Trend-Kolumne Die totale Erfüllung
Die Fußball-Weltmeisterschaft ist ein fortwährender Quell der Erleuchtung. Seitdem die Klinsmänner dem Leder hinterherjagen, offenbart sich ein überraschender Tiefenblick in die deutsche Seele.
So konnten wir unter anderem lernen: Die Deutschen sind gar nicht so griesgrämig wie immer angenommen. Selbst Angela Merkel lässt sich neuerdings zu spontanen Gefühlswallungen vor der Kamera hinreißen. Argentinische Fußballfans, extra zur WM nach Deutschland gereist, wundern sich über den hiesigen Frohsinn. José Gulle aus Córdoba in einer "Stern"-Reportage: "Ich dachte, ihr seid das langweiligste Volk der Welt. Nun bin ich begeistert."
Deutschland befindet sich in einer euphorischen Grundstimmung. In unbekümmerter Weise schwenken die Deutschen ihre Fähnchen, Frauen malen sich das Banner auf den Ausschnitt.
Es ist ein Patriotismus light, der fröhlich ist und nicht chauvinistisch. Die Menschenmassen, die in den Stadien und beim "Public Viewing" zusammenkommen, sind eine friedliche Partygemeinschaft. Dabei feiern sie nicht nur ihre Fußballidole, sondern vor allem sich selbst. So haben auch Fußball-Ignoranten Spaß an dieser WM. Eigentlich ist es egal, ob Trinidad und Tobago oder Brasilien spielt, solange der Gute-Laune-Faktor nur hoch genug ist.
Kollektives Glücksgefühl
Noch stärker als bei den Weltmeisterschaften zuvor wird deutlich: Es geht den Menschen nur am Rande um die sportlichen Leistungen der Spieler. Es geht ihnen um die eigene, innere Aufwallung von Glücks- und Gemeinschaftsgefühlen. Deshalb kommen Zehntausende zu den "Public Viewing"-Plätzen und tun sich überfüllte Plätze mit noch überfüllteren Toiletten an.
Das ist rational betrachtet zwar nicht nachzuvollziehen, folgt jedoch einer höheren emotionalen Intelligenz. Die Leute sind auf der Suche nach Glückshormonen. Die Begeisterung der anderen steigert die eigene Begeisterung. Das Ich sucht nach Verschmelzung mit dem Wir.
Diese Motivlage erklärt, warum die Weltmeisterschaft nicht der große Umsatzbringer für den Handel ist. Was sollen sich die Leute teure Flachbildschirme kaufen, wenn es ihnen um den Spaß geht, mit ihren Nachbarn im Hinterhof auf einen kleinen, tragbaren Fernseher zu schauen? So soll das Fußballfest bei Freunden lediglich zwei Milliarden Euro Umsatz zusätzlich bringen, was bei einem Jahresumsatz von 380 Milliarden Euro gerade einmal ein halbes Prozent ist.
Ein Fest der Vorfreude - oder warum man keinen Flachbildfernseher braucht
Fahnen gehen gut
Die längeren Öffnungszeiten zahlen sich für die meisten Händler nicht aus. Wahre Begeisterung kommt nur bei Karstadt auf, denn der Konzern betreibt die Fifa-Shops mit den obligatorischen Fähnchen, Trikots, Kappen und Schals. Derlei Fanartikel sind auch der große Renner bei den Discountläden hier zu Lande. Sie liefern den ästhetischen Schmierstoff für die kollektive Euphorie.
Spöttisch betrachtet könnte man resümieren, dass anstatt in Dauerhaftes zu investieren (zum Beispiel Flachbildschirme), geben die Menschen lieber Geld für Nippes aus, der in kürzester Zeit wieder aussortiert wird (zum Beispiel Fähnchen fürs Auto).
Aus der Distanz betrachtet könnte man allerdings auch sagen: Mit wenig Investment werden große Gefühle realisiert. Die WM-Accessoires sind nur Mittel zum Zweck, aber niemals Selbstzweck. So kündigt die Weltmeisterschaft auch ein Stück von der Evolution des Konsums an, der in eine postmaterielle Phase eintritt. Gefühle sind wichtiger als Waren. Wer seinen Umsatz steigern will, muss daher vom Produktdenken Abschied nehmen.
Fest der Vorfreude
Konsum ist in Zukunft ein emotionaler Service. Was darunter zu verstehen ist, zeigt eine innovative Unternehmung im Netz: www.vorfreude.net - Sieger im ITB-Gründerwettbewerb. "vorfreude.net ist ein Service zur Steigerung des positiven Lebensgefühles." Wer beispielsweise eine Reise gebucht hat, kann sich hier mittels eines virtuellen Kalenders auf das Reiseziel einstimmen und seine Vorfreude genießen. Die Freude auf das Ereignis ist ebenso wichtig wie dessen Realisierung.
Anders ausgedrückt: Die Zeit vor dem Spiel ist das eigentliche Spiel. Hier gibt es viel Platz für innovative Angebote. Hier gibt es das Potenzial für Dienstleistungen, die einen konkreten Zuwachs an Lebensgenuss versprechen.
Oder wie die Autoren des Zukunftsinstituts in ihrer aktuellen Studie "Service-Märkte: Die neuen Dienstleister" schreiben: "Die neue Service-Ökonomie, die sich herauszubilden beginnt, erlaubt es uns, endlich auf das Wesentliche zuzusteuern: auf uns selbst - auf unsere Träume und Sehnsüchte - und auf unsere Beziehungen - auf unsere emotionalen Wünsche und Bedürfnisse." Der lang ersehnte Aufschwung wird sich nicht auf Flachbildschirmen gründen.