
Sternekoch Thomas Martin will mehr Einfachheit in der Hochküche "Links vier Gabeln, rechts vier Messer, wuselnde Kellner - das nervt"
Thomas Martin ist Küchenchef im Jacobs, dem mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichneten Restaurant im 225 Jahre alten Hamburger Traditionshotel Louis C. Jacob. Im vergangenen Jahr testete er für manager-magazin.de neue Küchengeräte in seiner Küche, zum Interview treffen wir ihn diesmal in der Kantine des Verlags - was Martin sehr angenehm findet: Sonst isst er mittags nur zwei Franzbrötchen, ehe die Arbeit losgeht.
manager-magazin.de: Das altehrwürdige Jacob will seit kurzem mit mehr Lockerheit bei seinen Gästen punkten. Ein Punkt: Es gibt keinen Spiegelservice mehr. Erklären Sie uns kurz, was das ist und warum Sie darauf verzichten?
Martin: Beim Spiegelservice sitzen die Gäste einander gegenüber. Die Kellner kommen mit dem Hauptgang unter einer Glosche, so bleibt das Essen warm. Dann werden die Teller eingesetzt. Das könnte auch einer alleine machen, aber es machen zwei: Damit es eleganter ist und gleichzeitig passiert. Ganz genau gleichzeitig. Die greifen dann gleichzeitig auf den Griff der Glosche, gucken sich an und nehmen dann die Glosche runter.
mm.de: Eine Show.
Martin: Genau. Das Problem ist: Wenn man das jungen Menschen antrainiert, sieht das nicht natürlich aus. Die wirken zu feierlich. Da muss jemand, der eigentlich ganz locker ist, sehr unlocker sein. Damit fühlen sich auch die Gäste nicht mehr wohl. Das ist eine von hunderten Handlungen am Tisch, die im Unterbewusstsein zu Unbehagen führen. Auch die Sprache muss sich ändern: "Meine Dame, mein Herr". "Darf ich der Dame noch etwas Wein nachschenken?" "Hat es dem Herrn gemundet?" Das will man heute nicht mehr hören. Auch und gerade nicht in einem Feinschmeckerrestaurant.
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mm.de: Diese sehr durchchoreografierte Inszenierung des Speisens ist aber auch ein über Jahrhunderte entwickeltes Kulturgut. Die französische Küche ist Weltkulturerbe. Wenn man auf diese Inszenierung verzichtet, geht nicht viel verloren?
Martin: Man muss diese Kultur der Zeit anpassen, an den kleinen Stellschrauben drehen, den Speisefolgen, dem Habitus der Mitarbeiter. Die Regeln für diese Inszenierung der Hochküche wurden ja kurz nach der französischen Revolution erfunden, da ist es mal Zeit, behutsam etwas zu ändern. Es würde vielmehr Esskultur verloren gehen, wenn es Menschen wie mich nicht gäbe. Ich sorge dafür, dass diese Kultur überlebt, der Zeit angepasst. Aber links vier Gabeln, rechts vier Messer und dazu viele Kellner, die immer herumwuseln, etwas zurechtrücken und andauernd nachschenken, obwohl im Glas noch etwas drin ist - das nervt ein bisschen. Das ist alles zu viel.
mm.de: Weniger Aufwand, 64 Plätze statt 45 - da kommt schon die Frage auf: Geht es um Kulturwandel oder auch um Kohle?
Martin: Betriebswirtschaftlich sind unsere Änderungen neutral. Denn: Letztendlich sinkt der Pro-Kopf-Umsatz, weil man ja nicht mehr unbedingt ein siebengängiges Menü verzehrt, sondern vielleicht nur drei Gänge. Der Getränkeumsatz sinkt dann auch, weil die Gäste nicht so lange bleiben. Da machen mehr Tische dann wieder Sinn. Wir wollen aber vor allem das Jacob lebhafter und jünger machen. Wir sind super gebucht und haben ähnliche Zahlen wie vor dem Relaunch.
"Vor lauter Kleinteilen siehst du nicht, worum es geht"
mm: Es ist aber auch ein Risiko für eine Institution wie das Jacobs, sein Kernimage aufs Spiel zu setzen, oder?
Martin: Ja. Ich hätte ja auch sagen können: Ich mache das nicht mit - ich habe zwei Sterne, die will ich nicht riskieren. Ich rüste auf, noch mehr Aufwand, noch ausgefalleneres Porzellan. Das wäre die Nummer-Sicher-Variante gewesen. Aber es spricht mir aus dem Herzen, das zu tun, was wir jetzt tun. Es ist für mich als Koch nicht unwichtig, dass da auch im November noch zwei Sterne im Michelin stehen. Es wäre gelogen, zu sagen, dass mir das nichts bedeutet. Ich wäre nicht da, wo ich bin, wenn ich nicht auch ein gesundes Ego und einen gewissen Ehrgeiz hätte. Man muss aber auch Neues wagen. Sonst würden wir einstauben.
mm.de: Sie wollen auch keine "Straßen und Landschaften" mehr auf dem Teller bauen. Wie sollen wir uns das vorstellen?
Martin: In den vergangenen Jahren wurde die Optik immer wichtiger. Wir haben Kunstwerke auf dem Teller kreiert: Ganz viele Geschmacksrichtungen nebeneinander. Dann entstehen automatisch keine großen Saucenspiegel, sondern Punkte, die sich zu Straßen reihen.
Man hat etwa ein Kalbsfilet und hat dann eine Landschaft darum gebaut. Als Basis Selleriepüree, davon haben wir Punkte gemacht. Darauf kam ein Romanesco-Röschen, ein ganz kleines, dann vielleicht noch zwei Blumenkohlröschen und eine Kaiserschote. Dann wurde eine winzige Fingermöhre mit etwas Grün dran gegart, sehr aufwendig, damit das Grün nicht zerfällt. Und weil Zitrone aromatisch passt, macht man halt noch ein Zitronengel dran. Das Kalb hatte eine Olivenkruste, also kam noch ein Olivendrop an diese Straße. Zum Schluss noch besondere Kressen und Kräuter.
Das sieht toll aus, keine Frage. Aber es ist doch ein Unterschied, ob man Selleriepüree löffelt oder ob man diese drei Punkte isst. Das schmeckst du ja kaum. Mit dem Romanesco ist es genauso: Diese winzigen Elemente, das ist einfach zu wenig Freude im Mund. Das gleiche bei der Sauce: Um dieses fragiles Gebilde nicht zu zerstören, gibt man nur eine kleine Menge Sauce dazu, das macht der Kellner am Tisch. Der macht nicht viel, sondern einen eleganten Streifen. Letztendlich hast du viele schöne Sachen auf dem Teller, aber das, warum es eigentlich geht in unserem Beruf, den Geschmack, den hast du für das Auge vernachlässigt. Es strengt auch den Gast an. Vor lauter Kleinteilen siehst du nicht, worum es geht.
mm.de: Und die Landschaften?
Martin: Landschaft gehen so: Köche nennen ihr Dessert zum Beispiel "Herbstlandschaft". Zwetschge, Quark und Haselnuss als Grundbausteine, und dann haben wir einen großen schwarzen Teller, und darauf eine Landschaft, die herbstlich aussieht. Laub. Moos. Ein Ästchen. Das sieht mega aus. Mega! Aber wenn du es isst, schmeckst du die Zwetschge nicht mehr. Das reicht mir nicht mehr. Das geht auf Kosten des Produkts. Auch ich habe Landschaften und Straßen gebaut. Aber nicht so exzessiv. Für mich war immer das Hauptprodukt wichtig. Jetzt bin ich konsequenter und reduziere alles auf das Notwendige. Damit kann man nur gewinnen. Weglassen kann man immer unheimlich viel. Ich hab auch immer gedacht, man müsste noch einen Kerbelzweig drauflegen. Ich verzichte jetzt auf den Kerbelzweig.
"Ich war immer chronisch pleite, weil ich in tollen Restaurants war"
mm.de: Aber diese Straßen und Landschaften zu bauen, ist ja eine mühevoll erworbene Kunst, die nicht jeder beherrscht. Sie könnten es, machen es aber nicht mehr. Ist das nicht ein bisschen so wie mit einem Porsche durch eine Tempo-30-Zone zu fahren? Ausgebremst?
Martin: Die Frage stelle ich mir immer, wenn ich jetzt mit meinen Souschefs Gerichte entwickle. Ich sage: Reicht das, um die Gäste glücklich zu machen? Um Auszeichnungen zu erhalten? Der jüngere Souschef sagt dann: Das schmeckt genial, aber wir müssen auch ein bisschen Handwerk zeigen.
Wir haben ein Fischgericht entwickelt, und da hatte ich einen Fisch gebraten und eine Sauce dazu entwickelt. Große Begeisterung. Aber mein Souschef sagte: Wir müssen zeigen, was wir können. Er hat es dann nochmal nachgekocht, und er hat dem Fisch Kartoffelschuppen gemacht, um das Handwerk zu zeigen.
Das ist genau das, was ich möchte: Drei Sachen, alles perfekt, sieht toll aus, aber keine Straße, keine Punkte mehr. Ich bin ein Fan aufwendiger Küche, aber ich möchte, dass man bei uns nicht nur das große Kino haben kann, sondern auch einfach mal essen kommen kann, spontan. Ich spreche vielen Gästen aus dem Herzen, die sich klassische Küche wünschen. Ein tolles Produkt, eine Bressepoularde aus Frankreich braucht keine Landschaft aus acht Gemüsen um sich herum, um zu leuchten. Nur eine tolle Sauce und ein schönes Kartoffelpüree.
mm.de: Wie kommt das neue Konzept bei den Gästen an?
Martin: Es ist wirklich super angelaufen. Die Hälfte der Gäste isst nach wie vor Menü, die andere Hälfte wählt à la Carte. Die Gäste lieben die Atmosphäre - sie sitzen gern auf den Sofas, die ganze Stimmung ist lockerer und herrlich entspannt. Außerdem freuen sich die Gäste über die Klarheit der Küche und der Gerichte. Besonders beliebt sind die Fischsuppe und die Apfeltarte, die am Tisch aufgeschnitten wird.
mm.de: Was wünschen Sie sich, wenn Sie selbst Gast sind?
Martin: Ich habe als junger Koch mein Geld für gutes Essen ausgegeben, ich war immer chronisch pleite, weil ich in tollen Restaurants war. In meiner Lehrzeit war meine Nachtlektüre der berühmte Escoffier. Damals hat man herumgeaast mit Kaviar und Trüffeln, Froschschenkeln und Schildkröten, das ganze Programm. Ein Fasangericht wurde so angerichtet, wie der Fasan zu Lebzeiten war - da wurden sogar künstliche Federn aufgemalt. Escoffier war ein Architekt von großen Gerichten. Ich habe jede Nacht in diesem Buch gelesen, während die anderen auf der Piste waren. Ich kenne die klassischen Gerichte also gut, und ich habe die Zusammenhänge verstanden. Ich möchte die Brücke bauen zwischen der alten Klassik und der neuen Moderne. Das ist meine Aufgabe.
mm.de: Ein Wort zum Thema Wein?
Martin: Ich möchte, dass die Gäste mehr Flaschenweine trinken. Ich liebe Weine, die sich über die Jahre hinweg entwickelt haben. Und zwar nicht, weil sie so lange in der Flasche herumlagen, sondern weil ein Weingut sich über Jahrzehnte entwickelt hat - ich stehe einfach auf die großen Franzosen, die tollen Italiener und Spanier. Wein braucht Geschichte. Der Geschmack ist für mich eng mit Kultur verbunden, die lange, lange wachsen muss. Ich möchte, dass diese Weinkultur eine neue Blüte erlebt. Eine Weinreise zum Menü ist schön, aber sorry: Nach sieben Weinen, die man im Glas hatte, kann man sich nicht mehr an den zweiten Wein erinnern.
"Vielleicht möchte der Gast das gar nicht, dass der Koch so im Mittelpunkt steht"
mm.de: Worum geht es im Kern, wenn man in ein Sternerestaurant geht? Die Leute kommen ja nicht, um einfach satt zu werden.
Martin: Es geht um Kultur, um gutes Essen und adäquate Weine. Man möchte einen schönen Abend verbringen. Sich mit Partner oder Partnerin toll unterhalten, über Dinge sprechen, zu denen wir sonst nicht kommen. Dafür brauche ich einen schönen Rahmen. Es darf auch nicht zu laut sein. Es muss Entschleunigung geben. Ich will ja nicht nach einer halben Stunde wieder hinaus - es braucht schon zwei oder drei Stunden. Im Mai essen wir zum Beispiel immer im Haerlin in Hamburg und gönnen uns die ganz große Oper, mit Weinreise und allem Drum und Dran. Das ist für uns ein besonderer Abend. Aber ich würde nicht dorthin gehen, um zwischendurch mal drei Gänge zu essen. Das ist schon ein besonderer Höhepunkt. Ich möchte schon auch durch die Umgebung unterhalten werden, durch die Tischkultur und die Menschen, die dort mit mir sind.
mm.de: Die Zubereitung ist ein wesentliches Element der Hochküche geworden: Die Gäste wollen gucken, was in der Küche passiert. Die Architektur im Jacobs ist, wenn man von Ihrem begehrten Küchentisch absieht, geprägt durch die Trennung von Gastbereich und Küche. Ist das nicht veraltet?
Martin: Ich würde im Jacob keine offene Küche machen, weil es nicht zu uns passt. Eine offene Küche macht hier keinen Sinn. Im Gastraum muss Entspannung sichtbar sein. Wenn ich neu bauen würde, würde ich es genauso machen wie jetzt.
mm.de: Früher waren Köche Maschinisten, man wollte sie nicht schuften sehen - heute sind sie Stars, und die Küche ist eine Bühne.
Martin: Vielleicht möchte der Gast das gar nicht, dass der Koch so im Mittelpunkt steht. Im "The Table" von Kevin Fehling muss das so sein, klar, da ist das Konzept. Aber das gilt nicht für jedes Restaurant. Vielleicht hat sich der Gast auch irgendwann daran sattgesehen.
mm.de: Die Gäste selbst sind auch Bestandteil der Inszenierung. Was lässt Sie zusammenzucken? Gibt es Grenzen beim Dresscode?
Martin: (überlegt lange) Nein. Im Jacob gab es da bisher auch keine bösen Überraschungen. Klar sind manche Menschen etwas merkwürdig angezogen. Aber - nein, es gibt keine No-Gos. Wenn jemand in kurzer Hose kommt - das passiert selten, aber warum sollten wir da etwas sagen? Heute ist erfreulicherweise doch alles toleranter geworden. Wenn der Gast eine tolle Ausstrahlung hat, interessiert mich nicht, was der für eine Hose anhat. Oder ob er rahmengenähte Budapester oder Birkenstock trägt.
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