Beiersdorf Kulturschock
Die Beiersdorf AG blickt auf eine lange Tradition zurück. Bis zu 100 Jahre alt sind die erfolgreichsten Markenartikel des Hamburger Unternehmens. Produktnamen wie Leukoplast, Tesa-Film oder Nivea haben sich im Sprachgebrauch der Konsumenten längst zu Gattungsbegriffen entwickelt; einen schöneren Erfolg kann sich ein Hersteller kaum wünschen.
Kontinuität wahrte die Firma nicht nur bei ihren Erzeugnissen, sondern auch im Management. Von 1922, als Beiersdorf in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden war, bis heute standen nur sechs Manager an der Spitze der Firma.
Ebenso stabil der Eigentümerkreis. Seit 1952 ist die Allianz (38 Prozent) an Beiersdorf beteiligt, 1974 kam der Kaffeeröster Tchibo (26 Prozent) als Anteilseigner hinzu. Die Familie Claussen, Nachfahren eines Firmengründers, hält 17 Prozent.
Zur Beständigkeit gehört Harmonie. Die "Beiersdorfer", so der interne Sprachgebrauch, fühlen sich wie eine große Familie.
Drei Vorgänger des heutigen Vorstandsvorsitzenden Rolf Kunisch (57) gehen noch immer in der Hauptverwaltung ein und aus: Georg Wilhelm Claussen (86), 25 Jahre im Amt, dessen Nachfolger Hellmut Kruse (72), zehn Dienstjahre, sowie Hans-Otto Wöbcke (68), der auf eine für die Firmenmaßstäbe geradezu ungehörig kurze Amtszeit von nur fünf Jahren zurückblickt. Die ehemaligen Chefs verfügen in der Firmenzentrale über eigene Büros, solange sie wollen.
Bei Beiersdorf ist man auf Konsens und Ausgleich, auf Rücksichtnahme und sozialen Frieden bedacht. So gab es im Konzern noch niemals betriebsbedingte Entlassungen.
Eine Idylle. Die bringt freilich auch Nachteile mit sich. Veränderungen gedeihen in diesem Klima nur sehr langsam. "Revolutionen", so stellte Ex-Vorstandschef Wöbcke einst fest, "gibt es bei Beiersdorf nicht".
Unglücklicherweise. Denn fast hätte das Hängen am Althergebrachten die Firma in den Ruin getrieben.
Die Tesa-Sparte, heute die kleinste der drei Beiersdorf-Divisions, war seit den 80er Jahren immer tiefer in die roten Zahlen gerutscht. Die Tesa-Leute hatten das Kunststück fertiggebracht, trotz satter Marktanteile (bei Klebefilm in Deutschland über 70 Prozent) ihren Geschäftsbereich in die Verlustzone zu steuern.
Das Defizit der Sparte gefährdete die gesamte Firma, auch den schnell wachsenden und sehr gut verdienenden Cosmed-Bereich (Körperpflege) und die leidlich profitable Medical-Sparte (Wundversorgung, Bandagen).
Dem Konzern drohte die Zerschlagung. Die Großaktionäre diskutierten über eine Trennung von der dahinsiechenden Tesa-Sparte. Selbst ein Verkauf des gesamten Unternehmens schien plötzlich nicht mehr unwahrscheinlich.
Beiersdorf, mit gut sechs Milliarden Mark Umsatz im Weltmaßstab eher ein Winzling, galt und gilt als Übernahmekandidat. Wettbewerber wie die deutsche Henkel-Gruppe (20 Milliarden Mark), der französische Kosmetikkonzern LOréal (21 Milliarden Mark) oder der US-Gigant Johnson & Johnson (41 Milliarden Mark) bewegen sich in anderen Sphären.
Noch ist jedenfalls nicht entschieden, ob die Beiersdorfer mit ihrer heimeligen Firmenkultur als Einzelkämpfer überleben werden; ob sie nicht doch irgendwo unterschlüpfen müssen. Mismanagement wie in der Tesa-Sparte jedenfalls kann sich ein Unternehmen wie Beiersdorf vermutlich nur einmal leisten.
Immerhin: Der Niedergang und die Rettung der Tesa-Sparte lehrte die Hamburger, was zu tun ist, um als Nischenanbieter auf einem globalisierten Konsumgütermarkt zu bestehen.
Die Sanierungsschnitte stellten etwas völlig Neues dar in einer Unternehmenskultur, die mehr auf das Verdrängen als auf das Lösen von Problemen angelegt ist; mehr auf den Schutz als auf die Bestrafung von Schuldigen.
Fast zwei Jahrzehnte lang hatte eine Vielzahl von Rücksichten obwaltet auf die Führungskräfte, auf die Mitarbeiter, auf die Kunden, auf das Ansehen des Unternehmens. Immer gab es ein Argument, so weiterzumachen wie in der Vergangenheit.
Die Tesa-Leute glaubten lange Zeit, sich allein auf ihren hohen Marktanteil verlassen zu können. Werbung gab es kaum noch und auch keine Innovationen.
Statt dessen brachte die Firma immer neue Variationen der alten Erzeugnisse heraus. Allein das Stammprodukt, den transparenten Tesa-Film, gab es schließlich in vier Breiten, in fünf Rollenlängen, in fünf verschiedenen Materialien, in vier Verpackungsvarianten insgesamt in mehr als tausend Abarten.
Jeder Sonderwunsch der industriellen Kunden, vor allem der Automobilhersteller, wurde erfüllt. 40 000 verschiedene Tesa-Produkte befanden sich schließlich im Sortiment.
Zu allem Überfluß erwarb der zuständige Vorstand Kurt-Friedrich Ladendorf (57) Ende der 80er Jahre auch noch einen italienischen und einen amerikanischen Klebebandhersteller.
Das Werk in Italien verfügte, wie sich hinterher herausstellte, nicht einmal über eine Betriebsgenehmigung. Beiersdorf mußte erhebliche Summen investieren, bevor die Genehmigung erteilt wurde.
Schwierigkeiten gab es auch in den USA. Die in Tesa Tape Inc. umbenannte Tochter kam gegen die übermächtige Konkurrenz des Klebebandgiganten 3M nicht an. Dessen Marke Scotch ist für die Verbraucher im englischen Sprachraum ebenso ein Synonym für Klebefilm wie Tesa in den deutschsprachigen Ländern.
Vor allem die mißglückten Zukäufe führten dazu, daß sich der Aufsichtsrat Ende 1989 von Ladendorf trennte einer der wenigen Fälle, in denen ein Beiersdorf-Manager abgestraft wurde. Der neue Tesa-Vorstand Dieter Steinmeyer (50), der fast zeitgleich mit dem neuen Chef Wöbcke startete, trat ein schweres Amt an.
Aber trotz der offenkundigen Misere griffen beide nicht sofort durch. 1991 führte Steinmeyer in der Tesa-Division immerhin eine transparente Kostenträgerrechnung ein. Nun war es erstmals möglich, die Kosten verursachergerecht den einzelnen Produkten zuzurechnen.
Geringere Rendite als vom Postsparbuch
Es gab ein böses Erwachen. Daß das Industriegeschäft Verluste erwirtschaftete, hatten die Tesa-Manager geahnt. Doch nun stellten sie fest, daß sie auch im Geschäft mit den Endverbrauchern wenig erfolgreich waren.
Zu hoch waren die Komplexitätskosten für die Produktion vieler verschiedener Artikel, für das ständige Neueinrichten und die kurzen Laufzeiten der Maschinen.
Das Geschäft mit der Industrie wurde immer schwieriger. Besonders die Automobilhersteller drückten die Preise. Der Erlösverfall im Großkundengeschäft führte schließlich 1996 in der Tesa-Sparte zu einem Verlust von 30 Millionen Mark.
Nun erst griff der Vorstand durch. Produkt für Produkt, Geschäftsfeld für Geschäftsfeld wurde überprüft, ob es Wachstum und Gewinn brachte oder ob es aus anderen Gründen unverzichtbar war etwa um einen Großkunden nicht zu verprellen.
Überall dort, wo Wettbewerber 3M eine uneinholbare Marktposition besaß, zog sich Beiersdorf zurück. Das Tesa-Programm schrumpfte von ehemals 40 000 auf 8000 Produkte. Von 1000 Varianten Tesa-Film blieben 200.
Einen Umsatzrückgang um 15 Prozent hatten die Tesa-Leute nach diesem Schnitt einkalkuliert. Das entsprach dem Geschäft mit den 32 000 Artikeln, die aus dem Programm geworfen worden waren.
Tatsächlich aber sank der Umsatz 1998 bislang nur um 6 Prozent. Dies einerseits dank neuen, mit gewaltigem Werbeaufwand gepushten Produkten; andererseits dank neuentwickelten Selbstbedienungsdisplays zum Verkauf der gestrafften Bürobedarfs- oder Heimwerkersortimente.
Die Beschneidung der Komplexität führte zu einem Rückgang der Personalkosten. Mit nun 18 (nach zuvor über 20) Prozent vom Umsatz sieht Spartenvorstand Steinmeyer die Arbeitskosten nicht mehr als Problem an.
In Deutschland werden 600 Arbeitsplätze abgebaut. Das funktioniert, so Steinmeyer, getreu der Beiersdorf-Tradition ohne betriebsbedingte Entlassungen. Hierfür sorgen großzügige Abfindungen.
Daß die Tesa-Sanierung viel Geld kosten würde, war den Großaktionären von vornherein klar gewesen. Doch ihnen blieb kaum eine Wahl angesichts der Tatsache, daß die Sparte den Eignern seit Anfang der 80er Jahre "weniger Rendite als ein Postsparbuch" (Steinmeyer) gebracht hatte.
So unterstützten die Kapitalvertreter im Aufsichtsrat, Diethart Breipohl (59), im Hauptberuf Finanzvorstand der Allianz, und Tchibo-Miteigentümer Günter Herz (58), die Sanierung vorbehaltlos. Es konnte nur noch besser werden.
Das Kontrollgremium unter Vorsitz von Hans Meinhardt (67), dem früheren Linde-Chef, bewilligte 200 Millionen Mark für die Restrukturierung; nach Steuern sollte sich die Belastung auf 100 Millionen Mark reduzieren.
Braucht der Konzern wirklich drei Sparten?
Mit fast genau diesem Betrag, nämlich mit 105 Millionen Mark, wirkten sich die Maßnahmen auf das 1997er Ergebnis aus. "Eine Punktlandung", freut sich Vorstandschef Kunisch.
Die Tesa-Sparte scheint saniert zu sein. Ist sie damit reif für einen Verkauf? Kunisch drückt sich vor einer klaren Aussage: "Diese Frage wird sich immer neu stellen."
Sie muß vor allem unter dem Aspekt beantwortet werden, welche Unternehmensbereiche den Beiersdorfern dauerhaft Wachstum und eine profitable Eigenexistenz ermöglichen. Brauchen die Hamburger drei Standbeine, die Tesa-Sparte, den Medical- und den Körperpflegebereich Gesalbt und bandagiert? Oder ist es vernünftiger, sich auf zwei Bereiche zu konzentrieren?
Ohne Probleme sind auch die beiden anderen Sparten nicht, die ebenfalls mit starken Marken auftrumpfen können.
Die Medical-Abteilung stellt neben Heftpflastern (Hansaplast) und medizinischen Salben (Eucerin) Bandagen (Tricodur) zur Ruhigstellung von Gelenken her. Ein höchst zukunftsträchtiger Geschäftsbereich in Zeiten, da der Selbstmedikation ein immer höherer Stellenwert zukommt.
Da fangen die Probleme aber auch schon an. Denn die Beiersdorf-Produkte sind meist bis hin zur Perfektion entwickelt und entsprechend teuer.
Seitdem die Krankenhäuser sparen müssen, seitdem Kassenpatienten für Bandagen 20 Prozent des Kaufpreises selbst bezahlen müssen, ist das Geschäft schwieriger geworden.
Viele Ärzte verschreiben auf Wunsch ihrer Patienten nicht mehr die teuren Beiersdorf-Bandagen, sondern einfache Produkte, die ihren Zweck aber fast ebensogut erfüllen. Wer ohne Rezept in die Apotheke geht, greift ohnehin gleich zur preiswerten Alternative.
Ein starker Markenname wird ausgebeutet
Aus diesem Grund erwarb Medical-Chef Hans Meyer-Burgdorf (57) 1995 einen amerikanischen Hersteller namens Futuro Inc. Das weniger komfortable Gesundheitssystem in den USA erforderte seit jeher kostengünstige Lösungen, entsprechend ist das Know-how der dortigen Fabrikanten. Unter der Marke Futuro bringt Beiersdorf diese Billigvarianten nun auf den deutschen Markt.
Die Medical-Sparte erwirtschaftet eine Umsatzrendite von etwa 7 Prozent vor Steuern nicht schlecht, aber deutlich unter den 11 Prozent der Cosmed-Division.
Die stellt das Kernstück der Beiersdorf AG dar. Die 86 Jahre alte Marke Nivea ist das wertvollste Gut des Unternehmens; mit fast drei Milliarden Mark bringt sie beinahe die Hälfte des Beiersdorf-Umsatzes ein und Dreiviertel des Gewinns.
Von allen Aktivitäten des Konzerns wächst die Cosmed-Sparte am schnellsten, 1997 mit mehr als 11 Prozent. In vielen Ländern und in etlichen Produktgruppen wie Haut- und Haarpflege, Sonnenschutz und Deodorants ist Nivea überlegener Marktführer.
Spartenchef Uwe Wölfer (55), seit 1994 im Amt, setzte die Politik seiner Vorgänger fort: unter der Dachmarke Nivea behutsam immer neue Produkte anzusiedeln (mm 2/1996).
In den 80er Jahren kam zu den Hautpflegeprodukten eine Haarpflegeserie unter der Marke Nivea. 1991 wurden Nivea-Deodorants eingeführt. 1996 folgte der nicht ungefährliche Schritt von der pflegenden zur dekorativen Kosmetik, zu Lippenstiften, Nagellack und Wimperntusche.
Bisher gibt der Erfolg den Marketingexperten recht. In Frankreich und Belgien hat die Serie unter dem Namen "Nivea Beauté" bereits gute Marktanteile erreicht. In Deutschland, wo das Sortiment erst Anfang 1998 eingeführt wurde, seien die Zahlen vielversprechend, sagt Wölfer.
Doch wie weit können die Beiersdorfer die Dachmarke Nivea mit immer neuen Produkten belasten? Markenstrategen warnen, im Ansehen der Verbraucher könne jene Kompetenz verwässern, die Nivea zweifellos im Bereich Körperpflege besitzt.
Konzernchef Kunisch sieht diese Diskussion als "hochgradig theoretisch" an. Bisher ist den Cosmed-Leuten ja auch fast jede Markteinführung geglückt bis auf ein paar Flops, wie sie jedem Markenartikler unterlaufen.
So etwa das 8x4-Deo in einer Spraydose, die aus Altpapier hergestellt war. Während Beiersdorf noch Preise für die ökologische Tat und für den zugehörigen Werbespot bekam, war das Produkt längst wieder vom Markt. Die Verbraucher hatten sich mit der Pappdose nicht anfreunden mögen.
Die Cosmed-Sparte setzt nicht nur auf neue Produkte. Sukzessive dringen Nivea & Co. nach Osteuropa vor. Wölfer: "Das hat für uns oberste Priorität."
In Polen mußte die Firma erst einmal die im Krieg verlorenen Markenrechte für Nivea zurückkaufen. Jahrzehntelang hatte ein volkseigener Betrieb "Nivea-Krem" fabriziert. Inzwischen hat Beiersdorf für 130 Millionen Mark 80 Prozent des Unternehmens erworben. Von dort aus will Beiersdorf Osteuropa erobern.
Kann Beiersdorf allein überleben?
"Wachstum, Wachstum und nochmals Wachstum" (Aufsichtsratsvorsitzender Meinhardt) ist von lebenswichtiger Bedeutung. Nicht nur für die Cosmed-Sparte, sondern für das gesamte Unternehmen.
Noch so starke Marken, ein noch so harmonisches Miteinander nützen auf Dauer nichts, wenn die Markenartikelgiganten der Welt ihre Finanzkraft gegen einen mittelgroßen Konkurrenten wie Beiersdorf einsetzen.
Bleibt dem Hamburger Unternehmen langfristig also nur das Zusammengehen mit einem der Großen? Kunisch sieht das völlig anders. "Wir wachsen dynamisch", sagt er, "gerade weil wir klein sind."
Und die Marke Nivea in einer anderen Unternehmenskultur als in der von Beiersdorf mag er sich schon überhaupt nicht vorstellen. "Nivea", so gibt er zu bedenken, "wäre in der Hand eines Übernehmers nicht mehr das, was sie jetzt ist." Sie hätte in einem großen Konzern einen geringeren Stellenwert und deshalb auch geringeren Erfolg.
Durchhalteparolen? Der Beiersdorf-Chef weiß genau, daß etliche Konkurrenten sich die Hamburger Markenartikelfirma gern einverleiben würden. Aber, so beruhigt er sich selbst, "zu einem Verkauf gehören immer zwei Käufer und Verkäufer".
Bisher hat sich Kunisch auf die Großaktionäre, die Allianz, die Firma Tchibo und die Familie Claussen, verlassen können. Doch wie lange gilt das? Einen zweiten Fall Tesa darf sich das Management jedenfalls nicht leisten.
Gesalbt und bandagiert: Stärken und Schwächen des Beiersdorf-Konzerns