
Effektiver Altruismus: Fünf einfache Schritte zum Einstieg
Effektiv ethisch handeln Wie man Gutes berechnend besser tut
Ein Mann, nennen wir ihn Albert, macht einen Spaziergang. Er kommt an einem Teich vorbei. Ein kleines Kind fällt beim Spielen vom Steg, es schreit und strampelt im Wasser; wenn Albert nicht eingreift, wird es ertrinken. Albert überlegt nicht lange, reißt sich die Schuhe von den Füßen, springt hinein und holt das Kind aufs Trockene zurück. Später wollen sich die Eltern bei ihm bedanken, aber Albert winkt ab. Ist doch klar, hätte jeder so gemacht.
Aber während seines Spaziergangs war nicht nur dieses eine Kind in Not. Anderswo fehlt Kindern sauberes Trinkwasser oder medizinische Versorgung. Albert kennt den Unicef- Report, er weiß, dass weltweit Stunde für Stunde zwischen 600 und 700 Kinder sterben, viele von ihnen an leichthin vermeidbaren Ursachen. Während der Stunde, in der er spazieren geht, könnte Albert ihnen helfen, er müsste nur den "Donate"-Button auf der Webseite der "Against Malaria Foundation" anklicken. Stattdessen klickt er zu Hause auf den One-Click-Button bei Amazon und kauft sich neue Lautsprecherboxen für seine Stereoanlage.
Ist Albert ein guter Mensch? Ja, würde er sagen, also bitte, immerhin habe er heute ein Kind gerettet. Aber eine wachsende Zahl von Philosophen stellt diese Denkweise infrage. Es genügt nicht, ein bisschen gut zu sein, sagen sie, wirklich gut ist nur, wer so gut wie möglich ist. Sie nennen sich "effektive Altruisten" (effective altruists), wobei man das "effective" sowohl im Sinn von "echt", "wirklich" als auch im Sinn von "wirksam" verstehen kann. Und sie sind mehr als eine philosophische Denkschule. Sie sind eine soziale Bewegung. Zehntausende Menschen weltweit richten ihr Leben nach den Regeln des effektiven Altruismus aus.
Die Bewegung nahm ihren Anfang im Jahr 1971, als der australische Philosoph Peter Singer eine Abhandlung mit dem Titel "Famine, Affluence, and Morality" schrieb. Es war die Zeit der großen Hungersnöte in Äthiopien und der Sahelzone. Singer argumentierte, dass wir ebenso verpflichtet sind, Kindern in extremer Armut zu helfen wie dem Kind im Teich vor unseren Augen. Die räumliche Entfernung macht in globalisierten Zeiten keinen Unterschied.
Aber wo bleibt das Herz?
Das moralische Prinzip bleibt das gleiche: Wir sollten das Leiden anderer Menschen mindern, solange dies nicht erfordert, dafür "etwas annähernd so Wichtiges zu opfern" (Singer). Albert sollte also weiter seine alten Boxen benutzen und das Geld dafür der Malaria-Stiftung spenden, genauso wie er, ohne mit der Wimper zu zucken, seinen Anzug im trüben Teichwasser ruiniert, um das Kind zu retten.
Das ist das Grundargument des effektiven Altruismus, das dessen Vertreter seither vielfach verfeinert haben. Sie berechnen, wie entbehrliches Einkommen mit moralisch bestmöglicher Wirkung investiert werden kann. Zum Beispiel empfehlen sie die Unterstützung von Initiativen für Entwurmungsprogramme in Schulen und für direkten Geldtransfer zu Menschen in extremer Armut. Laut der Webseite thelifeyoucansave.org haben schon mehr als 18.000 Menschen gelobt, mindestens ein Prozent ihres Einkommens für solche Initiativen zu spenden, laut der Seite givingwhatwecan.org geben mehr als 2000 Menschen sogar zehn Prozent.
Wenn Philosophen Banker werden, um mehr geben zu können
Und wo bleibt das Herz? Man könnte geneigt sein, den effektiven Altruisten Erbsenzählerei zu unterstellen: Dass sie nur berechnen wollen, was richtig ist, ohne es zu fühlen. Wollen sie uns zu Moralrobotern erziehen? Sie selbst bestreiten dies. Effektiver Altruismus verbinde "Herz und Hirn", sagt Peter Singer. Die Gefahr, dass das Optimierungskalkül dem Guten seine Seele nehmen könne, sieht er nicht. Und tatsächlich weiß er von Menschen zu berichten, die sich dem effektiven Altruismus verschrieben haben und sich dadurch aus einer Depression herausgearbeitet haben.
Ist das nicht wunderbar? Endlich bewegt die Philosophie mal was! "Die Philosophie lässt alles, wie es ist", schrieb Ludwig Wittgenstein (1889 -1951). Der effektive Altruismus beweist das Gegenteil. Manche Menschen krempeln ihr Leben für ihn um. Eine akademische Diskussion hilft hungernden Kindern in Afrika und kranken Alten in Indien. Peter Singer erzählt von Philosophiestudenten, die eine Karriere in der Finanzbranche eingeschlagen haben, nicht, um selbst mehr Geld zu scheffeln, sondern um mehr zu geben zu haben.
Matt Wage, der als Student an der Princeton University mit dem effektiven Altruismus in Berührung kam, schlug ein Doktorandenstipendium der Oxford University aus, verließ seine akademische Laufbahn und wurde stattdessen Börsenhändler an der Wall Street in New York. Er spendet die Hälfte seines sechsstelligen Einkommens.
Bill Gates ist ein prominenter Unterstützer
Ein britischer Ingenieursstudent, der eigentlich nach Afrika gehen wollte, um Staudämme zu bauen, arbeitete stattdessen für eine Investmentbank und spendete seinen Verdienst. Zu den prominenten Unterstützern der Bewegung zählen Microsoft-Gründer Bill Gates und Facebook-Mitgründer Dustin Moskovitz. Auch in einigen deutschen Städten sind EA-Initiativen (das Kürzel hat sich inzwischen etabliert) entstanden. Die Stiftung für Effektiven Altruismus, Hauptsitz in Berlin, hat Lokalgruppen in 20 Städten in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Die Geschichte vom effektiven Altruismus klingt beinah zu gut, um wahr zu sein: Ein Optimierungsprinzip befreit Menschen aus ihrem "Sisyphos-Dasein des Konsumismus" (Singer), in dem sie sich ewig abstrampeln, um sich allerlei Schnickschnack leisten zu können, der sie doch nicht befriedigt und nur den Wunsch nach noch mehr Schnickschnack weckt, und lenkt ihr Streben auf ein größeres gemeinsames Gut. Man könnte sagen: Der effektive Altruismus trägt die Moral in den Kapitalismus.
Ruiniert der effektive Altruismus die Moral?
Seine Kritiker jedoch sehen es gerade umgekehrt: Der effektive Altruismus ruiniere die Moral, indem er sie verkapitalisiere. Der kalifornische Philosoph Paul Gomberg wirft Singer und seinen Anhängern vor, mit ihrem altruistischen Effizienzdenken "den politischen Quietismus zu fördern". Sie verleiteten dazu, alle Ressourcen zur Bekämpfung der Armut auf die Philanthropie der einzelnen Menschen zu verlagern und damit einen echten Wandel des Systems zu verhindern, welches diese Armut verursacht.
Ein Investmentbanker, der Millionen scheffelt und einen Großteil seines Gewinns für gemeinnützige Zwecke spendet, mag zwar seinen persönlichen moralischen Wirkungsgrad optimieren, aber er bleibt ein Investmentbanker, und damit in den Augen mancher Kritiker ein Träger eines ausbeuterischen ökonomischen Systems, das die Missstände, denen der Banker abhelfen möchte, wesentlich mitverursacht hat.
Auf solche Kritik antwortet Singer, er "liebe Systemwandel", und verweist auf effektiv-altruistische Initiativen für gemäßigte Reformen der Justiz, des Einwanderungsrechts und des internationalen Handels. Ein gründlicher Systemwandel, wie Gomberg ihn fordert, sei unrealistisch - warum also seine Energie dafür verschwenden? "Wenn es wenig Chancen gibt, diese Art von Revolution zu bewirken", sagt Singer, "dann muss man eine Strategie suchen, die bessere Aussichten bietet, armen Menschen tatsächlich zu helfen."
Es bleibt ein Unbehagen
Klingt nüchtern und einleuchtend, hinterlässt aber dennoch ein Unbehagen. Das Kosten-Nutzen-Kalkül der effektiven Altruisten braucht Rahmenbedingungen, aber wer sagt, dass diese Bedingungen unveränderlich sind? Sie betrachten Hilfsorganisationen wie Automaten: Geld rein, Hilfe raus. Dann wird der Wirkungsgrad dieser Automaten maximiert. Das Geld soll dorthin fließen, wo es den größten Effekt hat: mehr gerettete Menschenleben pro Dollar oder Euro, mehr geheilte Kranke. Aber so funktioniert Hilfe nicht, weil Menschen nicht so funktionieren.
Zum Beispiel propagieren die effektiven Altruisten die Lieferung von mit einem Insektizid behandelten Moskitonetzen nach Afrika, um die Verbreitung der Malaria einzudämmen. Aber viele Afrikaner, deren Hunger die Angst vor Malaria überwiegt, nutzen die Netze lieber zum Fischen als zum Schutz vor Ansteckung. "Ich weiß, dass es nicht richtig ist", sagte Mwewa Ndefi, Vater von sieben Kindern in Sambia, der "New York Times", "aber ohne diese Netze hätten wir nichts zu essen."
Vielleicht doch lieber mal mit Afrikanern reden als nur über Afrika?
Wäre ja auch nicht so tragisch, wenn diese Netze auf andere Weise sinnvoll genutzt werden. Aber in ihren engen Maschen bleiben auch die Jungfische hängen, und die Insektizide vergiften die Gewässer. Es ist manchmal nicht so einfach, Menschen Gutes zu tun. Man muss ihre Lebensumstände, Denkweisen und Bedürfnisse kennen. Man muss ihnen zuhören.
In dem Buch "Gutes besser tun" von William MacAskill, dem schottischen Philosophen und gefeierten Jungstar der effektiven Altruisten, ist viel von Hilfe für Afrika die Rede. Aber nirgends kommt ein Afrikaner zu Wort. Um zu entscheiden, ob man besser zehn Aidskranken oder zehn Blinden helfen soll, stützt sich MacAskill auf einen ökonomischen Parameter namens "quality-adjusted life year": ein Lebensjahr, korrigiert um einen Faktor für die Lebensqualität in Relation zur Gesundheit. Auf diese Weise berechnet er, dass die Therapie von Blinden einen größeren Wirkungsgrad habe als eine Aids-Therapie.
Was ist die Basis für moralisches Handeln?
Die Leben von Menschen werden bewertet, quantifiziert und gegeneinander aufgerechnet. Mit starken Abstraktionen und Generalisierungen kalkulieren effektive Altruisten, wie sie das Leben von Menschen am wirksamsten verbessern können - ohne die Menschen selbst eines näheren Blickes oder Wortes zu würdigen. Kann eine Kosten-Nutzen- Rechnung die Basis für moralisches Handeln sein? Dann wäre Moral bloße Technokratie.
Aber die Kosten-Nutzen-Rechnung kann Teil der Basis moralischen Handelns sein. Man könnte es den Controlling- Teil nennen. Effektive Altruisten rechnen nach, ob unser Tun wirklich gut ist oder nur gut gemeint - oder sich womöglich nur gut anfühlt. Was sonst sind die Maßstäbe moralischen Handelns? Die Intuition, das gute Gewissen, die reflektierten und akzeptierten Werte: Auch sie haben ihre Geltung, aber auch sie sind fehlbar, und die Instrumente des effektiven Altruismus sind ihnen ein sehr wertvolles Korrektiv.
Zum Beispiel zeigt der effektive Altruismus überzeugend, dass der nächstliegende Weg, Gutes zu tun, nicht immer der beste ist. Wer beseelt davon ist, Gutes zu tun, muss nicht seine mitteleuropäische Existenz aufgeben und Entwicklungshelfer in Afrika oder Indien werden. Es kann wirkungsvoller sein, seine Bankkarriere weiterzuverfolgen und einen größeren Teil seiner Einkünfte für gute Zwecke zu geben.
Unser eigenes Leben ist der Ausgangspunkt für alle Ethik
Aber die Kosten-Nutzen-Kalkulation erreicht sehr schnell ihre Grenzen. Man betrachte ein Gedankenexperiment, das von Toby Ord stammt, einem jungen Oxford-Philosophen, Vordenker des effektiven Altruismus und Gründer der Initiative "Giving What We Can": Stellen Sie sich vor, Sie sind zum Tode verurteilt, Sie sitzen im Gefängnis und warten auf Ihre Hinrichtung. Die herkömmliche Moral verbietet es Ihnen strikt, den Wärter zu töten und auszubrechen. Aber, Moment mal, draußen könnten Sie tausend Menschenleben retten. Unter dem Strich wäre die Welt ein Stück besser, oder?
"Wenn Sie das nicht tun, müssen Sie sagen, dass es zulässig ist, sein eigenes kurzes Leben für tausendmal wertvoller zu halten als fremde Menschen", sagt Ord. "Wenn Sie das glauben, ist Ihre Theorie schlicht dumm." Nach den Maßstäben des effektiven Altruismus führt die herkömmliche Moral also, folgert Ord aus seiner Geschichte, zu unsinnigen Handlungsmaximen. Man kann es aber auch umgekehrt sehen. Der effektive Altruismus, konsequent zu Ende gedacht, führt zu Wahnsinnstaten.
Der englische Philosoph Bernard Williams (1929 - 2003) wies gern darauf hin, dass wir unsere ethischen Reflexionen nicht im luftleeren Raum beginnen. Wir gelangen zu ihnen aus einem Leben heraus, das wir bereits führen, in dem wir auf unsere eigene Weise denken, fühlen und werten. Das ist der Ausgangspunkt für alle Ethik, von dort aus reflektieren und entwickeln wir sie. Der effektive Altruismus kann diese Entwicklung bereichern, aber er kann die Ethik nicht neu erfinden. Das wäre ein neuer Moralismus, der viel - "fast alles", wie Williams einmal in ähnlichem Zusammenhang schrieb - von unserem Denken, Fühlen und unseren Werten unter den Tisch fallen lässt.
Eine menschliche Ethik muss eine Ethik für Menschen sein, für fehlbare, manchmal rationale, manchmal impulsive, manchmal egoistische, manchmal selbstlose Wesen. Die auch manchmal in einen Teich springen und ein Kind retten, ohne nachzudenken und zu rechnen.