
Die Privatküche des Küchenchefs: Purer Perfektionismus
Ein Mann und seine Küche Einfach Wohnsinn
Berlin - Sportwagenfahrer neigen ja nicht selten zu einem etwas kindlichen Besitzerstolz. Sie übersehen dabei meist, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit immer eine Frage der Perspektive ist. Sebastian Vettel jedenfalls fiel mit Blick auf das Fahrgefühl eines Porsches kürzlich nur das Wort "Scheiße!" ein. Die Welt sieht eben anders aus, wenn man sie vom Steuer eines Formel-1-Boliden aus betrachtet.
Berufsköchen geht es mit den luxuriösen High-End-Küchen für enthusiastische Hobbyköche ähnlich. An chromblitzenden Multifunktionsherden zum Preis eines Staatsanwaltsgehalts hat nur der ungetrübte Freude, der selbst nie in einer Profiküche stand. Jörg Tüttelmann, ehemaliger Küchendirektor bei Ritz-Carlton, hat für sich einen eigenwilligen Ausweg aus dem Dilemma gefunden: "Je nach Blickwinkel besitze ich entweder gar keine Küche - oder meine Wohnung besteht zu achtzig Prozent aus Küche."
In jedem Fall offenbart der Mann eine erfreulich konsequente Prioritätensetzung: In seinem schönen Salon im Berliner Grunewald finden knapp zwei Dutzend Gäste an zwei langen Esstischen Platz, zwischen ihnen erhebt sich mitten im Zimmer wie aus dem Nichts ein monolithischer Küchenblock aus brasilianischem Schiefer auf Altberliner Gründerzeitparkett. Die übrigen zwanzig Prozent der Tüttelmann'schen Residenz bestehen im Wesentlichen aus Kinderzimmer und Vorratsraum.
Draußen, vor den deckenhohen Fenstern, strahlt ein sonniger Sonntagmorgenhimmel über wohlsanierte Altbauten und akkurat gestutzten Hecken, drinnen schlurft der Hausherr in britischen Hotelschlappen übers Parkett. Als kulinarischer Consultant tourt er die Woche über quer durch Europa, klingende Namen wie das Londoner Traditionshotel Claridge's oder der Schweizer Luxusuhrenhersteller Breitling legen Wert auf seinen Rat in Sachen Qualität.
Sonntags wird den ganzen Tag gekocht
Am Wochenende kommt die Familie in den Genuss: Verena und der fünfjährige Sohn Paul. Tüttelmann: "Sonntags wird den ganzen Tag gekocht, und zwar prinzipiell unrasiert!" Nicht aber ohne kulinarische Prinzipien, versteht sich. Wer werktäglich dicke Backen macht - "Fokus auf alle Details, Kompromisslosigkeit, Qualität" -, der muss auch sonntags liefern.
Sieht Jörg Tüttelmann natürlich genauso: "Mit ein paar Gillardeau-Austern kann man schon mal nichts falsch machen." Der Detailperfektionismus tritt in Form eines meersalzwassergetränkten Latexpinsels zum Entfernen mikroskopisch kleiner Schalenreste nach dem Öffnen der Austern in Erscheinung.
Jörg Tüttelmanns Küche, eine Spezialanfertigung des Berliner Objektbauers Frank Kaiser, besteht neben besagtem Küchenblock in der Wohnzimmermitte - vier integrierte Herdplatten von Gaggenau, ausfahrbare Abzugshaube, Siemens-Backofen und Schubladen - sonst nur noch aus einer gut zwei Meter langen Arbeitszeile und einigen Regalbrettern an der dahinterliegenden Wand. Waschbecken, Spülmaschine und Kühlschrank verbergen sich hinter amerikanischer Rotkirsche.
Zwar sagt Tüttelmann, Funktionalität sei in einer Küche viel wichtiger als Ästhetik; Mixer, Tiefkühler, Getränkekühlschrank und ähnlich unansehnliches Gerümpel hat er trotzdem in einen kleinen Vorratsraum verbannt. "In der Küche selbst will ich nur haben, was ich tatsächlich zum Kochen brauche, da arbeite ich wie im Restaurant." In den Küchenkühlschrank kommen also nur vorbehandelte Zutaten, einsatzbereit in allerlei Tütchen und Fläschchen verpackt.
Sanft schmurgelnde Thunfischbäckchen in Wunderwasser
"Der größte Fehler von Hobbyköchen", meint Jörg Tüttelmann, "ist ein Mangel an Organisation. Es gibt Privatküchen, die sind größer als die mancher Restaurants, und trotzdem findet sich nach einem Essen mit drei Gängen und vier Gästen kein Stellplatz mehr für die Kaffeetassen." Grund: "Da steht überall zu viel unnötiger Schnickschnack rum."
Neben der obligatorischen Espressomaschine nimmt ein vollautomatischer, mehrsprachiger japanischer Wasserautomat den meisten Platz auf Tüttelmanns Küchenbord ein. Auf geheimnisvolle Weise soll er das Hauptstadtwasser ionisieren, alles Unbekömmliche herausfiltern und mittels diverser blinkender Knöpfe für Gesundheit, allgemeines Wohlbefinden und ein langes Leben sorgen. Jörg Tüttelmann: "Man könnte das für Schwachsinn halten, es funktioniert aber tatsächlich!" Zum Beweis werden iPhone-Fotos zweier Artischocken präsentiert: vergammelt die eine, voll im Saft die andere. Einziger Unterschied im Schicksal der ungleichen Schwestern: "Die eine habe ich mit normalem, die andere mit dem ionisierten Wasser gewaschen."
Ebenfalls mit dem Zaubertrank gemischt wurde eine hausgemachte Teriyaki-Sauce, es hat ihr nicht geschadet. Sanft schmurgeln darin nun, mit einem Thermometer präzise überwacht, saftige Thunfischbäckchen. Zuvor wurden getrüffelter Kopfsalat mit pochiertem Ei sowie zweierlei Tatar mit gebackener Riesengarnele serviert. Der Küchenblock sieht trotzdem immer noch aus, als sei er eben erst geliefert worden. Tüttelmann: "Ich kann Unordnung in der Küche nicht ertragen!"
Die Queen und ein röhrender Hirsch in Mattgold
Nach jedem Gang wird unter dem strengen, doch gütigen Blick der Königin von England, die von einem prächtigen Thronjubiläumsteller an der gegenüberliegenden Wand aus das Küchengeschehen observiert, penibel aufgeräumt. Majestät zur Seite steht ein röhrender Hirsch in mattem Gold.
Das milde Licht des frühen Nachmittags fällt auf allerlei Kunst im Raum, zwischen schicken Designermöbeln von Charles Eames und Flötotto stapeln sich in den Ecken Kochbücher zu beachtlichen Türmen, über die hohe Stuckdecke ranken sich Früchte und Ähren. Eine "kulinarische Wand" vis-à-vis eines der beiden großen Esstische präsentiert gastronomische Kuriositäten in kunterbunter Hängung: Die handschriftliche Restaurantrechnung vom Abend des Heiratsantrags (sechs Krüge Sake, zwei Pils) hängt neben einem Porträt von Wolfram Siebeck, eine alte französische Metzgerskizze neben dem gerahmten Zuckertütchen eines Lieblingscafés in Barcelona, daneben ein etwas kitschiger Obstteller aus den Fünfzigerjahren sowie die zeitlose Wahrheit von Oscar Wilde: "Nach einem guten Essen kann man jedem verzeihen, sogar den eigenen Verwandten."
Die Verbindung von schrägem Kunstsinn und Genussfreude hat Tüttelmann senior seinem Sohn Paul vererbt. Dessen liebste Küchenbeschäftigung ist das großflächige Bemalen des Schieferblocks. Die expressive Interpretation der "Star Wars"-Helden Obi-Wan und R2-D2 samt Laserschwert in rosa Kreide wird nur kurz unterbrochen, um auf einem praktischen Mitkochhocker die Zubereitung des Desserts zu überwachen. Es gibt Crêpes, Paul rührt den Teig, Jörg holt das Schokoladeneis. Selbst gemacht, versteht sich. Testlöffel … köstlich! Samtig und aromatisch schmilzt es auf der Zunge, absolut sterneverdächtig.
Keine Überraschung für Maître Tüttelmann: "Klar! Da sind acht Eigelb, einiges an Sahne und nur allerbeste dunkle Valrhona-Schokolade im Spiel." Und sicher irgendeine hochprofessionelle Eismaschine. "Überhaupt nicht. Nur so ein ganz billiges Haushaltsding. Der Trick ist, die Masse über Nacht durchziehen zu lassen, erst dann wird das Eis supercremig!" Es ist eben doch wahr: Ein Formel-1-Pilot macht noch im klapprigsten Golf eine bessere Figur als so mancher Porschefahrer.