Tourismus Seehotel ohne See
Großräschen - Gerold Schellstede glaubt an den See. Mit ausholenden Gesten malt der 70-Jährige im dunkelblauen Anzug die Zukunft in die Luft. "Hier kommt der Hafen hin, über 120 Schiffe können dort anlegen", erklärt er und zeigt vor sich in die Tiefe. Dann saust die Hand nach links in Richtung Böschung: "Hier wird eine Mehrzweckhalle gebaut für mehr als tausend Besucher, mit Glasfassade zum Wasser hin", sagt er.
Bis die schicke Szenerie fertig ist, wird es allerdings noch Jahre dauern. Derzeit wirkt die Gegend reichlich unwirtlich. Vor Schellstede breitet sich eine gigantische Schlucht mit sandigem, nur notdürftig bewachsenen Grund aus. Davor steht, etwas deplatziert, das schmucke "Seehotel", das mit der hell getünchten Fassade und dem geschwungenen Aufgang ein bisschen nach Schloss aussieht.
Schellstede hat den imposanten Bau aus den Zwanzigern bereits vor zwei Jahren restauriert und wiedereröffnet. Damals war gerade erst mit der Flutung der Bergbaugrube begonnen worden, die die Ilse-Bergbau-Aktiengesellschaft zurückgelassen hat. Noch heute ist die gigantische Mulde vor den Türen des Hotels größtenteils leer. Nur irgendwo in der Mitte der Grube glitzert erstes graublaues Wasser, die Anfänge des künftigen Ilse-Sees. Baden freilich kann man dort noch nicht. Der Weg durch die Kraterlandschaft wäre gefährlich, das Wasser reichlich ungesund. "Es ist sauer", sagt Schellstede unbekümmert.
Dass sich das bald ändern wird und dass dann das ganz große Geschäft für ihn und für das ganze Städtchen Großräschen beginnt, daran scheint der joviale Unternehmer keinerlei Zweifel zu haben. Der Oldenburger lässt gerade ein weiteres Gästehaus bauen. Außerdem in der Planung: Tennisplätze, ein Beachvolleyballfeld und eine Sommer-Eisstockbahn. Curling sei genau das richtige für Badegäste, sagt Schellstede, "das kann man auch mit Stützstrumpf und Korsett noch spielen".
Der Braunkohletagebau hat die Landschaft durchlöchert
Im 10.000-Einwohner-Städtchen Großräschen, das seit der Wende ziemlich zusammengeschrumpft ist, kann man Optimisten wie Gerold Schellstede gut brauchen.
Das "Lausitzer Seenland" ist ein gigantisches, über Jahre angelegtes Projekt. Aus Spree, Neiße und Schwarzer Elster wird Wasser in die vom DDR-Braunkohlebergbau durchlöcherte Landschaft gepumpt, so entstehen etwa 30 Seen. Die geschundene Gegend mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit soll Touristenidylle werden. Freilich hat Brandenburg hübsche Konkurrenz - die mecklenburgische Seenplatte. Außerdem hat das Bundesland durchwachsene Erfahrungen mit aufwendigen Tourismusprojekten gemacht. Die zum Badeparadies umgebaute Cargolifter-Halle Tropical Island schrieb in den vergangenen Jahren horrende Verluste.
Noch dazu wurden vor kurzem im ehemaligen Tagebaugebiet Nachterstedt in Sachsen-Anhalt ganze Häuser vom aufgeschütteten Erdboden verschluckt, mehrere Menschen kamen ums Leben. Seitdem sind reichlich Zweifel an der Sicherheit auch im "Lausitzer Seenland" laut geworden. Das Unglück habe gezeigt, "wie unberechenbar" die Böden in ehemaligen Bergbaugebieten seien, warnt etwa Axel Kruschat, Geschäftsführer des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Brandenburg.
Er ging in den Osten und schlief auf dem Feldbett
Der zuständige Bergbausanierer, die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft (LMBV), versichert, die Lausitz sei sicher. Die Hälfe der Böden sei "natürlich gewachsen", der Rest gut gesichert. Man berichtet über mögliche Methoden zur Verdichtung der Böden, über die geeigneten Neigungswinkel der Böschungen. Hotelier Schellstede erklärt schlicht, auch für ihn werde auf dem neuen Gästehaus direkt am Ilse-Ufer ein Penthouse gebaut. "Das würde ich wohl kaum machen, wenn ich Angst hätte."
Schellstede ist überzeugt, dass die Zukunft der Lausitz das Wasser ist. Und er ist mächtig stolz darauf, am Ilse-See der "Platzhirsch" zu sein. Das sei der Grund, warum er so früh zugeschlagen habe, als ein Investor gesucht wurde.
Tatsächlich ist Schellstede einer von denen, die sich regelmäßig ins Ungewisse stürzen müssen. So ist er ja überhaupt nur im Osten gelandet. Eigentlich hatte er sich vor 20 Jahren in den Ruhestand verabschiedet. Sein Möbelhaus in Oldenburg lief, und der gelernte Kaufmann hatte nach drei Jahrzehnten Rackerei "so was von die Schnauze voll". Also verkaufte er seine Anteile. Und kurze Zeit später fiel ihm die Decke auf den Kopf. "Das ist ja eine Strafe, wenn man mit 50 plötzlich zu Hause sitzen muss", sagt er.
Nach einem Herzinfarkt blieb er nur einen Tag in der Klinik
Dann kam die Wende, und die Treuhandanstalt suchte Unternehmer, die in den neuen Bundesländern mit anpacken. Schellstede wurde gebeten, ein Möbelgeschäft für die Privatisierung fit zu machen. So landete er in Großräschen. Auf einem Feldbett in einem ungeheizten Raum. "Sechs Monate", sagte er sich. Ein Jahr später war das Geschäft seines. "Ich war neugierig", lautet die schlichte Begründung. "Unser schwarzer Riese hatte ja von blühenden Landschaften gesprochen", sagt er über den ehemaligen CDU-Kanzler Helmut Kohl.
Schellstede ist wohl das, was Politiker gern eine "Unternehmerpersönlichkeit" nennen. Der Oldenburger hat einen Innovationspreis gestiftet, zahlreiche soziale Einrichtungen unterstützt, diverse alte Häuser im Ort gekauft und wieder aufpolieren lassen. Sein Möbelgeschäft hat nie rote Zahlen geschrieben. Vergangenes Jahr hatte Schellstede einen Herzinfarkt. In der Rehabilitationsklinik blieb er genau einen Tag lang. Er habe ja jetzt ein paar Gerätschaften im Körper "mit Garantie über 30 Jahre", witzelt er.
Am Revers seines Jacketts trägt der Unternehmer auch heute noch das Verdienstkreuz des Landes, das ihm der brandenburgische Ministerpräsident 2005 verliehen hat. Er werde weitermachen, solange man ihn lasse, sagt Schellstede und zeigt mit dem Zeigefinger in Richtung Himmel.
"Reise zum Mars" in der Bergbaulandschaft
Alles in allem war die Eröffnung des Seehotels aus Schellstedes Sicht ein logischer Schritt. Eine aussichtsreiche Investition in der eigenen Region - die etwas Durchhaltewillen braucht und viel Arbeit macht. So dachte er zumindest. Denn überraschenderweise habe das Hotel nach sechs Monaten schwarze Zahlen geschrieben, sagt Schellstede.
Die Auslastungsquote liegt mittlerweile bei 54 Prozent. Hochzeiten und Familienfeste werden im Seehotel veranstaltet. Die Renn- und Teststrecken des Lausitzrings, von dem aus der Wind regelmäßig das Motorenjaulen über die Ilse-Grube trägt, bringt Kundschaft. Vor allem aber nutzen Unternehmen den abgelegenen Ort als Tagungsstätte. In der Krise übrigens noch mehr als zuvor, erklärt Schellstede - weil so manche Firma jetzt von fünf auf vier Sterne umsteigt.
In der Region ist schon einiges von dem zu sehen, was das "Lausitzer Seenland" ausmachen soll: eine Mischung aus Natur und alter Industriekultur. Im Keller des Seehotels stehen 40 Fahrräder, mit denen die Gäste entlang der seltsamen Kraterlandschaft radeln können, die der Bergbau in der Gegend hinterlassen hat. Es gibt auch Führungen mitten durch die Schluchten hindurch - das Motto: "Reise zum Mars". In der Nähe wurde eine ehemalige Abraumförderbrücke, die aussieht wie ein liegender Eiffelturm, zu einem Besucherbergwerk umfunktioniert. Mit Aussichtsplattform in 74 Metern Höhe.
Wäre der Ilse-See schon voll, gäbe es so gut wie gar nichts mehr, über das sich Schellstede bei seinem Hotel Sorgen machen müsste. Insofern ist er vielleicht ganz dankbar, dass das Seenland erst in gut zehn Jahren fertig ist. Und um sich in der Zwischenzeit ja nicht zu langweilen, sitzt Schellstede schon am nächsten Projekt. Vor zwei Wochen hat er das verfallene Backsteinhaus am Großräschener Bahnhof gekauft. Es soll ein Gesundheitszentrum werden.
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