Manager des Jahres 2001 Otto-Motor
Michael Otto ist selbst schuld, dass er hier sitzen muss. Er hat sich wieder mal breitschlagen lassen. Der Anruf kam, als sein PR-Berater im Urlaub war. Der hätte ihn vielleicht noch zurückgehalten. Otto aber überschlief die Sache und nahm an. Jetzt ist er um den Titel "Olympiabeauftragter der norddeutschen Wirtschaft" reicher. Und ein paar freie Abende ärmer.
Der Hamburger Senat hat auf einen Raddampfer geladen. Es gilt, das Nationale Olympische Komitee zu beträllern. Die Herren der Ringe weilen gerade in der Stadt, eine günstige Gelegenheit für den Aspiranten der Spiele von 2012.
Otto, der Eroberer, versieht seinen Dienst am Ehrentisch gleich neben dem Kommissionspräsidenten. Er preist den Sportsgeist der Hanseaten; gibt sich als Mitglied der Betriebssportgruppe zu erkennen; lockt, vom olympischen Dorf in spe sei die Innenstadt fußläufig erreichbar.
Der Empfang schwappt zwischen mondän und wurstig. Gut gemeinte Showeinlagen wechseln mit Ansprachen. Bürgermeister Ole von Beust überreicht den "Ritzebüttler Portugaleser", eine silberne Trophäe, die gewiss niemand als Bestechung auslegen wird.
Amüsiert er sich? Otto bleibt ehrlich. Ein solcher Abend, bekennt er, sei vor allem Pflicht. "Aber wenn ich schon mal hier bin, mache ich das Beste daraus." Da hat der Mann, ganz nebenbei, eine Art Lebensmotto ausgesprochen.
Michael Otto ist einer, der sich bereitwillig Verantwortung auflädt, ob gesellschaftlich oder geschäftlich. Schon als junger Mann übernahm er eine schwere Aufgabe. Er trat, peu à peu, die Nachfolge seines Vaters an. Werner Otto, Urbild eines Gründers, hatte aus kargen Anfängen ein großes deutsches Versandhaus aufgebaut. Sein ältester Sohn bewahrte das Erbe mit Sorgfalt - er vervielfachte es. Aus dem Otto Versand wurde ein Weltkonzern. Aus der Bürde eine angenehme Last.
Fest tritt er auf, beinah zackig. Solider Händedruck, eine kräftige Stimme. Etwas indes fehlt Michael Otto. Wer ihm mit hoher Erwartung zum ersten Mal begegnet, mag enttäuscht sein. Von der Aura der Macht ist beim weltgrößten Versandhändler herzlich wenig zu spüren. Er spricht seltsam hastig, als suche er Halt im Tempo - wie einer, der im Laufschritt über ein schmales Brett prescht.
Der Kaufmann, obgleich fast zwei Meter groß, verbreitet Normalmaß. Das lädt zu Verwechslungen ein. Horst Janssen, der berühmte Zeichner, lief Otto und seiner Frau Christl einmal in einem Restaurant über den Weg. "Um Gottes willen", soll Janssen gefeixt haben, "was will eine so schöne Frau mit einem Handelsvertreter?" Der Künstler hatte seinen wichtigsten Sammler einfach nicht erkannt.
Der bescheidene Milliardär
Anderen, der Mehrheit vermutlich, gefällt Ottos Understatement, diese "selbstbewusste Bescheidenheit", die Michael Naumann, ehemals Kultur-Staatsminister, seinem alten Studienkollegen attestiert. "Selten", schwärmt ein Sportfunktionär, habe er einen wie Otto erlebt, "der trotz seines Riesenerfolgs einfach normal geblieben ist".
Die Bescheidenheit wurzelt in seiner Jugend. Michael Otto, der Milliardär, einer der reichsten Deutschen, hat Not erlebt.
Seine früheste Erinnerung stammt aus dem Jahr 1945. Da war er erst zwei Jahre alt. Es muss eine Menge passieren, sagen Psychologen, wenn schon in diesem Alter Erlebnisse haften bleiben. In der Tat: Die Ottos mussten gegen Kriegsende aus ihrer Heimat Westpreußen fliehen. Die Familie kam ins Auffanglager, wurde dann in Bad Segeberg, nördlich von Hamburg, zwangseinquartiert - Oma, Vater, Mutter, der kleine Michael und seine zwei Jahre ältere Schwester, alle in einem Zimmer.
"Das geht einem nicht mehr aus dem Kopf", sagt Ingvild Goetz, Ottos große Schwester. Die Nachbarskinder hätten sie und ihren Bruder verspottet wegen ihrer schlechten Kleidung und ihres fremden Tonfalls (von dem heute nichts mehr zu hören ist). "Polacken" habe man ihnen in der Schule nachgerufen.
Der Vater arbeitete hart an einem Neuanfang. 1948, kurz vor der Währungsreform, kaufte er vom letzten Geld ein Grundstück und zwei Baracken in Hamburg-Schnelsen. Werner Otto zog eine kleine Schuhproduktion auf. Doch als 1949 die westdeutschen Zonengrenzen fielen, drängte bessere Ware aus den klassischen Lederstädten im Süden auf den Markt. Da beschloss Werner Otto, mit den Schuhen der anderen zu handeln - per Versand.
Der Sohn stand seinem Vater von Anfang an geschäftlich zur Seite. "Ich erinnere mich noch gut", erzählt er, "wie wir damals über die Felder stapften, um das Grundstück in Schnelsen zu suchen." In den Ferien jobbte Michael in der Packerei. Zu Weihnachten hielt er die Festansprache vor den Mitarbeiterkindern, eine Pein für den Jungen, "aber mein Vater bestand darauf".
Die Eltern trennten sich nach sieben Jahren Ehe. Michael und Ingvild wuchsen bei der Mutter auf, hielten aber engen Kontakt zum Vater. Die Kinder wurden knapp gehalten. An Extras, Taschengeld gar, war nicht zu denken. Alles wollten die Eltern, nur keine verwöhnten Blagen.
Der Otto Versand gedieh prächtig. Ihr Unternehmen wären die Ottos heute womöglich trotzdem los - hätte der Gründer nicht ein Menetekel im Jahr 1962 richtig verstanden. Eines unscheinbaren Tages klappte er zusammen. Ein Kollaps, hieß es erst. Dann: ein Herzinfarkt. Er begriff, dass er den Betrieb nicht länger als Alleinherrscher führen konnte.
Den Sohn hätte Werner Otto am liebsten gleich nach dem Abitur für den Betrieb gekeilt. Doch der mochte kein Geschenk. "Ich wollte erst einmal selbst etwas aus mir machen."
"Bewahrer und Entwickler"
Er ging nach München, absolvierte eine Banklehre, studierte Volkswirtschaft, promovierte. In München traf er seine große Liebe Christl, Studentin an der Meisterschule für Mode. 1968 heirateten sie.
Der fleißige Student entdeckte seine politische Ader. Er demonstrierte gegen den "Bildungsnotstand", den Muff von tausend Jahren. Und er begann eigene Finanzgeschäfte.
Mit 28 Jahren, 1971, trat der Junior schließlich in den Otto-Vorstand ein. Den Vorsitz hatte Werner Otto schon fünf Jahre zuvor an den familienfremden Manager Günter Nawrath abgetreten, wohl auch, um dem Sohn die ständige Konkurrenz mit dem Vater zu ersparen.
Zehn Jahre darauf, 1981, wurde Michael Otto Chef. Der Konzern setzte damals rund 5,5 Milliarden Mark um. Heute liegen die Einnahmen gut achtmal so hoch.
"Dieser Wechsel der Temperamente, von meinem Vater zu meinem Bruder, das war ein seltener Glücksfall", glaubt Ingvild Goetz. Die Abfolge sei ideal gewesen. Der Vater, ganz Pionier, sei vorgeprescht, "ungeheuer emotional" zu Haus und im Geschäft; einer, der aus dem Bauch entscheidet "und natürlich öfter mal in die Irre läuft". In ihrem Bruder hingegen sieht sie den "Bewahrer und Entwickler", einen mit kühlem Kopf. "Der hat schon als Kind alle Seiten abgewogen."
Otto, der Stratege, verordnete dem Unternehmen den Aufbruch in alle Welt. In der kannte sich der junge Chef bereits bestens aus. Schon mit 16 hatte ihn der Vater mit auf Geschäftsreise nach England genommen. Später unternahmen beide auch Vergnügungsfahrten. Werner Otto blickt gern zurück, wie Michael und er einmal drei Wochen lang kreuz und quer durch Chile geritten sind. "Es war herrlich", schwelgt der 92-Jährige, der heute in Berlin lebt.
Auf solchen Touren kamen Vater und Sohn einander nah. Aus dem Patriarchen wurde ein väterlicher Freund.
Michael Otto hat nichts gemein mit den Versandhaus-Größen von gestern, mit Josef Neckermann oder der Quelle-Eminenz Grete Schickedanz. Die hielten sich für unentbehrlich, wollten überall bestimmen bis ins kleinste Detail des Katalogs.
Otto vertraut seinen Leuten. Hört auf ihren Rat. Meistens jedenfalls. So konservativ der Bekenntnis-Hanseat auftritt - ein wenig vom Geist der 68er lebt in ihm weiter. "Er ist ein Kind jener Generation", seziert sein Freund Michael Naumann, "in der wir alle der Meinung waren: Wenn wir lange genug miteinander sprechen und uns zuhören, dann kommt die Wahrheit heraus."
Der Chef sucht das Gespräch. Ohne Scheu, berichten Angestellte, mische er sich unter seine Mitarbeiter - ob beim Volleyball (immer montags um halb sieben), beim Plausch auf dem Gang oder in den vielen Arbeitsgruppen, die neue Ideen vorantreiben.
Der Teamgeist verschafft ihm Freiraum. Für sein soziales Engagement. Und fürs Private. "Wenn ich in Urlaub fahre, dann immer mehrere Wochen am Stück", sagt Otto, "und ich nehme garantiert keine Akten mit."
Ehrgeiz und Familiensinn
Was Michael Otto zur Arbeit treibt, ist tief sitzender Ehrgeiz - und ein gehöriges Maß Familiensinn. Die Ottos, sagen Eingeweihte, halten zusammen wie ein Clan, trotz höchst unterschiedlicher Charaktere. Alle profitieren von der Fortüne des Versandhauschefs, denn alle sind über einen Beteiligungsfonds Miteigentümer des Otto Versands. Geschäftlich gehen sie dennoch getrennte Wege. Ingvild Goetz betreibt in München eine Galerie für moderne Kunst.
Frank Otto, Spross der zweiten Ehe Werner Ottos, ist nach wilden Jahren als Schlagzeuger ins Medienfach eingebogen, unter anderem als Haupteigner der "Hamburger Morgenpost".
Alexander Otto, Sohn aus dritter Ehe, managt die Einkaufscenter- und Bauträgergesellschaft ECE, die Werner Otto unabhängig vom Otto Versand seit den 60er Jahren aufgebaut hat. Katharina, ebenfalls aus der dritten Ehe, lebt als Filmemacherin in den USA. Michael Otto kann das Versandhaus ohne Familienzwist führen. Und wird für die Nachfolge wohl seinen Sohn auswählen.
Der kühle, ehemals Blonde ist schwer aus der Reserve zu locken. Doch wehe, die Rede kommt auf Jack Welch, den hoch gelobten, angeblich "härtesten Manager der Welt". Dann springt Otto regelrecht an. "Ich bin der Meinung" - jetzt verlässt ihn das Joviale -, "dass ein Manager nicht dadurch glänzt, wie viele Mitarbeiter er entlassen hat, sondern dadurch, wie viele Arbeitsplätze er geschaffen hat."
Abrissunternehmer sind Michael Otto verhasst.
Otto, der Gute, düpiert die kniepigen Pfeffersäcke seiner Heimatstadt. Er ist Multi-Mäzen aus Überzeugung, fördert und verteidigt Kunst und Kultur, die Wissenschaft, den Sport, vor allem aber die Natur. Der Konzernlenker hat Öko-Frevel wie Pelze und giftige Lacke schon vor Jahren aus dem Katalog verbannt. Er führt den Stiftungsrat der deutschen Sektion des Umweltverbands WWF. Seine eigene Stiftung nimmt Flüsse und Seen in Schutz.
Dabei belässt er es keineswegs bei Segenshandlungen. Otto, der durchaus dickköpfig sein kann, kämpft um seine Anliegen. So konnte er durchsetzen, dass die Oberelbe von einem wahnwitzigen Ausbau zur Wasser-Magistrale verschont blieb.
Otto will Vorbild sein. Von seinen leitenden Mitarbeitern erwartet er gesellschaftliches Engagement. "Es kann zwar nicht jeder Kanzlerberater werden", flachst er. Aber ein Ehrenamt in der Schulpflegschaft oder im Kirchenkreis solle drin sein.
"Wenn jeder nur einen Menschen bedenkt", zitiert ihn seine Schwester Ingvild, "dann wäre die Welt in Ordnung."
Einen nur? Damit ist Michael Otto gewiss nicht ausgelastet.
Qualifikationslauf: Wie die Juroren Michael Otto kürten
Zur Einleitung: "Manager des Jahres" 2001 Alle "Manager des Jahres" auf einen Blick