Gent Flämischer Flair
Gent - Mitten in der belgischen Großstadt Gent erhebt sich abweisend die graue Festung der Grafen von Flandern aus dem 12. Jahrhundert. Wenige Hundert Meter weiter steht der typische flandrische Glockenturm: der Belfried, ein mittelalterliches Symbol bürgerlicher Macht. Und nur ein paar Schritte davon entfernt stoßen Besucher auf die gotische Kathedrale Sankt Bavo mit ihrem kostbaren Kirchenschatz und dem berühmten Genter Altar. Von den Brüdern Jan und Hubert van Eyck zwischen 1420 und 1432 geschaffen, stellt er auf 22 Tafeln die Heilsgeschichte dar. Spätestens hier wird jedem Touristen klar: Ein Bummel durch Gent ist wie ein Eintauchen ins Mittelalter.
Die 22 Tafeln gelten als ein Höhepunkt der flämischen Malerei, erklärt der Kunsthistoriker Willy Debunderie, während er in dem dreischiffigen Gotteshaus auf den Ausstellungsraum zusteuert. In der Hochsaison stehen vor dieser einstigen Kapelle meist lange Schlangen von Touristen. Dann ist Geduld angesagt. "Hier wurde übrigens 1500 der spätere Kaiser Karl V. getauft", sagt er. Historiker bezeichnen ihn als den Herrscher, "in dessen Reich die Sonne nie unterging".
"Gent ist eine harte, schroffe Stadt, widerspenstig und eigensinnig", schrieb einst der hier geborene Schriftsteller Achilles Mussche (1896-1974). Dieser Wesenszug sei schon an der rauen Aussprache des Flämischen, eines Dialekts des Niederländischen, zu merken. In seinem bekanntesten Roman "Am Fuße des Belfrieds" ging Mussche sozialkritisch auf die Arbeitsbedingungen und das Schicksal der Leinenweber ein, die mit ihrer Arbeit schon im 11. Jahrhundert die Grundlage für den Aufstieg Gents zur Wirtschaftsmetropole legten und schließlich gegen ihre Ausbeutung rebellierten.
Unruhen gehören zur Geschichte der Stadt, betont Debunderie. Der 118 Meter hohe Belfried erinnert an die zuweilen sehr blutigen Machtkämpfe der Kaufmannsfamilien und Zünfte vor allem gegen die Vorherrschaft des Adels. Von der obersten Plattform des Turms haben Besucher heute einen herrlichen Blick über die Stadt am Zusammenfluss von Schelde und Leie. Ein Aufzug führt bis in die Turmspitze.
Schmucke Giebelfassaden
Schmucke Giebelfassaden
Direkt am Belfried liegt die Tuchhalle aus dem 15. Jahrhundert, in der die berühmten flandrischen Stoffe gelagert und gehandelt wurden. Im Stadhuis, dem Rathaus, vermischen sich Spätgotik und Renaissance, 1576 wurde hier die Religionsfreiheit in allen niederländischen Provinzen verkündet. Die Stadt gehörte damals zu den Niederlanden, heute ist sie mit etwa 230.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Belgiens und zugleich der zweitgrößte Handelshafen des Landes. Hier machen auch viele der Flusskreuzfahrtschiffe für Tagesbesuche fest.
"Gehen Sie auf jeden Fall zum alten Hafen", ruft Reiseleiterin Patricia Bonzetti ihrer Gruppe zu, die auf einem nahen Parkplatz aus dem Bus klettert. "Dort liegen auch die Boote für Stadtrundfahrten." Am Kornlei und Graslei, den gegenüber liegenden mittelalterlichen Kais, erheben sich die Giebelfassaden der Lager- und Gildehäuser.
Besonders sehenswert ist das etwa 800 Jahre alte Kornstapelhaus. Seine Fassade neigt sich leicht nach vorn. "Diese Bauweise erleichterte das Hochziehen der Getreidesäcke mit dem Kran", sagt Stadtführer Debunderie. "Der Hafen hatte übrigens einst Weltgeltung."
Für historisch Interessierte sind Fremdenführer eine gute Investition und durchaus erschwinglich. Ihr Verein "Gidsenbond" greift auf etwa 100 Männer und Frauen zurück, die gegen Honorar für einen der mehr als 50 Themenrundgänge in der Stadt angefordert werden können.
Angesichts der vielen Sehenswürdigkeiten sollte für einen Besuch viel Zeit eingeplant werden. "Ein Tag ist eigentlich zu wenig", meint Sandra Anders vom Informationsbüro Flandern-Brüssel in Köln. "Das reicht nur für einen oberflächlichen Eindruck." Die Unesco hat einige der Bauten Gents zum Weltkulturerbe erklärt. Außer dem Belfried zählen dazu zwei so genannte Beginenhöfe. In diesen auf das 12. Jahrhundert zurückgehenden Wohnstiften lebten fromme Frauen, die nicht die klösterliche Abgeschiedenheit suchten. "Gent hat die meisten denkmalgeschützten Gebäude Belgiens", erklärt der Architekturstudent Balduin Buytaert.
Ein bedeutendes Ziel für Kunstinteressierte ist das Museum der Schönen Künste mit Werken der flämischen Meister wie Peter Paul Rubens oder Frans Hals. Es liegt etwas außerhalb des Stadtkerns, zu dem Besucher aber mit der Straßenbahn schnell wieder zurückfinden. Dort laden Straßenlokale zum Beispiel auf dem Freitagsmarkt mit seinen Gildehäusern zur Pause ein. Viele servieren die berühmten Pommes frites und eine der zahlreichen belgischen Biersorten.
Hauptattraktion für die Besucher Gents ist jedoch die komplett restaurierte Grafenburg, in deren Gemäuern es sich trefflich gruseln lässt - etwa im Foltermuseum, das eine Guillotine und authentische Marterwerkzeuge zeigt. Die Festung war einst auch Gerichtsstätte und Kerker. Als neueste Attraktion gibt es einen "Movieguide" - auf dem tragbaren Computer stellen Schauspieler den Alltag von vier Menschen vor, die Ende des 12. Jahrhunderts tatsächlich in der Burg lebten.
Horst Heinz Grimm, dpa