Denken Warum Stil eine Frage der Moral ist

Stilfragen: Auf dem Cover seines jüngsten Albums "Ich bin der eine von uns beiden" posierte der Sänger, Komponist und Produzent Andreas Dorau feinsinnig neben einer Wildsau, montiert in ein manieristisches Gemälde.
Foto: AP / MuteAngenommen, ein Unternehmen kündigt einem langjährigen, verdienten Mitarbeiter, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Stellen wir uns zwei Szenarien vor. Im ersten gibt es ein ausführliches Gespräch, man dankt dem Mitarbeiter für die geleistete Arbeit und wünscht ihm alles Gute für die Zukunft. Im zweiten Fall hingegen fordert man den Gekündigten im Befehlston auf, binnen einer Stunde das Büro zu räumen, zugleich werden schon mal Chipkarte und Mobiltelefon gesperrt. Kein Wort des Dankes, nichts.
Im ersten Fall würden wir wohl meinen, das Unternehmen habe sich einigermaßen korrekt verhalten. Die Kündigung bleibt zwar eine Kündigung, aber immerhin hat man eine gewisse Form gewahrt. Der zweite Fall hingegen empört wohl die meisten von uns. Wir würden sagen: Das war ganz schlechter Stil.
Unter Stil verstehen wir zunächst eine äußere Form, eine Fassade, die wir unserem Leben geben. Wir sprechen von Kleidungs-, Arbeits- oder Lebensstilen so wie von verschiedenen Stilen in Kunst und Architektur. Etymologisch gesehen bedeutet der Begriff eine Eigenart des sprachlichen Ausdrucks, er geht zurück auf das lateinische Wort "stilus" (Griffel).
Im heutigen Sprachgebrauch verwenden wir den Begriff einerseits auf deskriptive, also beschreibende Weise. Wir sagen, jemand habe einen bestimmten Stil, also etwa eine Art, sich zu kleiden. Oft hat der Begriff aber auch eine normative, wertende Komponente. Wenn wir sagen, jemand habe "Stil", dann meinen wir das in einem anerkennenden, respektvollen Sinn. Wir verbinden damit Attribute wie Eleganz, Geschmack, Anstand und Würde.
Stil ist die Fassade unseres Lebens
Stilfragen halten wir oft für Formalien, also für bloße Äußerlichkeiten. Worauf es ankommt, das ist scheinbar, "was" wir tun, nicht "wie" wir es tun. "Guter Stil" gilt als Sekundärtugend ohne unmittelbare ethische Relevanz. Doch diese Sicht ist falsch. Es macht einen ethischen und moralischen Unterschied, wie wir etwas tun.
Der Begriff "Stil" hat, so möchte ich hier behaupten, neben der deskriptiven Komponente, die in unserer sozialen Lebenswelt verankert ist, auch eine ästhetische sowie eine ethisch-moralische Dimension. Alle drei Dimensionen sind untrennbar miteinander verbunden. Insofern handelt es sich bei "Stil" um einen "dicken" Begriff, der eine deskriptive und eine wertende Komponente hat (siehe Kasten links).
Man könnte sogar sagen, es handle sich um einen "fetten" Begriff, weil er ästhetische und ethisch-moralische Wertungen gleichermaßen einschließt. Mit anderen Worten: Stil verbindet unsere Lebenswelt mit dem Schönen und Guten, also mit der äußeren Form sowie der Frage, wie wir selbst leben und wie wir andere behandeln sollen. Aus dieser Überlegung lassen sich womöglich Ansätze zu einer "Ethik des Stils" gewinnen.
Schlechter Stil kann die moralische Qualität von Handlungen korrumpieren. Jemand könnte sich etwa großzügig erweisen, indem er einem Straßenbettler Geld gibt. Wenn er dem Bettler mit einer abschätzigen Geste ein Bündel Geldscheine vor die Füße wirft, womöglich vor den Augen der Passanten, dann ist das bestimmt schlechter Stil.
Form follows Moral
Auf den ersten Blick scheint das zwar nichts daran zu ändern, dass die Handlung als solche moralisch gut war. Immerhin hat der Bettler einen schönen Batzen Geld bekommen. Doch die Art und Weise, also der Stil, scheint eine Rolle spielen. Der Spender verletzt damit nicht nur die Würde des Bettlers, sondern auch die seiner eigenen Person.
Ähnlich verhält es sich, wenn man jemandem ein Geschenk macht, aber keinen Wert darauf legt, das Geschenk auch zu verpacken. Das Geschenk bleibt natürlich das gleiche. Aber der Schenkakt als solcher drückt eine gewisse Achtlosigkeit aus. Man hat zwar ein womöglich teures Geschenk gekauft, aber eben keinen Wert darauf gelegt, es dem Beschenkten auch stilvoll zu präsentieren. Der formale Mangel der Handlung verdirbt gleichsam ihren moralischen Gehalt.
Schlechter Stil kann Menschen demütigen. Aber es ist nicht bloß Stillosigkeit, einen langjährigen Mitarbeiter aufzufordern, binnen zwei Stunden das Büro zu räumen oder eine Beziehung per SMS zu beenden. Der "schlechte Stil" drückt Mangel an Respekt aus. Er attackiert die Würde und den Stolz der anderen Person.
Von einem Menschen mit "Stil" erwarten wir, dass er soziale Regeln und Konventionen respektiert - und dass er weiß, wie man sich in einer bestimmten Situation angemessen verhält. Insofern steht Stil in einer gewissen Beziehung zu unseren Umgangsformen. Höflichkeit bedeutet zunächst einmal nicht mehr - allerdings auch nicht weniger - als die Unterordnung unter geltende Konventionen des guten Benehmens.
Auch Verbrecher können höflich sein
Niemand würde ernsthaft bestreiten, dass guter Stil ein Minimum an Höflichkeit verlangt. Wer sich ständig daneben benimmt, wer andere beleidigt oder öffentlich bloßstellt, kann vielleicht charismatisch oder amüsant sein. Aber Stil hat er nicht, jedenfalls keinen guten. Höflichkeit und gutes Benehmen reichen allerdings noch nicht für guten Stil. Höflich konnten auch die schlimmsten Naziverbrecher sein.
Von gutem Stil fordern wir ein gewisses Maß an Achtung und Respekt gegenüber anderen. Im Fall von schweren Gewaltverbrechen lässt sich der Begriff "Stil" gar nicht mehr sinnvoll anwenden. So kann man sicherlich niemanden auf stilvolle Weise umbringen. Wenn Hannibal Lecter im Film "Das Schweigen der Lämmer" zu den Klängen der Goldberg- Variationen, mit umgebundener Stoffserviette, seine Opfer verspeist, dann entspricht das zwar gehobenen Tischsitten. Guter Stil ist es nicht.
Eine "stillose" Person muss kein böser Mensch sein. Aber wir attestieren ihr in der Regel doch ein gewisses ethischmoralisches Defizit, das uns tadelnswert erscheint. Wenn jemand hingegen Stil hat, lassen wir ihm manches durchgehen, weil wir ihm konzedieren, er oder sie habe "wenigstens Stil". Bei einem eleganten Juwelendieb, der seine Beute mit Bedürftigen teilt, würden wir moralisch vielleicht sogar darüber hinwegsehen, dass es sich eigentlich um einen Kriminellen handelt.
Eine Person mit Stil muss sich nicht immer tugendhaft verhalten. Aber wir erwarten wohl, dass sie sich einigermaßen anständig benimmt - und dass sie dort, wo sie es nicht tut, wenigstens eine gewisse Haltung zeigt. Und sei es nur, dass sie zu dem steht, was sie getan hat. Uli Hoeness mag kein moralischer Mensch sein. Aber dass er seine Gefängnisstrafe ohne Berufung - und ohne Jammern - akzeptiert hat, zeugt zumindest von einem gewissen Stil. Umgekehrt kann man schwerlich ein tugendhafter Mensch sein, ohne auch nur den Funken von Stil zu besitzen.
Guter Stil erfordert die Achtung der eigenen Würde
Guter Stil erfordert aber nicht nur Respekt für andere, sondern auch die Achtung der eigenen Würde. Indem wir unseren Stil kultivieren, erschaffen wir auch unser Selbst. Wir können schwerlich ein gelingendes Leben führen, ohne auf seine äußere Form zu achten. Indem wir die Form wichtig nehmen, zeigen wir auch, dass uns der Inhalt wichtig ist. Darin liegt die tiefere, ethische Dimension von scheinbar reinen Geschmacksfragen wie Wohnungseinrichtung oder Kleidung.
Wer sich nachlässig kleidet oder seine Wohnung verkommen lässt, zeigt damit nicht nur, dass es ihm egal ist, wie er auf andere wirkt. Es fehlt ihm auch an Selbstrespekt. Nicht zu Unrecht meinte schon Adolph Freiherr Knigge, man solle auch "im Verborgenen nichts tun, dessen man sich schämen müsste, wenn es ein Fremder sähe." In unserer sozialen Welt können wir wissen, was guter und schlechter Stil ist. Denn in Stilfragen orientieren wir uns an Normen und Konventionen, etwa an Geboten der Höflichkeit.
Zum Beispiel wissen wir, dass es schlechter Stil ist, andere zu beleidigen, sie öffentlich bloßzustellen oder jemanden, den man eingeladen hat, ohne guten Grund wieder auszuladen. Das wissen wir aber nicht deshalb, weil wir wüssten, was guter Stil in einem metaphysischen Sinn ist, sondern weil wir wissen, wie wir den Begriff in unserer Gesellschaft richtig verwenden.
Eine Ethik des Stils geht weder von unbedingten Pflichten aus, noch beurteilt sie Handlungen ausschließlich nach deren Konsequenzen. Vielmehr nimmt sie an, dass wir in der Lage sind, in unserer sozialen Welt "guten" von "schlechtem" Stil zu unterscheiden - und danach zu handeln.
Haltung und Geschmeidigkeit
Nehmen wir ein alltägliches Beispiel. Sicherlich ist es ehrlich, einem Gastgeber wahrheitsgemäß zu erklären, dass das Essen furchtbar geschmeckt hat. Aber es ist auch unhöflich und "stillos". Eine kleine Lüge oder Halbwahrheit wäre sicherlich taktvoller gewesen. Und ein guter Stilist könnte sie zweifellos so geschickt formulieren, dass sich der Gastgeber nicht gekränkt fühlt und trotzdem merkt, dass das Essen nicht perfekt war.
Sicherlich bleibt es eine Lüge oder jedenfalls eine Irreführung. Aber der "Stilethiker" könnte immerhin argumentieren, dass er situativ angemessen reagiert habe, während es schlicht deplatziert gewesen wäre, eine wahrhaftige Kritik zu äußern - und den Gastgeber damit ernsthaft zu beleidigen.
Zu stilvollem Verhalten sind wir nicht verpflichtet, wie wir verpflichtet sind, ein Versprechen zu halten. Es ist allerdings etwas, das andere in bestimmten Situationen von uns erwarten. Guter Stil ist daher mehr als die Disposition, bestimmten Regeln zu folgen. Vielmehr kommt es darauf an zu wissen, wie man auf eine bestimmte Situation angemessen reagiert.
Guter Stil braucht Fingerspitzengefühl, Haltung - und eine gewisse Geschmeidigkeit. Der gute Stilist passt sein Verhalten flexibel an. Das heißt nicht, dass er keine Pflichten kennt. Aber er fühlt sich keinen starren Regeln verpflichtet, sondern nur anderen Menschen und sich selbst. Durch stures Befolgen von Normen und Konventionen wird man allenfalls ein zwanghafter Spießer und Konformist. Der gute Stilist hingegen macht sich Normen und Konventionen, die seinem ästhetischen und ethischen Empfinden entsprechen, bewusst zu eigen - und integriert sie gleichsam in sein Selbst, in seinen persönlichen Stil.
Der Stilist ist ein liberaler Ironiker
Von gutem Stil erwarten wir Individualität und Authentizität, eine gewisse Aufrichtigkeit in dem Sinne, dass jemand sich zu seinem Stil bekennt. Dabei lebt der Stilist immer im Bewusstsein, dass sich sowohl gesellschaftliche Normen als auch seine persönlichen Überzeugungen, was guter Stil ist, verändern können. Er bleibt offen für Kontingenz.
Das bedeutet allerdings nicht, dass er sein Fähnchen nach dem Wind hängt, ganz im Gegenteil. Der Stilist geht nämlich von der unverrückbaren Überzeugung aus, dass wir andere Menschen und uns selbst nicht demütigen dürfen. Insofern ist er ein "liberaler Ironiker", wie ihn der amerikanische Philosoph Richard Rorty (1931-2007) definiert hat.
Der Stilist findet es verwerflich, andere Menschen schlecht zu behandeln. Allerdings kann er keine letzte Begründung dafür liefern, warum es verwerflich ist. Denn er kann auf keine Metaphysik zurückgreifen, die ihm sagen könnte, was guter Stil "wirklich" ist, also unabhängig von herrschenden Normen und Konventionen. In seinen normativen Überzeugungen bleibt er ganz auf dem Boden seiner jeweiligen sozialen Welt, an deren Regeln und Konventionen er sich bindet.
Nun könnte man dem Stilisten vorhalten, dass er in moralischen und ethischen Fragen ziemlich subjektiv ist, weil er keine unbedingten Verpflichtungen kennt, sondern letztlich doch das tut, was er in einer bestimmten Situation für angemessen hält. Der Stilist kann diesem Vorwurf nur entgehen, indem er Wahrheit und Wahrhaftigkeit ernst nimmt - und seinem Stil nur so lange treu bleibt, bis ihm jemand zeigt oder er selbst bemerkt, dass er damit Schaden bei anderen und sich selbst anrichtet.
Freilich sollte man seine Überzeugungen auch nicht ständig ändern, wie schon der große Stilist Knigge empfahl: "Widersprich Dir nicht selbst im Reden, so dass Du einen Satz behauptest, dessen Gegenteil du ein andermal verteidigt hast."