
100 Jahre Wendelsteinbahn: Auf dem Zahnrad ganz nach oben
Wendelsteinbahn Ein Denkmal für den Geheimrat
Brannenburg - Wäre das mit der Lawine nicht passiert, Hans Vogt wäre wohl nicht 46 Jahre bei der Wendelsteinbahn geblieben. Zwar ist er in Brannenburg geboren, wo der Talbahnhof liegt und drinnen im Ort auch die Verwaltung der Wendelstein GmbH. Als Kind hat er mit seinen Freunden Pfennige auf die Gleise gelegt. Als Ministrant ist er jeden Sommer an fünf, sechs Sonntagen mit der Zahnradbahn auf den Gipfel gefahren, um oben im Kirchlein dem Pfarrer zu assistieren. Und die Schlosserlehre begann er wo? Natürlich in der Werkstatt der Zahnradbahn, gleich neben dem werkseigenen Kraftwerk, hinten im Tal am Bach.
Es war noch ein Steinbeis, der ihn 1965 eingestellt hat, wohl ein Enkel des Geheim- und Kommerzienrats Otto von Steinbeis, dem Bayern die Wendelstein-Zahnradbahn seit 100 Jahren zu verdanken hat. 1967 verkaufte die Familie die Bahn samt Kraftwerk und Bauten an die Bayerischen Elektrizitätswerke, die heute zu den Lechwerken zählen und damit zum Energiekonzern RWE. Die 1300 Hektar Waldbesitz drum herum hatten die Steinbeis schon 1933 an die Familie Henkel verkauft. Der Wendelstein - fest in der Hand des Rheinlands also.
"Ich hatte Riesen-Muffe", erinnert sich Vogt an das Einstellungsgespräch mit dem letzten Steinbeis. Doch der alte Herr sagte nur: "Die Vogts, das sind ordentliche Leute", und schon war der junge Mann engagiert. Fortan durfte er sich mit Zahnrädern und Zahnstangen beschäftigen, mit Drehgestellen und Getriebebremsen, Stromabnehmern und Fahrleitungen oder mit Motoren, die bergauf zu 70 Prozent mit der Bremsenergie des Abwärtsbetriebs fahren - im Rekuperationsbetrieb, wie er ja heute wieder sehr modern ist.
Und natürlich lebte Vogt in und mit den herrlichen gelb lackierten Wagen aus Holz, in denen die geschwungenen, glänzenden Bänke quer zur Fahrtrichtung angeordnet sind: in gegenüberliegenden Zweierreihen, die jeweils eine eigene Tür ins Freie haben.
Eigentlich wollte er weg
Nach der Meisterprüfung 1975 wollte Vogt eigentlich gehen, wie er sagt, wollte sein Wissen anderswo anbringen. Doch dann passierte das Unglück. Eine Lawine ging zu Tal, als sich gerade eine Schneeschleuder auf den Schienen vorantastete, um die Strecke frei zu räumen. Das Fahrzeug wurde in die Tiefe gerissen, fünf Männer der Besatzung starben.
Vogt war an dem Tag nicht auf der Maschine, hatte Glück, spürte aber auch Verantwortung, wollte die Firma nicht enttäuschen, als man ihn bat, den Posten des verunglückten Betriebsleiters zu übernehmen. So blieb er, wurde Eisenbahner mit Leib und Seele und kann noch heute, ein Jahr nach der Pensionierung, nicht vom Berg und seiner Bahn lassen. Tritt er aus dem Stollen, der Bergbahnhof und Gipfelhaus verbindet, so geht sein erster Blick noch immer zur kleinen Kirche aus grauem Stein: Die ist für ihn das Schönste hier oben.
Der 100. Geburtstag der Zahnradbahn in diesem Mai forderte Vogt noch einmal richtig. Er hat geholfen, eine Ausstellung im Gipfelhaus zu gestalten, führt Besucher herum, forscht in den Archiven. Der Geheim- und Kommerzienrat Otto von Steinbeis hat es ihm besonders angetan. Der Bauingenieur aus dem Württembergischen hatte sich 1863 in Brannenburg angesiedelt, weil der Familie hier ein Schloss gehörte.
Geschäftstüchtiger Erbe
Der junge Mann von 24 Jahren erwies sich als äußerst geschäftstüchtig, investierte in die Holzindustrie, errichtete ein Dampfsägewerk und eine Ziegelei, baute Brücken über den Inn oder unter die Gleise der Jungfraubahn in der Schweiz. In Bosnien erwarb er riesige Wälder und erschloss sie mit eigenen Waldbahnen, die später der bosnischen Eisenbahn gute Dienste leisten sollten.
Vom Prinzregenten Luitpold erhielt Steinbeis 1910 die Konzession, eine Zahnradbahn auf den Wendelstein zu errichten - samt Kraftwerk. Sechs Wochen später begann der Bau, zwei Jahre später, am 25. Mai, war Eröffnung.
800 Serben und Kroaten sollen damals, nur mit Pickel, Schaufel und Sprengstoff bewaffnet, dem Berg die 9 Kilometer lange Strecke abgerungen haben - Tunnels und meterhohe Stützmauern inklusive. Die Zahnstange, also das zwischen den Schienen liegende Gegenstück zu den Zahnrädern des Zugs, kam aus der Schweiz. Die Bestellung umfasste gerade einmal anderthalb Seiten, wie Vogt erzählt. In 100 Jahren sei das Metall nur um 2 Millimeter dünner geworden. Die Züge mit jeweils zwei Waggons wurden von der Maschinenfabrik Esslingen geliefert. Heute fahren neue Züge aus Metall, doch werden die Oldtimer noch für historische Fahrten genutzt.
Immer viel Betrieb
30 Stundenkilometer bergwärts, 15 Stundenkilometer talwärts (wegen des langen Bremswegs), so geht es seit hundert Jahren. Lawinen, Sturm, Steinschlag - der Berg hat den Eisenbahnern immer wieder Respekt abgerungen, doch einen tödlichen Unfall unter den Passagieren hat es nie gegeben.
35.000 von ihnen soll die Zahnradbahn schon im ersten Jahr angelockt haben. Bis zu 100.000 sollen es in der Nazizeit gewesen sein, als das Programm "Kraft durch Freude" die Gäste in Scharen auf den Berg jagte. Immer war die Bahn in Betrieb. Ob Weltkrieg oder Weltwirtschaftskrise - die Menschen fuhren stets in Massen auf den Wendelstein, diesen der Alpenkette vorgelagerten Bergkegel von 1838 Metern, einem etwas launischen Einzelgänger, bewohnt von Dohlen, Kolkraben, Gämsen und Murmeltieren.
Am Wochenende kommen die Wanderer und die Ausflügler, weil hier der Blick so schön ist: von der Kampenwand im Osten bis in die Allgäuer Alpen tief im Westen. Zwei Skilifte sind außerdem in Betrieb, doch es brummt nicht mehr wie in den fünfziger bis siebziger Jahren. Es mangelt an Schnee.
Schon 1883 war hier das Wendelsteinhaus entstanden, ab 1903 wurde es ganzjährig bewirtschaftet. Otto von Steinbeis errichtete daneben ein feines Hotel mit 60 Betten - direkt über dem Bahnhof seiner Zahnradbahn. Der berühmte Münchner Villenarchitekt Immanuel von Seidl ersann die passende Jugendstilarchitektur. Gegen Kriegsende sollen Ingenieure der Wunderwaffe V2 hier untergebracht worden sein; die wurden 1945 von den Amerikanern gleich mitgenommen in die USA. Heute beherbergt das Haus nur noch Eigentumswohnungen für Wochenendgäste aus München.
Kein Dosenfutter
Nebenan hat der Bayerische Rundfunk, der hier seine wichtigste Antenne unterhält, ein großes Technikgebäude mit Schindelfassade. Am Gipfel klebt eine Sternwarte der Technischen Universität München und eine Filiale vom Deutschen Wetterdienst. Und neben dem Gipfelhaus ragt - als eher hässliches Relikt der 70er Jahre - die Bergstation der damals errichteten Seilbahn in den Himmel.
Vom Sommerpavillon, den Steinbeis in der warmen Jahreszeit vor dem Gipfelhaus unterhielt, ist nur noch der bemalte Wandschmuck aus Holz erhalten: Reliefs mit Musikanten im Stil des Simplicissimus. Vogt, der gelernte Schlosser, hat sie im Panorama-Restaurant aufhängen lassen, zeigt sie stolz dem Fremden und sinniert über die unbekannte Hand des Künstlers: Nicht doch vielleicht Gulbransson?
Der Wirt Paul Müller ist seit elf Jahren hier, sein Vorgänger hat es 31 Jahre ausgehalten. 280 Plätze gibt es - plus 500 im Selbstbedienungsbereich. Müller sagt, er mache seine Soßen noch selbst und weiche die Erbsen für die Suppe eigenhändig ein. Kein Dosenfutter also, sondern etwas ambitioniertere Gipfelküche. Obwohl die Auslastung je nach Wetter stark schwankt. "Kaum etwas ist für einen Wirt so schwierig zu führen wie ein Bergrestaurant", sagt Müller. "Heute kommt keiner, morgen tausend".
Für den Investor hat sich die Bahn nie gerechnet
1,8 Millionen Goldmark soll der Bau der Zahnradbahn gekostet haben, 2,7 Millionen noch mal das Hotel und die Infrastruktur am Berg. "Das zahl ich aus meinem linken Westentascherl", hat Otto von Steinbeis damals gesagt. So ist es überliefert. Ob sich die Investition je gerechnet hat? Für Steinbeis selbst nicht, ist er doch schon 1920 gestorben. "Er hat wohl auch keinen Gewinn erwartet", denkt Vogt. Der Geheim- und Kommerzienrat wollte sich mit dieser Bahn ein Denkmal setzen.
Dass sie heute noch fährt, ist gar nicht selbstverständlich. Es war schon mal knapp. Man wollte den Betrieb einstellen, weil zu personalintensiv, und die 220.000 Gäste im Jahr mit Bussen über eine Straße heraufbringen. Doch dann behalf man sich anders. Seit 1977 gibt es einen Vertrag mit den angrenzenden Gemeinden und dem Landkreis, um das Defizit abzudecken. Und Ende der achtziger Jahre spendierte der Freistaat Bayern zwei neue Triebfahrzeuge.
Immerhin 22 Mitarbeiter beschäftigt die Zahnradbahn, und das scheint eine ganz eigene Truppe zu sein, die genau schaut, wer zu ihr passt, die jetzt wieder Lehrlinge ausbilden will, aber auch die Rentner zum Stammtisch lädt. Vogt wird nicht der letzte seines Namens in dieser Runde sein: Sein Sohn ist Betriebsleiter bei der Wendelstein GmbH.