
Design-Shootingstar Virgil Abloh Luxus von der Straße
Am Place Colette vor der Pariser Comédie-Française wird im vergangenen Juni die Demokratie in Fotos festgehalten. Im Minutentakt fahren Limousinen mit abgedunkelten Scheiben vor, und wann immer sich die Wagentüren öffnen, schnellen sofort Hunderte von Händen mit Smartphones in die Höhe. Sie wollen diesen historischen Tag einfangen, an dem die Haute Couture sich mit der Straße verbrüdert. Denn an diesem Nachmittag zeigt das Chicagoer Streetkid Virgil Abloh seine erste Herrenkollektion für die Luxusmarke Louis Vuitton.
Der Afroamerikaner mit den ghanaischen Wurzeln ist weder der erste noch einzige Schwarze in den Kreativabteilungen altehrwürdiger Pariser Modehäuser. Aber noch nie kam einer aus der Streetwear- und Skater-Szene. Abloh ist eng befreundet mit einigen der berühmtesten Rapper und Hip-Hopper der Welt. "Der Underdog, der zum Establishment aufstieg", notiert der Lifestyle-Blog Highsnobiety. Ende 2018 entwarf Abloh eine Teppichkollektion für Ikea, die einen Hype auslöste. Und bei der Biennale in Venedig stellte er seine erste Möbelkollektion vor: "Dysfunctional" heißt sie und ist ein möbelgewordener Kommentar zur Klimakatastrophe - die Beine der Stühle und Tische sind angeschrägt, als versänken sie im steigenden Wasser.
Aufgewachsen ist Abloh in Rockford, Illinois, einer Arbeiterstadt am Rande Chicagos, die laut "Forbes" zwischenzeitlich als drittschlimmste Gemeinde Amerikas galt. Dass so einer zum Kreativdirektor bei Louis Vuitton aufstieg, einer der Ikonen der französischen Luxusmarken, gilt in der Branche als kleine Revolution, mindestens aber als Sensation. Die Erwartungen an seine erste Kollektion waren gigantisch - und sie wurden nicht enttäuscht.
Der Laufsteg: sagenhafte 250 Meter lang und in allen sieben Regenbogen-Farben gefärbt, gesäumt von knapp 2000 handverlesenen Mode-, Architektur- und Kunststudenten und Louis-Vuitton-Mitarbeitern, von Buchhaltung bis Vertrieb. Alle tragen passend zum Regenbogen-Catwalk bunte T-Shirts. Ein Bild wie für Instagram gemacht. Abloh weiß um die Kraft der sozialen Netzwerke. Die T-Shirts sind mit dem Datum der Schau bedruckt, so wird aus einem Give-away ein Sammlerstück.
Für die Show der Superlative hat Louis Vuitton das komplette Palais Royal samt Park reserviert. Das Palais ist ein Pariser Schmuckstück aus dem 17. Jahrhundert, schräg gegenüber dem Louvre. In dem versteckten Garten, der erst Königen und später dem Volk als Rückzugsort diente, herrscht seit jeher eine freigeistige Atmosphäre. Von hier nahm 1789 die Französische Revolution ihren Anfang, als in einem Café unter den Arkaden der berühmte Sturm auf die Bastille angezettelt wurde. Auch Virgil Abloh will Festungen schleifen und Mauern einreißen - die zwischen Streetwear und Designermode.
Mit seinem eigenen Label Off-White mischte er die Fashion-Industrie vor fünf Jahren erstmals kräftig auf. "Ich bringe das traditionelle Schneiderhandwerk mit modernem Lifestyle zusammen", sagt der Junge aus Chicago, der das Musiklabel Bromance Records mitgründete und bis heute überall auf der Welt als DJ auflegt. Ein Teil des Sortiments lasse er in höchster Qualität bei seinem Lieblingsschneider in Italien herstellen, "aber es atmet amerikanischen Spirit und Straßenkultur, Musik, urbane Ästhetik". Seine bedruckten Hoodies, Sweater, T-Shirts und Baggy Pants haben sogar die Weihen der strengen französischen Modekammer erhalten. Seit 2016 defiliert Off-White im offiziellen Kalender der Pariser Schauen.
Dabei kann der 38-Jährige keinerlei Designerausbildung vorweisen. Als Kind besucht Virgil eine katholische Schule, die Mutter ist Schneiderin, der Vater arbeitet für eine Farbenfabrik. Nach der Schule hängt er zumeist mit seinen Skaterfreunden ab. Er studiert Bauingenieurwesen und Architektur und jobbt danach jahrelang an der Seite von Rapper und Produzent Kanye West, er verpasst in der Zeit kaum eine von DJ Benji Bs wöchentlichen Radioshows.
"Ich bin ein Outsider"
"Ich bin ein Outsider, aber für mein Verständnis von Luxusmode gibt es auch gar keine klassische Ausbildung", sagt Abloh. Eine gewisse "Distanz zur Branche" sei ihm wichtig. Genau diese Einstellung mache ihn zum derzeit wohl meistgefeierten Star der internationalen Modeszene, vermutet Lapo Cianchi. Der Talentscout und Kommunikationschef der Herrenmodemesse Pitti Uomo in Florenz verfolgt Ablohs Karriere seit Jahren. 2017 lud er den Shootingstar als Ehrengast auf die Pitti ein. "Virgil steht für etwas Neues und Frisches in der Mode", schwärmt Cianchi. Zugleich zeuge seine Arbeit vom intellektuellen Anspruch, Geschichte und Zeitgeist zu vereinen. "Abloh ist ein ernsthafter Mann, er kreiert nur, was wirklich zu ihm und seiner Kultur passt."
Dazu bandelt er immer wieder mit Partnern an. "Ich liebe es, mit Mode Geschichten zu erzählen, und da sind Kooperationen ein gutes Werkzeug", sagt der Amerikaner. Er wolle sich nicht in bestehende Kategorien einsortieren lassen, sondern frei zwischen den Genres und Branchen wandern.
Nach seiner erfolgreichen Zusammenarbeit mit dem Jeanshersteller Levi's, der Schuhmarke Jimmy Choo und dem Sportartikler Nike kooperiert der Hüne immer häufiger auch mit Marken jenseits des Modebusiness. Mit dem Dufthersteller Byredo etwa entwickelte er eine Kosmetiklinie namens "Elevator Music" (Fahrstuhlmusik), mit dem japanischen Maler Takashi Murakami gestaltete er eine Serie von Kunstwerken ("Technicolor 2"), die dessen Mangamotive mit den grafischen Elementen des Off-White-Logos kombiniert.
Ungewöhnlich auch Ablohs Capsule-Kollektion für den Gepäckhersteller Rimowa. Für die deutsche Traditionsfirma, die seit 2016 zum LVMH-Konzern gehört, entwarf er einen transparenten Polycarbonate-Koffer, der ordentlich Aufsehen erregte. "Die Zeit ist vorbei, in der Produkte nur noch einen reinen Nutzen haben sollten", erklärt der Design-Autodidakt selbstbewusst. "Wir müssen Dinge zu Objekten machen, sie emotional aufladen." Das ist ihm mit dem durchsichtigen Bordcase gelungen. Der Koffer kostet - besser gesagt, kostete - 850 Euro. Er war, wie so viele Off-White-Kooperationen, bereits nach Tagen vollständig ausverkauft.
Die Normalverdiener unter seinen Fans, von denen es weltweit inzwischen viele gibt, hypten seinen neuesten Coup: eine Exklusiv-Teppichkollektion für Ikea. Seine Zielgruppe sind die Millennials, also die in den 1980er und 1990er Jahren Geborenen. Er selbst ist mit seinen fast 41 schon zu alt für "Generation Y". Abloh ist seit 2009 mit seiner Highschool-Liebe Shannon Sundberg verheiratet, einer blonden Vorstadtamerikanerin wie aus dem Seriendrehbuch. Das Paar hat einen kleinen Sohn, Grey, 3, und eine Tochter, Lowe, 6.
Obwohl Abloh einer anderen Generation angehört, begreift er wie kaum ein anderer den Lifestyle der Millennials und ihre Art zu kommunizieren. Virgil wisse genau, wie man eine klare Identität entsprechend kommuniziere, sagt Pitti-Scout Cianchi. Die Schlüsselrolle spiele dabei: Social Media.
Immer online
Off-White war die erste Luxusmarke, die allein über Instagram und Co. ins Bewusstsein einer breiteren Käuferschicht eindrang. "Ich selbst bin immer online, auf allen Kanälen vertreten", sagt Abloh. "Ich arbeite regelrecht von der Straße aus." Entdeckt er etwas Interessantes im Abfall oder ein ungewöhnliches Verkehrszeichen, schießt er sofort ein Foto und teilt es mit seiner Community.
Der Globetrotter mit Büros in New York, Mailand und mittlerweile auch Paris ist 320 Tage im Jahr unterwegs. Und gewährt dabei bereitwillig Einblicke in sein Leben und sein Labor. Einen Tag vor der gehypten Louis-Vuitton-Show hob er auf Instagram schon mal den Vorhang zu seiner Kollektion. Er postete ein Bild von sich, wie er einen grau-weißen Sneaker in die Luft wirft. Das Foto kam auf mehr als 185.000 Likes.
2,7 Millionen Follower hat Abloh persönlich, sein Label Off-White haben 4,2 Millionen abonniert. Er gehört damit zu den weltweit begehrtesten Influencern. So wie auch seine Freunde Kanye West und Gattin Kim Kardashian, Reality-TV-Star Kylie Jenner, Supermodel Bella Hadid oder die Sängerinnen Rita Ora und Rihanna. Zu seinem Debüt bei Louis Vuitton kam der gesamte Inner Circle nach Paris gereist, die US-Promis saßen einträchtig in der ersten Reihe und posteten die Kollektion ihres Kumpels an mehrere Hundertmillionen Instagram-Fans. Zielgruppen-Targeting nennen das Werber.
Diese Social-Media-Power zusammen mit Ablohs Händchen für den richtigen Sneaker zur richtigen Zeit, derzeit einer der wichtigsten Umsatzbringer in der Herrenmode, hat Louis-Vuitton-Chef Michael Burke bewogen, Abloh zu heuern. Seit Jahren blickt die Branche ehrfürchtig und neidisch zugleich auf Gucci, das Luxuslabel aus dem Hause Kering, das Alessandro Michele mit seinen wilden Kreationen nicht nur vor dem Nahtod rettete, sondern zur Kultmarke Nummer eins machte. Burke kannte Abloh noch aus seiner CEO-Zeit bei der LVMH-Marke Fendi, als dieser dort ein Praktikum absolvierte, für 500 Euro im Monat. Das Gehalt dürfte sich verfünfhundertfacht haben.
Seit der erfolgreichen Revolution bei Gucci müssten alle großen Häuser beweisen, dass sie ihren eigenen Stil mit mutigen Brüchen neu zu definieren wagen, erklärt Fashion-Experte Cianchi. Nur so wecke eine Marke noch Interesse.
So gesehen hat Louis Vuitton mit Abloh alles richtig gemacht. Die Show im Palais Royal überstrahlte die ganze Herrenmodewoche, und das, obwohl der Amerikaner nicht mit radikalen Lösungen beim Luxustäschner aufwartete, wie alle es erwartet hatten. Der designierte Kreativdirektor überraschte einmal mehr mit dem Unerwarteten, mit einem sehr feinen Gespür für die Traditionen des Hauses Louis Vuitton. Über den regenbogenfarbenen Laufsteg schickte Abloh klassisch geschneiderte Anzüge, die sich harmonisch mit seinen Luxus-Streetwear-Entwürfen vermischten: vom Seiden-T-Shirt über die handbestickte Bomberjacke bis zum Kaschmir-Parka. Er habe das Erbe der großen Marke respektiert, sie aber mit seiner DNA neu aufgeladen, lobte Roopal Patel, Modedirektor der US-Kaufhauskette Saks Fifth Avenue.
Für Virgil Abloh geht mit dem neuen Job ein Traum in Erfüllung. "Mit Kanye West bin ich schon als Kind in den Louis Vuitton Store in der Michigan Avenue gegangen. Er meinte damals, die Mode werde in Paris gemacht, dort müssten wir hin", erzählt Abloh. "Und nun ist es wirklich passiert."