Berlin Der Modemagnet
"Deutsche Mode"? - Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Das, was im Moment in Berlin passiert, ist etwas völlig Neues, denn Deutschland war eigentlich immer modische Provinz, und Berlin war noch nie eine Modestadt. Berlin war zwar in den zwanziger Jahren eine glanzvolle Stadt, und in der Gegend um den Hausvogteiplatz gab es viele Zwischenmeister und Konfektionäre, aber eine Elsa Schiaparelli, einen Jean Patou oder eine Coco Chanel gab es in Berlin nicht. Die modischen Impulse kamen aus Paris.
In Deutschland wurden die Ideen der Pariser Haute Couture in industrielle, massentaugliche Prêt-à-Porter umgesetzt. Die Deutschen hatten auch schon vor dem zweiten Weltkrieg nicht das Selbstbewusstsein, der französischen Eleganz eine deutsche Eleganz entgegenzusetzen. Von der deutschen Modeindustrie wurde noch nicht einmal erwartet, dass sie einen eigenen, deutschen Chic kreiert, sondern dass sie den Deutschen ein wenig internationalen Chic vermittelt und überhaupt zugänglich macht.
An diesem hinterwäldlerischen Selbstverständnis der deutschen Mode hat sich nach der Schmach des zweiten Weltkriegs erst recht nichts geändert, zumal Berlin als zentralistische Hauptstadt und damit als Nährboden einer kraftvollen Modeszene nicht mehr zur Verfügung stand. Die Nachkriegsmodeunternehmen waren in der gesamten deutschen Provinz verstreut. Und so wie die deutsche Politik nach dem Krieg provisorisch in Bonn zu tagen begann, versammelte sich die Bekleidungsbranche mehr oder weniger zufällig erst einmal in Düsseldorf.
Wie schon vor dem Krieg ging es vor allem darum, einen Hauch von Paris, von Mailand oder von London nach Düsseldorf zu bringen. Davon zeugen die französisch, italienisch oder englisch klingenden Namen, die sich jahrzehntelang alle neuen deutschen Modeunternehmen gaben: Strenesse, Élégance, René Lézard, Escada, Cinque, Carlo Colucci, Marco Polo, Closed, Tom Taylor usw. usw. Diese Marken mit ihren gefälschten Identitäten waren sehr erfolgreich. Denn die deutschen Einzelhändler spielten das Spiel nur zu gern mit. Auf diese Weise brauchten sie für ihren Einkauf nicht ins Ausland zu reisen und sie brauchten keine komplizierten und riskanten Geschäfte mit Franzosen oder Italienern zu machen, um ihre Einzelhandelsgeschäfte, die " Boutique Madame" oder "Moda Uomo" hießen, mit internationalem Flair zu schmücken.
Alle waren glücklich. Doch dann kam die EU. Und dann kam auch noch die Globalisierung. Und plötzlich wusste eigentlich niemand mehr so genau, warum man pseudo-französische oder pseudo-italienische Mode aus der deutschen Provinz kaufen sollte, es sei denn, sie wäre unglaublich billig. Ist sie es aber nicht, dann macht man sich lieber ein paar schöne Tage in Paris und kauft dort das Original. Oder man fliegt kurz nach Mailand und deckt sich dort mit authentischem italienischen Chic ein.
Wie viele andere Branchen fand sich auch die deutsche Modebranche durch die Öffnung der Märkte nicht nur mit einem globalen Absatzmarkt, sondern auch mit einer globalen Konkurrenz konfrontiert. Dies stürzte viele Unternehmen in eine Identitätskrise. Ihre auf den nationalen Markt zugeschnittenen Kollektionen hatten aus internationaler Perspektive kein besonderes Know-How, keine eigene Handschrift, keine starke Identität und kein authentisches Image. Und sie waren nicht mit dem Charisma einer starken Designerpersönlichkeit verknüpft.
Jil Sander war die große Ausnahme
Bis auf eine: Jil Sander. Der Designerin war es gelungen, einen ganz eigenen Look zu kreieren, den die Franzosen und die Italiener nicht im Repertoire hatten. Ein Look der authentisch war, weil er im allerbesten Sinne typisch deutsch war. "Wie bitte? Typisch deutsche Mode? Wo kommt die denn plötzlich her, wenn es doch vorher gar keine wirkliche deutsche Mode gab?"
Stimmt, es gab zwar in Deutschland keine Tradition im Modedesign, aber es gibt seit dem Baushaus eine starke und lebendige Tradition in der Architektur und im Produktdesign. Jil Sander hat die Designregeln und die Gestaltungstugenden, die das Bauhaus für Häuser und für Stühle entwickelt hatte, auf Kleidung übertragen und damit nicht nur einen deutschen Exporthit gelandet, sondern auch den Grundstein für eine deutsche Mode gelegt: Ein eigener Stil war geprägt. Das Modebewusstsein und vor Allem das modische Selbstbewusstsein der Deutschen waren ein wenig gestärkt.
Aber auch die Jil-Sander-Story hatte noch eine Schwachstelle: Auch Heidemarie Jiline Sander konnte sich noch nicht so recht zu der geografischen Herkunft ihrer Kollektion, nämlich Hamburg, bekennen. Damit hätte man im Ausland dann doch nicht so richtig etwas anfangen können. Denn die Deutschen galten im Ausland grundsätzlich immer noch als plump, stur und unkreativ. Für eine richtig gute Fashion-Story fehlte immer noch die passende Stadt, eine Metropole mit dem richtigen Image, eine Stadt, die - um es mit den Worten des Berliner Bürgermeisters zu sagen - sexy ist.
Auf nach Berlin, wo die Verrückten sind
Die kam erst mit der Wiedervereinigung. Plötzlich sahen die Menschen in der ganzen Welt auf ihren Fernsehbildschirmen Deutsche, wie sie sie bisher nicht kannten. Sie sahen zum Beispiel wie mehr als eine Millionen halbnackte, junge Menschen in verrückten Kostümierungen in den sonnigen Straßen Berlins tanzten, und sie verstanden sofort, dass all ihre Vorurteile über das Nachkriegsdeutschland für Berlin keine Gültigkeit haben. Sie verstanden, dass Deutschland eine Sache ist und Berlin eine ganz andere.
Auch ich als ehrgeiziger junger Modedesigner sagte mir: "Du musst nach Berlin, wo die Verrückten sind, da gehörst Du hin." Ich bewarb mich und bekam einen Job bei einem Berliner Designer. Vor Ort musste ich jedoch sehr schnell feststellen, dass Berlin durch den Fall der Mauer nicht über Nacht zu einer Modestadt geworden war. Fördergelder für Designer oder für Modenschauen wie in Paris, Mailand oder Antwerpen gab es nicht. Die Modemessen waren nicht in Berlin, sondern in Düsseldorf und Köln. Die Modepresse war nicht in Berlin, sondern in München und Hamburg. Und die kaufkräftige Kundschaft war in Baden-Württemberg.
Als Daniela Biesenbach und ich uns 1997 dazu entschieden, in Deutschland eine hochwertige Designerkollektion zu machen, dieser Kollektion auch noch einen deutschen Namen zu geben und uns auch noch "Berlin" auf die Fahne zu schreiben, fand das wirklich niemand eine vielversprechende Idee. Doch alles, was für andere gegen unsere Unternehmung sprach, sprach für uns dafür: Wie vermutlich viele andere Designer, die sich in der Zwischenzeit in Berlin niedergelassen haben, sahen wir gerade in der modischen Traditionslosigkeit Berlins die Chance, etwas ganz neues zu schaffen. Der Fall der Mauer war unsere modische Stunde Null. Das neue und noch ganz rohe Berlin war die Tabula Rasa, auf der wir entwerfen wollten.
Skeptiker und Visionäre hatten beide Recht
Ich würde jetzt gerne erzählen, dass wir mit unserer Vision von Berlin als Modestadt Recht hatten und all die Skeptiker Unrecht, aber die Wahrheit ist: Beide hatten Recht. Denn in den ersten Jahren passierte in Berlin modisch überhaupt nichts, außer dass alle Kollektionen um uns herum spätestens drei Jahre nach ihrer Gründung wieder eingestellt werden mussten, was dem Ruf der Berliner Mode mehr schadete als nutzte. Wenn man ehrlich ist, haben die Menschen unsere Entwürfe am Anfang nicht gekauft, weil sie aus Berlin kamen, sondern obwohl sie aus Berlin kamen.
Es ist wahrscheinlich bezeichnend für das neue Berlin, dass diese Stadt einen immer genau dann durch ihre unglaubliche Dynamik überrascht, wenn man gerade dabei ist, an ihrer Trägheit zu verzweifeln. Nach den ersten Jahren der modischen Stagnation ging in Berlin plötzlich alles wahnsinnig schnell. Es war, als hätte jemand diesen riesigen Elekromagneten Berlin endlich angeschaltet: Innerhalb von zwei Saisons kollabierte 2002 in Köln die riesige Herrenmodewoche und Interjeans. Aus dem Nichts entstand die Bread&Butter, kam nach Berlin und wurde die größte Jeans- und Streetwearmesse Europas.
Die Berliner Messe "Premium" entwickelte sich aus einer kleinen Messe in einem toten U-Bahnhof zu einer großen, eleganten Designermesse. IMG und Mercedes Benz etablierten Modenschauen in Berlin. Es haben sich mehrere wegweisende Modedesigner hier profiliert, die einen spezifischen Berliner Stil in der Mode geprägt haben und ihn mit jeder neuen Kollektion weiterentwickeln. Zahlreiche Moderedaktionen wurden in Berlin gegründet, sind von Hamburg oder München nach Berlin umgezogen oder haben permanent Redakteure vor Ort. In seriösen Tageszeitungen werden die neuesten Kollektionen aus Berlin ganzseitig besprochen. Es sind ganze Stadtviertel mit eleganten und spannenden Boutiquen entstanden, in denen es noch vor fünfzehn Jahren höchstens einen übriggebliebenen Konsum-Laden gab.
Einzelhändler in ganz Deutschland, die vor fünf Jahren auf die Frage, ob sie Berliner Designer führen, noch geantwortet hätten: "Nein, wir führen nur internationale Designer.", antworten jetzt: "Ja, wir haben dort Kaviar Gauche, da Lala Berlin, hier Firma und da vorne Michalski." Und wahrscheinlich ist genau das das allerwichtigste, was in den letzten Jahren in der deutschen Mode passiert ist: Dass für mehr und mehr Deutsche - egal ob Modejournalisten, Modeeinzelhändler oder Modekonsumenten - "national" nicht mehr das Gegenteil von "international" ist, sondern dass die nationale Modeszene einfach der Teil der internationalen Modeszene ist, der uns am nächsten ist.
Denn diese Einsicht ist die Voraussetzung dafür, dass die Talente, die es hier wie überall auf der Welt gibt, sich auch hier entfalten können, und dafür, dass Menschen wie Karl Lagerfeld nicht erst nach Paris gehen müssen, um Erfolg zu haben. Und genau diese eigentlich banale Einsicht, für die die Deutschen ein ganzes Jahrhundert gebraucht haben, dass nationale Mode auch und gleichzeitig internationale Mode sein kann, ist die allerwichtigste Vorraussetzung dafür, dass Berlin wirklich eine Modestadt wird und bleibt.
Berliner Modewoche: Von fluffig bis verschnürt