
Brillenmanufakturen Neue Durchblicke
Berlin - Wie so viele Berliner Erfolgsgeschichten begann auch diese außerhalb von Berlin. In diesem Fall in Oldenburg. Von dort brachen Mitte der 1990er Jahre vier Freunde auf, den Berliner Markt für Designerbrillen zu reanimieren und neu zu erfinden, und zwar mit ausgestanzten Blechrahmen, schraubenlosen Scharnieren und später mit neuartigen Azetatrahmen.
Harald Gottschling und Philipp Haffmans hatten eine schraubenlose Brille aus dünnem Blech entworfen, Daniel Haffmanns und Moritz Krueger unterstützten die beiden auf der unternehmerischen Seite. Für eine Kundenpräsentation band man einen weiteren Freund aus Oldenburg mit ein: Ralph Anderl. Er sollte mit seinem markanten Glatzkopf den Brillenmodellen ein Gesicht geben.
Was danach geschah, das ist bis heute ein ungeklärtes Reizthema. Fakt ist, dass es mittlerweile drei hippe Brillenmarken rund um den Prenzlauer Berg mit internationaler Ausstrahlung gibt: ic! berlin, Mykita und Whiteout & Glare. ic! Berlin startete 1999, Mykita 2003 und Whiteout & Glare 2006. Und alle drei agieren mittlerweile auf internationalem Parkett.
Chorgesang bei ic! Berlin
So stellt man sich das neue Berlin vor, das rund um den Globus immer noch und zunehmend eine ungeahnte Magnetwirkung auf die Hipster dieser Welt ausübt: Eine Handvoll junger, flippiger Menschen aus aller Welt zwischen 20 und 40, mehrere Loftetagen in einer alten Backfabrik in der Saarbrücker Strasse am Prenzlauer Berg, viel Kunst und Design an den Wänden, viel kreatives Spielzeug wie Boxhandschuhe zur Förderung der Kreativität und des Betriebsfriedens. Und am Montag singt man sich bei ic! berlin in der Chorgruppe frei für die Woche.
Kreatives Kraftzentrum dieser 70-köpfigen Truppe ist der Kulturpädagoge und selbsternannte "Blechenbrillenverkäufer (ohne Schrauben)" Ralph Anderl. Er war seinerzeit der fünfte Beatle in dem Team, das heute Mykita führt. 1999 kam er unter dem Namen "ic! berlin" mit seiner eigenen Blechbrillenkollektion auf den Markt. Der Markenname wird "I see" ausgesprochen und soll das Erstaunen abbilden, das viele Optiker angesichts der schraubenlosen Montage äußerten.
Seitdem haben die Designer von ic! Berlin rund 700 Modelle entworfen, von denen sich noch zirka 600 im Verkauf befinden. 120 neue Modelle kommen jährlich hinzu. 170.000 Brillen werden jährlich weltweit verkauft, der Hauptanteil davon in den USA, Deutschland, Taiwan, Frankreich oder Thailand. Madonna soll vier Modelle besitzen, König Mohammed von Marokko sogar derer 42. Die beliebtesten Modelle sind derzeit arne, black body, faris, greg, hamilton principle und power law.
Eigentlich ist ic! berlin eine Kulturfirma. Die zahlreichen Nebenaktivitäten wie die Herausgabe eines Reiseführers, einer Lieder-CD von Ralph Anderl oder eines Hörbuchs mit Corinna Harfouch sind laut Anderl kein Marketing-Gag, sondern entsprächen seinem Grundbedürfnis nach Kultur.
Mykita wurde Hollywoods Darling
Mit der Sonnenbrille "Jack" fing alles an. Heute besteht die Kollektion zu 70 Prozent aus Korrekturbrillen. Für die Finanzierung der Produktion konnten Interessenten Anteilscheine erwerben, dazu gaben Schauspieler wie Corinna Harfouch und Peter Lohmeyer sowohl ideelle Unterstützung als Testimonials als auch finanzielle als Investoren.
Die Tatsache, in Berlin in Handarbeit zu fertigen, hat sich laut Anderl fast zwangsläufig ergeben, aufgrund der Liefersituation für bestimmte Einzelteile und der Gefahren, mit denen man in Asien konfrontiert sei: Markenpiraterie, lange Wege und Missverständnisse in der Kommunikation. Außerdem sei Berlin mittlerweile ein wichtiger Marketing-Faktor: Weil sich in Berlin alles bewegt, fühle man sich als "Beweger" automatisch heimisch.
Die Asien-Assoziation ist den Mykita-Machern nicht unangenehm
Exemplarisch dafür ist auch das Mykita-Haus in der Brunnenstrasse. Auf vier Etagen einer alten Hinterhoffabrik hat man hier 2006 eine "modern manufactory" etabliert. Im Erdgeschoss werden die Rahmen gestanzt und gebogen, auf drei weiteren verteilen sich die Azetatrahmenproduktion, die Designabteilung; Marketing und Vertrieb. Mittlerweile ist die Belegschaft auf 220 Köpfe angewachsen, davon sitzen rund 150 in Berlin.
Im September 2003 befand sich der erste Firmensitz noch in einer Kindertagesstätte in der Leipziger Strasse. So erklärt sich auch der Name: "my Kita", auch wenn die meisten Menschen eher an etwas Asiatisches denken. Die Assoziation ist den Machern nicht unangenehm, da es den Hipness-Faktor Berlin noch einmal potenziert.
2004 kam Mykita auf den Markt, zunächst mit einer Metallbrillenkollektion, die sich durch das schraubenfreie Scharnier auszeichnete. 2010 hatte die Firma ein eigenes Material entwickelt: Ein Polyamid namens Mylon, auf dessen Oberflächenveredlung sie ein Patent hält. Der endgültige Durchbruch kam mit "Sex and the City". Im zweiten Kinofilm sieht man Sarah Jessica Parker mit einer goldenen Sonnenbrille von Mykita auf der Nase. "Franz" aus der Kollektion von Mykita und Bernhard Wilhelm war selbst auf dem Filmplakat abgebildet.
Es dauerte nicht lang, dann sah man auch Hollywood-Hipster Brad Pitt mit einem "Rolf" auf der Nase spazieren gehen. Für 2012 setzt Mykita auf das Thema "Oversize". Modelle wie Devendra, Phoebe, Lidia, Milena und Shana sollen dazu beitragen, den Siegeszug der Brillenmanufaktur aus Mitte weiter voranzutreiben. Die Konkurrenz sitzt schließlich jeweils nur einen Steinwurf entfernt.
Brillen aus der Zahnarztpraxis
Die Geschichte von Whiteout & Glare begann in einer Zahnarztpraxis an der Chausseestrasse. Im Sommer 2005 starteten der Architekt und Designer Fabian Hofmann, der sich selbst "fmhofmann" nennt, und der Maschinenbaumeister Thomas Bischoff ihr Unternehmen, unterstützt von Rudi Stein im Backoffice und Vertrieb.
Auf den ersten Blick klingt "Whiteout & Glare" wie eine alteingesessene britische Tweed-Manufaktur. Dabei beschreiben die beiden Begriffe nur zwei meteorologische Lichteffekte aus dem Hochgebirge. Die Assoziation "Manufaktur" ist nicht ungewollt, zumal man viel Wert auf Handarbeit legt.
In einer alten DDR-Kinderbibliothek am Rosa-Luxemburg-Platz haben "Whiteout & Glare" heute ihren Sitz. Schon von weitem leuchten die hellen Regale mit den zahlreichen Brillenmodellen aus den Räumen heraus, die gleichzeitig Showrom und Headquarter der Brillendesigner sind. Schroffe Betonwände und ein riesiges Aquarium zeugen von der Haltung der Designer, die sich deutlich von der Hipness oder den Popstarqualitäten ihrer Mitbewerber absetzt. Statt den Trends der letzten Jahre wie Retro, Oversize oder Schmetterling sklavisch zu folgen, hat man sich bei "Whiteout & Glare" auf eine klare, unaufgeregte Formensprache festgelegt, der man anmerkt, dass dahinter ein Maschinenbau-Ingenieur und ein Architekt stehen.
Eine Brille namens Spirobranchus Giganteus
Auf den ersten Blick sind die Designs eher unspektakulär, aber die Namen der Kollektionen sollen Geschichten erzählen. Die erste, die 2006 herauskam, hieß Mountain und sollte den Aufstieg zu einer anerkannten Marke auf dem Brillenmarkt symbolisieren, die zweite Story unter dem Titel "Kaleidoskop" bezeichnete die vielfältigen Facetten, in die sich die Arbeit der Brillendesigner zwischenzeitlich aufgefächert hatte.
2011 kam die Serie Reef heraus, die den katastrophalen Zustand der Korallenriffe weltweit thematisierte. Es gibt 32 unterschiedlichen Modellen, die so klingende Namen tragen wie Solenostomus Cyanopterus, Spirobranchus Giganteus oder Epinephelus Labriformis - alles Riffbewohner, deren Schutz man mit einer Patenschaft fördern kann. Für die 12 Modelle der Serie "Volt" gab es sogar den Designpreis "red dot best of the best", einer von mittlerweile 21 internationalen Auszeichnungen. Die Jury lobte die "formale Eigenständigkeit und die komfortable Funktionalität der Kollektion".
Für die aktuelle Story hat man sich auf den Charme und die Ästhetik der "Hamptons" in den 1950er und 1960er Jahre besonnen. Der Ostteil der Insel Long Island bei New York ist heute nur als Rückzugsort der Schönen und Megareichen aus Manhattan bekannt. Damals herrschte hier noch eine ganz andere Atmosphäre. Hierher hatte sich die Intelligentsia der Zeit zurückgezogen, Hochschulprofessoren, Künstler, Autoren und Weltraumforscher, die über eine neue Weltordnung nachdenken wollten.
Entsprechend intellektuell kommen auch die Modelle daher, die die Namen der alten Indianerdörfer wie Montauk, Amagansett oder Arshamonaque tragen. Der Materialmix aus Kunststoff und Acetat sowie Metall und Titan zitiert die Ästhetik der berühmten Glasfaserstühle der Designer Ray und Charles Eames - Designklassikern, denen das Trio am Rosa-Luxemburg-Platz sich näher fühlt als der Nase von Sara Jessica Parker.