruption: Wie Bestechung die Wirtschaft abwürgt Umfrage: Sozialklima als ökonomischer Faktor