Sanierungsfall Deutschland Die Bildungsmisere
Wenn Peter Heinrich Führungsnachwuchs für die Medigene AG sucht, schickt er seine Personalfachleute an die US-Ostküste. Auf den Jobmessen der Harvard University und des Massachusetts Institute of Technology wirbt das Biotech-Unternehmen gezielt um deutsche Heimkehrer.
Die jungen Leute, die nach ihrer Promotion in der Heimat einen aussichtsreichen Posten suchen, verfügen über einen entscheidenden Vorteil: Sie haben neben dem Forschen auch das Denken in wirtschaftlichen Dimensionen gelernt sowie die Zusammenarbeit mit Unternehmen.
Vielen Absolventen deutscher Unis fehlen diese Fähigkeiten - für Heinrich "Grundvoraussetzung für jede Führungsposition".
Auch Erwin Staudt vermisst bei deutschen Hochschulabsolventen Basisqualifikationen. "Fachlich sind die meisten Bewerber tadellos", sagt der Vorsitzende der Geschäftsführung von IBM Deutschland. "Doch sie sind kaum gewohnt, im Team zu arbeiten."
Eine weitere Schwäche kommt hinzu: Das deutsche Bildungssystem vermittelt zu wenig Medienkompetenz, also den zielgerichteten Umgang mit Multimedia und Online-Angeboten - eine Voraussetzung für die Fähigkeit zu lebenslangem Lernen.
Zwar bemühen sich die Unternehmen, die sich der Initiative D 21 angeschlossen haben, möglichst viele "Schulen ans Netz" zu bringen: Die Telekom stellt Leitungen kostengünstig zur Verfügung, AOL bietet billige Web-Zugänge.
Doch eine aktuelle Delphi-Studie im Auftrag der Cornelsen-Stiftung fand bei deutschen Schul- und Hochschullehrern eine noch immer erhebliche Ignoranz gegenüber digitalen Techniken, eine noch immer beachtliche Skepsis gegenüber dem "Moloch Medium".
Wie wichtig Medienkompetenz heutzutage ist, zeigen die Ergebnisse der Pisa-Studie. Beim weltweiten Vergleich der OECD schnitten die Schüler jener Länder am besten ab, in denen es viele Internet-Anschlüsse gibt, in denen zumindest die Web-Nutzung in den Schulen weiter verbreitet ist als hier zu Lande: Finnland, Japan, Südkorea und Australien.
Auf höheren Altersstufen, etwa bei der Fortbildung von Führungsnachwuchs, leistet das deutsche Bildungssystem noch weniger, als die empörtbetroffenen Schlagzeilen nach der Pisa-Studie wiedergaben. In Deutschland, das zeigen weitere Analysen der OECD, herrschen Bildungsträgheit, -unmut und -verweigerung.
Was sich ändern muss
Nur 20 Prozent der 40- bis 44-jährigen Arbeitnehmer absolvieren pro Jahr eine Maßnahme zur beruflichen Weiterbildung. Von den Dänen dieser Altersgruppe machen das rund 70 Prozent. Jenseits des 50. Lebensjahres sinkt die Bildungsbereitschaft der Deutschen auf unter 5 Prozent - ein Alter, in dem noch 60 Prozent der Schweden büffeln.
Eine Ursache der Misere, so die Bertelsmann-Stiftung bei ihrer Interpretation der OECD-Zahlen, ist die niedrige Bildungsrendite. Das heißt: Wer sich in Deutschland weiterqualifiziert, erzielt durchschnittlich nur ein um 5,6 Prozent höheres Jahreseinkommen. In den USA sind es fast 25 Prozent.
Das muss sich ändern
- Bildung und Bildungsbereitschaft müssen sich wieder lohnen. Gefordert ist nicht nur die Politik, die an Schulen und Hochschulen für attraktivere und effizientere Lehrpläne sorgen muss. Auch die Unternehmen sollten ihre Mitarbeiter strenger nach Qualifikation bezahlen: Wer sich fortbildet, muss deutlich mehr verdienen.
- Die Ausbildungsgänge müssen internationaler werden. Auslandssemester und -praktika gehören zum Pflichtprogramm aller Studenten.
- Die Lehr- und Arbeitsformen an deutschen Hochschulen müssen grundlegend geändert werden: weg vom Einzelkämpfertum, hin zu Teamarbeit; weg von theoretischen Erwägungen, hin zu praktischen Problemlösungen und strategischem Denken.
- Forschung und Lehre gehören weiter entkoppelt. Deutsche Universitätsprofessoren müssen ihren Studenten weniger Wissenschaft und mehr praktische, berufsorientierte Fähigkeiten vermitteln. Die Suche nach Antworten auf akademische Spezialfragen bleibt wichtig. Die Diskussion der Ergebnisse sollte jedoch auf den Fachkongressen der Grundlagenforscher stattfinden, nicht im Proseminar.
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