
Ulan-Ude in Sibirien High Heels mit Eisspikes
Ulan Ude - Am Frauentag, der in Russland ein Feiertag ist, scheint auf Ulan-Ude die helle Märzsonne. Die Temperaturen schnellen schon am Vormittag auf minus 15 Grad hoch. Nach sibirischen Maßstäben kommt das einem Frühlingseinbruch gleich.
Auf dem zentralen Platz vor dem Rathaus, am Ende der Fußgängerzone, die phantasielos einfach Lenin-Straße heißt, finden sich Schausteller ein. Ponys tragen kleine Mädchen in bonbonfarbenen Anoraks im Kreis, riesige Plüschfiguren wandeln umher und verkaufen Luftballons und Zuckerwatte. Aus einem Lautsprecher plärren russische Weisen und ein paar Häuser weiter versucht eine Pizzeria Besucher mit einer Stimme anzulocken, die in einem fort "Attention" brüllt.
Die Stadtjugend freut sich über die ausländischen Gäste und grüßt abwechselnd mit "Hello Amerikanski" oder "Guten Tag Nemetzki". Der Mangel an weiteren außerrussischen Sprachkenntnissen hält die jungen Leute nicht von Gratulationen zum Frauentag ab und auch nicht von Monologen, in denen entweder die Begriffe "Baikal" und "Beautiful" oder "Hitler kaputt, Stalin kaputt" vorkommen.
Ulan-Ude ist die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Burjatien, gelegen am Fuße des südlichen sibirischen Gebirges. Die nüchterne Aufzählung bekommt Bedeutung, wenn man die Stadt ganzheitlich betrachtet, mit allen Sinnen sozusagen. Da ist von Hauptstadtflair wenig zu spüren. Der Geruch íst, jedenfalls außerhalb der Lenin-Straße, nicht angenehm. Ulan-Udes Bewohner neigen offenbar dazu, Müll direkt am Straßenrand zu entsorgen.
Gefühlt ist die Stadt einfach nur saukalt
Gefühlt ist die Stadt einfach nur kalt. Saukalt, um korrekt zu sein. Die Übersetzung von Ulan Ude laute Rote Ude und rührt daher, dass die Stadt an der Mündung des Flusses Uda liegt, von woher so mancher eisiger Wind weht. Im Sommer, so lässt man es sich sagen, wird daraus ein kühlendes Lüftchen, doch die Sommer in Ulan Ude sind so schnell vergänglich wie rauschhaftes Glück.
Und dann ist da noch der Blick, den muss man nach Westen, nach Moskau richten. Und sieht nichts, denn Moskau ist 4400 Kilometer entfernt. Oder nach Osten, da liegt dann in 150 Kilometer Entfernung der Baikalsee. Oder man geht zum Bahnhof, wo im Stundentakt die transsibirische Eisenbahn einläuft, und schaut, wo man so hinfahren kann von Ulan-Ude: nach Nowosibirsk, Irkutsk und Kransojarsk in die eine, nach Jakutsk und Anadyr in die andere Richtung - und damit hätte man auch schon alle Städte des östlichen Sibiriens abgeklappert.
Um zu verstehen, was Ulan Ude ist, muss man erzählen, dass dort, wo heute die transsibirische Eisenbahn die transmongolische Eisenbahn kreuzt, einst nur eine Handvoll Burjaten hausten. Bis 1666 die Kosaken, die man nach Sibirien geschickt hatte, um das Land zivilisiert zu machen, dort eine Überwinterungsstation schufen. Man sagt, danach kam Leben in Ulan Ude, zumindest aber schnellte die Bautätigkeit hoch. Sie wurde allerdings abrupt durch einen Stadtbrand im Jahr 1878 beendet.
Dem folgte eine Periode des Holzhäuserbaus, bis dann der Sowjetimperialismus in seiner ästhetischen Ignoranz die Stadt mit Industriebauten und Mietskasernen zupflastern ließ. Schön also ist Ulan-Ude nicht, zumindest nicht auf den ersten Blick. Der verführt eher dazu, schnellstens die Flucht zu ergreifen und irgendwohin zu fliehen, wo das Russisch-urbane sich zugunsten der sibirischen endlosen Birkenwälder und leeren Landschaft aufgelöst hat.
Selbst die Lenin-Büste wirkt im Sonnenschein verschmitzt
Doch dass man über Ulan-Ude zunächst so vernichtend urteilt, liegt wohl daran, dass man an einem Arbeitstag angekommen ist und das auch noch am Nachmittag, wenn die Strahlkraft der Sonne schon schwächer wird. In Sibirien spielen solche Dinge wie Sonneneinstrahlungskraft und Windstärke plötzlich eine elementare Rolle.
Man kommt an und sieht die hässlichen Mietshäuser, die Baukräne, den Müll, die graugetretene Eisschicht auf allen Straßen, auf der man rutscht und ausgleitet. Die Metamorphose der Stadt ereignet sich am anderen Tag über seine Menschen. Burjaten lachen offenbar gerne. Was, nach den vielen muffigen Gesichtern, die man zuvor sah, eine reine Freude ist.
Das Lachen mag der Grund sein, dass man plötzlich die vielen charmant verfallenen Holzhäuser sieht, die feinen Schnitzereien über den Türen und Fenstern, die Cafés - und selbst in der Lenin-Büste, dem mit über fünf Metern Höhe größten Leninkopf der Welt, etwas verschmitzt Asiatisches entdeckt.
Und die Frauen sind schön. Ungeachtet der Kälte zeigen sie lange Beine in Nylonstrümpfen, tragen Minirock und darüber Pelze von solcher Eleganz, dass man sich ein Leben in Ulan-Ude vorstellen konnte, dürfte man nur auch solche Pelze tragen. Oder könnte auf diesen Schuhen gehen, mit denen die Frauen bravourös die Eisschicht meistern: Zehn Zentimeter hohe Absätze mit einem Eisspike, der sie in der Senkrechten hält. Sibirien-unerfahrene Damen lägen längst auf der Nase, ganz zu schweigen vom Kältetod, den die Füße in den ungefütterten Overknee-Stiefeln erleiden würden.
Jubelnde Gesänge und eine Kunstakademie
Die neidvoll-anerkennenden Blicke, die man den Frauen zuwirft, werden erwidert: mit einer Mischung aus Staunen und Belustigung über die Uneleganz der Ausländerinnen, die, in dicke Dauenjacken und Skihosen gehüllt, mit derben Stiefeln eher Tele-Tubbies denn femininen Wesen gleichen. Einmal von der Freundlichkeit der Bewohner bezaubert, sieht man Ulan-Ude also mit anderen Augen.
Hatte man sich zuvor noch lustig gemacht darüber, dass es ein Naturkunde-, ein Heimatkunde und ein historisches Museum gibt, empfindet man das nun als Attraktion - und bleibt dennoch draußen, weil die Häuser des Frauentags wegen geschlossen sind. Man geht lieber in die Kirche hinter der Lenin-Straße, die architektonisch zwar nichts Besonderes ist, wo aber ein gemischter Kirchenchor orthodoxe Gesänge übt und die Muttergottes so mild auf die Besucher herabsieht.
Schön sind diese Gesänge, jubelnd, und neben den Pelzen wäre der Beitritt in einen solchen Kirchenchor ein weiterer Grund, nach Ulan-Ude zu ziehen. Dass die Stadt heute gut 400.000 Bewohner hat und dort nicht mehr nur Kosaken und Burjaten wohnen, sondern auch Russen und Mongolen, sogar Chinesen und auch der eine oder andere Europäer, liegt schlicht daran, dass es hier Arbeit gibt. Vor allem in Nummer 99, dem staatlichen Flugzeugwerk, in den unter anderem die SU 25 hergestellt wird, ein Kampfflugzeug, das zuletzt 2008 im Krieg gegen Georgien zum Einsatz kam. Drei Maschinen schossen die Georgier ab, und trugen somit indirekt dazu bei, die Arbeit zu erhalten.
Zudem steht in Ulan Ude die ostsibirische staatliche Akademie für Kultur und Kunst und weitere Institute und Akademien. Das erklärt, warum in Ulan-Ude so viele junge Leute herumlaufen und dabei noch glücklich aussehen. Mag Ulan-Ude auch fern der Welt sein und nur eine Partnerschaft mit einer Stadt in Nordkorea pflegen, so sind die Verbindungen nach Europa doch stark.
Die Ulan-Uderin Irina Pantajewa modelte für Lagerfeld und Versace
Denn es ist die Geburtsstadt von Metwei Burlakow, einem russischen Generaloberst und dem letzten Oberkommandierenden der sowjetischen Truppen in Deutschland. Burlakow leitete den Abzug dieser Truppen. Allein dafür sollte man Ulan-Ude eine Städtepartnerschaft mit Königs-Wusterhausen oder Teplitz-Schönau vermitteln.
Berühmter (und weitaus hübscher) als jener Burlakow aber ist die Ulan-Uderin Irina Pantajewa , die Anfang der 1990er Jahre zunächst Model für Karl Lagerfeld, später für Versace, Chanel und Westwood und überhaupt das einzige berühmte Modell aus Burjatien war. Wahrscheinlich hat sie ihre Laufsteg-Kompetenz auf den vereisten Straßen ihrer Heimatstadt mit Spikes in den Hacken erworben.
Was sich dem Besucher allerdings schwer erschließt, auch nach intensiven Studien burjatischer Kultur, ist, warum in den gastronomischen Fast-Food-Betrieben der Stadt nebeneinander Pizza, Kohlrouladen und Torten serviert werden. Die Etablissements sind Kaffehäuser und Restaurants zugleich, eine merkwürdige Mischung. Pizza und Kohlrouladen schmecken dort wie überall auf der Welt, aber geradezu eine Köstlichkeit sind die Torten. Und wären es noch mehr, würde man nicht beim Genuss von würzigen Kohl- und Pizzadüften umwabert.
Sollte man also, pelztragend und im Kirchenchor singend, in Ulan-Ude bleiben, könnte man zum Lebensunterhalt ein Café ohne Pizza eröffnen.