Mittelstand Tagebuch einer Insolvenz, Teil 1
Mittwoch, 26. Februar 2003 - Arbeitsgerichtsprozess
Im Oktober war es soweit. Wir hatten früher in der Firma eine große Buchhaltungsabteilung. Wir haben aber viele Kunden verloren und die Mitarbeiterin, die diese Abteilung geleitet hat, verdiente sehr viel Geld.
Sie hat einen sehr guten Job gemacht, war immer zuverlässig und hatte auch gutes Fachwissen. Aber für das Geld hätte ich drei Buchhalterinnen bekommen können.
Als ich die schwindenden Umsätze in diesem Bereich sah, wusste ich, dass eine der Mitarbeiterinnen der Buchhaltungsabteilung gehen muss. Die eine Mitarbeiterin hatte aber einen Ausbildungsschein, und wenn ich sie gekündigt hätte, hätte ich gleichzeitig unsere Auszubildende entlassen müssen - nicht besonders fair.
Wirtschaftliche Schwierigkeiten hin oder her - man muss doch versuchen, wenigstens eine angefangene Ausbildung zu Ende zu führen. Lange hatte ich mit mir gehadert. Es ist - nehme ich an - immer schwierig, wenn ein Kleinunternehmen jemanden entlassen muss. Aber wo fängt man an?
Als Kleinunternehmen hätte ich vor Wut und Unverständnis schreien können, als ich mich mit den arbeitsrechtlichen Hintergründen befasst habe. Die deutsche Gesetzgebung in diesem Bereich hat so wenig mit der Realität des Kleinunternehmens zu tun wie Pandora's Box.
Zwei meiner Mitarbeiterinnen sind schwanger - unmöglich, dass man Schwangere entlässt. Die Sozialauswahl ist vorgeschrieben und verlangt von mir, dass ich mich eingehend mit der persönlichen Situation der Mitarbeiterinnen befasse, jedoch unternehmerische Gesichtspunkte wie Umsatz- oder Auftragsakquise außer Acht lasse.
Die Folge: Es müssten dann Abfindungen gezahlt werden. Was wiederum eine hervorragende Idee ist, wenn man kein Geld hat!
"Klage auf den Tisch"
Außerdem hätte eine Abfindung die Arbeitsplätze meiner anderen sieben Mitarbeiterinnen gefährdet. Aber der Hauptumsatz liegt nun mal in der Marketingabteilung - würde ich dazu gezwungen sein, meine Hauptumsatzträger zu entlassen, nur weil sie jünger sind?
Ich habe lange hin- und herüberlegt und sogar schon einen Sozialplan aufgestellt und Kriterien für die Sozialauswahl gesammelt. Aber obwohl diese Mitarbeiterin älter war, war sie eindeutig diejenige, die aus meiner Sicht gehen musste.
Schweren Herzens habe ich die Kündigung geschrieben und schon an dem Tag habe ich mich vor dem Kündigungsgespräch gefürchtet. Es ist einfach, jemanden zu entlassen, der nicht gut arbeitet - aber als Kleinbetrieb in der Krise ist die Auswahl umso schlimmer.
Obwohl diese Mitarbeiterin als einzige die Zahlen gekannt hat, kam postwendend eine Arbeitsrechtsklage. Ich war sowieso schon fertig, weil ich vor lauter Problemewälzen nicht viel geschlafen. Es war ausgerechnet der Tag vor Weihnachten, als mir die Klage auf den Tisch flatterte.
Ich weiß es auch nicht, warum sie das gemacht hat. Die ganze Mannschaft war stinksauer, weil sie der Meinung waren, dass die Klage unberechtigt und unfair sei. Und nun war der Tag gekommen, an dem wir uns vor Gericht begegnen mussten.
Ein erster Gütetermin im Januar war gescheitert, diesmal war ich zum Kammertermin persönlich geladen. Der Richter wollte sich offensichtlich ein Bild von mir machen. In der Früh stand ich wie gewohnt auf - die Verhandlung war am Nachmittag.
Ich habe hin- und herüberlegt, wie das werden würde, war aber nicht wirklich in der Lage, richtig darüber nachzudenken. Ja - irgendwie hatte ich auch Angst.
Die große Unternehmerin, die alles meistert, hatte Angst. Mit dem Gesetz hatte ich doch nie Schwierigkeiten gehabt. Was, wenn ich verliere? Aber ich habe doch mein Bestes getan - was, wenn ich dastehe und der Richter sieht das nicht?
Ich weiß nicht, ob ich dann noch die Kraft aufbringe, um weiterzukämpfen. Schließlich entlässt man doch niemanden aus betriebsbedingten Gründen nur wegen der Gaudi, wenn man zu dem Zeitpunkt fast ein Jahr lang selber kein Gehalt bekommen hat!
"Du bist nicht Jean d'Arc"
Wenn ich eiskalt wäre, hätte ich doch einfach gesagt: "Ich habe in diesem Monat selber gar kein Gehalt bekommen. Du verdienst das Doppelte wie jede andere hier, du musst gehen." Und das habe ich doch nicht getan - ich habe gewartet, bis es wirklich nicht mehr anders ging und das Wohl der Firma und der anderen Mitarbeiterinnen mich zu diesem Schritt gezwungen haben.
Vor circa zwei Wochen habe ich mir einen Knochen in meiner Hand angeknackst. Eine ganze Woche lang bin ich damit zur Arbeit gegangen und habe versucht, die Schmerzen zu ignorieren.
Ja - Arztbesuche mag ich nicht besonders. Sie verschreiben einem irgendetwas, was benebelt - man kann dann seine Arbeit nicht richtig machen und ich brauchte meine Konzentration - wir stecken doch in der Krise!
Nach einer Woche waren die Schmerzen unerträglich. Ich dachte dann, komm' Anne, du bist nicht Jean d'Arc - ab zum Arzt. Ich habe angerufen. Ich habe einen Superarzt - er ist etwa 50 Jahre alt - zugleich Chiropraktiker und auch Orthopäde.
Er hat oft meine Rückenprobleme gelöst - ich hatte einen schweren Unfall vor vielen Jahren und er kriegt mich immer wieder hin, wenn meine Wirbel spazieren gehen. Er kriegte es auch hin, als ich meinen Zeh am Tag der Messe gebrochen hatte.
Obwohl ich damit zehn Stunden in Stöckelschuhen auf der Messe rumgelaufen bin und erst zwei Tage später zu ihm kam, schimpfte er nicht. Ich glaube, er wusste, dass das bei mir sowieso nicht helfen würde. Auf jeden Fall ging ich hin.
Keiner sagte mir, dass mein Arzt nun einen anderen Arzt in die Praxis dazugenommen hat - na ja, warum denn auch - ich gehe sowieso nur zum Arzt, wenn ich mich wirklich nicht mehr bewegen kann. Ich war schon seit einem Jahr nicht dort.
Als ich den Arzt sah, dachte ich - Mensch, warum bist du nicht öfters beim Arzt? Ein bildhübscher junger Mann - der ist nun mein Arzt - heh - cool!
Er wollte wissen, was mir passiert ist, und ich dachte mir, hübsch hin oder her, wenn ich jetzt alles erzähle, geht das Geschimpfe wieder los. Also sagte ich: "Wenn Sie versprechen, nicht zu schimpfen, dann erzähle ich Ihnen, was passiert ist."
Er nickte und ich fuhr fort. "Also - ich bin im Schnee ausgerutscht, bin auf die Hand gefallen und nun tut sie ziemlich weh." Er fragte mich, wann das gewesen sei. Ach ja, dachte ich, nun wird es losgehen: "Also, vor einer Woche."
"Ein Richter - oder mehrere?"
Er unterbrach mich mit: "Vor einer Woche???" Ich sagte: "Also, wo ich herkomme, ist ein Versprechen ein Versprechen!" Er hörte auf und ich fuhr fort: "Vor einer Woche bin ich im Schnee ausgerutscht und auf die Hand gefallen. Wissen Sie, ich habe mir nichts gedacht. Ich habe weitergearbeitet und nun ist das unerträglich."
Er schaute die Hand an, seine Augenbrauen tanzten auf seiner Stirn rauf und runter. Er sagte - ganz vorsichtig - O.K. - ich glaube, wir müssen röntgen. Dabei haben wir natürlich herausbekommen, dass die Hand angeknackst ist.
Dann gingen aber erst recht die Verhandlungen los. Ich sagte ihm: "Also, bevor Sie mir sagen, was wir machen müssen, sage ich Ihnen, dass die Lösung so sein muss, dass ich damit noch tippen kann." Ich wusste, dass er mich nicht kannte, aber ein Leben ohne Email - das ist doch schlimmer als ein Leben ohne Geld!
"O.K.", sagte er und bat eine Schwester um eine Schiene. "Cool", dachte ich, als ich die Schiene sah - "Die kann ich zur Not auch mal abnehmen, wenn es nicht passend ist, eine Schiene zu tragen".
Er fragte mich, ob er mich nun krankschreiben sollte. Meine Antwort: "Nein danke - ich weiß schon, dass ich krank bin, und falls ich das schriftlich brauche, schreibe ich mir selber." Wahrscheinlich hat er das nicht verstanden, aber nun wirklich - meine Firma steckt in der Krise - wie kann ich da zu Hause bleiben?
So kam es, dass ich für den Gerichtstermin eine Schiene hatte. Die Auswahl der Klamotten, die ich für das Gericht tragen sollte, richtete sich nach der Länge der Ärmel. Was passt noch?
Ich habe schließlich vor lauter Stress in den letzten Monaten sechs Kilo zugenommen - wie, weiß ich auch nicht so richtig, weil ich eigentlich kaum noch was gegessen habe.
O.K., ich esse einmal am Tag und das dann meistens um 23 Uhr! Na ja - der schwarze Anzug - der ist es. Ich dusche, ziehe mich an, schminke mich und bin fertig für das Gericht. Die Schiene sieht man kaum.
Auf dem Weg übe ich schon Mal: " Ich schwöre, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit." War das nun die linke Hand oder die rechte Hand, die man heben muss? Hoffentlich die linke, sonst rutscht mein Ärmel runter und man sieht die Schiene.
Dann wird der Richter wahrscheinlich denken - laufen kann sie ja auch nicht ohne hinzufallen. Nein - ich will, dass er mich kennen lernt, wie ich bin.
Ist es nun ein Richter - oder mehrere Richter? Warum habe ich das nicht vorher gefragt?
Ich weiß nicht, wie es anderen Leuten geht - ich bin immer früher da, wenn ich nervös bin, und so war es auch heute. Ich war 45 Minuten zu früh beim Gericht.
Das entsteht natürlich aus der Angst und auch aus meiner Orientierungslosigkeit. Deshalb kalkuliere ich das immer ein und bin daher oft bis zu einer Stunde früher da, weil ich den Weg meistens doch schneller als erwartet finde.
"Hier gewinnt sowieso kein Arbeitgeber"
Beim Arbeitsgericht war ich noch nie. Angekommen, dachte ich - schauen wir mal, in welchem Gerichtssaal wir sind. Ich fand das gleich und entschied mich, draußen auf meinen Anwalt zu warten.
In diesem Fall hatte ich aber ganz besonders viel Glück, denn ich kenne einen Superanwalt für Arbeitsrecht. Er ist Partner in der Kanzlei Wiese und Wiese in München.
Er vertritt nicht jede linke Socke, sondern legt sehr viel Wert auf Ehrlichkeit und auf seine Berufsehre. Er bereitet sich hervorragend vor - stellt tonnenweise Fragen im Vorfeld, damit er sicher ist, alles zu wissen.
So stelle ich mir einen Anwalt vor. Außerdem ist er einfach ein Supermensch.
Als ich vor dem Arbeitsgericht wartete, freute ich mich, dass gerade er dabei sein würde. Wie wäre es gewesen, so nervös wie ich heute war, mit einem wildfremden Anwalt hineinzugehen?
Ich schaue, wie Angestellter nach Angestellter die Treppe des Arbeitsgerichtes heruntertanzt und zum Handy greift: "Ich habe eine Superabfindung bekommen!" Ich konnte mir einfach nicht helfen, ich dachte mir: "Anne, warum stehst du als Arbeitgeberin heute hier - hier gewinnt sowieso kein Arbeitgeber."
Wir sind eigentlich mitten im Februar, also noch im Winter, und trotzdem scheint die Sonne unentwegt. Ich gucke sie an und freue mich und gleichzeitig frage ich mich "Wirst du nach der Verhandlung noch für mich scheinen?"
Mein Anwalt kommt an und ist besonders einfühlsam; irgendwie sieht er wohl, dass ich Angst habe. Ich habe mich heute gefragt, ob er sieht, dass ich, wenn ich heute nicht gewinne, nicht mehr an Fairness oder Justiz glauben werde.
Egal - das zu artikulieren, wäre unfair - wer weiß, was wir für einen Richter bekommen und er tut doch sein Bestes, mein Anwalt, und ich mag ihn wirklich. Wenn wir nicht gewinnen, liegt das bestimmt nicht an ihm.
Wir unterhalten uns eine Weile draußen. Plötzlich fällt mir ein, dass er auch früher da ist - ich freue mich, dass er mich so gut kennt.
Bestimmt ist das hier für ihn Routine - er ist einer der besten Anwälte für Arbeitsrecht und vertritt auch sehr namhafte Unternehmen mit großem Erfolg. Er ist bestimmt nicht nervös und hat es daher bestimmt auch nicht nötig, früher da zu sein.
Und dann passiert es: Die Mitarbeiterin kommt um die Ecke. Ich sehe sie und grüße sie - wie gesagt, trotz allem - sie hat ja gut gearbeitet. Bei ihrem Anblick bin ich aber etwas perplex. Ich begreife, dass ich wahrscheinlich etwas falsch gemacht habe.
"Lieber Gott, wenn du da bist ..."
Sie weiß anscheinend sofort, wo der richtige Eingang für das Arbeitsgericht ist. Ohne zu schauen biegt sie da ein. Ich selbst musste ziemlich lange suchen, weil es zwei Eingänge gibt. Außerdem ist die kleine hübsche zierliche Mitarbeiterin, die immer mit vom Goldschmied selbst gemachtem Schmuck in die Arbeit gekommen ist, ganz anders.
Einen langen Pulli bis zu den Knien, keinen Schmuck, kein Make-up und auch mit zersausten Haaren. Und ich - geschminkt, im Anzug und frisch gewaschen und gefönt - oh Gott, bin ich blöd!
Ich sage nichts zu meinem Anwalt und bete still und heimlich vor mich hin: "Lieber Gott, wenn du da bist... Das kann nicht sein, oder?"
Endlich ist es soweit, wir müssen in den Gerichtsaal. Ich gehe zuerst mit meinem Anwalt rein - vier Stühle, zwei Tische. Ich piekse ihn und sage: "Wo müssen wir sitzen?" Der Beklagte sitzt scheinbar immer links - nach seinen Anweisungen haben wir uns also links hingesetzt.
Ich schaue mich um. Irgendwie habe ich mir einen Gerichtssaal viel pompöser vorgestellt - hier sieht es aus wie einem übergroßen Wohnzimmer ohne Möbel; nicht gerade gemütlich.
Eine Hitze ist im Gerichtsaal und dann fällt mir ein, dass die Verhandlung vorher gerade aus ist und der Richter nichts zu trinken hat. Ich frage ihn ganz unverfroren: "Bringt Ihnen denn niemand etwas zu trinken?"
Er lächelt mich an und dann denke ich - oops, wahrscheinlich hättest du ihn noch gar nicht ansprechen dürfen, bevor die Mitarbeiterin - ich meine, die Klägerin - ihren Sitz eingenommen hat. Typisch ich - aber es ist doch wahr - so eine Hitze - wie hält er das ohne Wasser aus?
Ich weiß den genauen Wortlaut nicht mehr - es war alles so aufregend und schließlich bin ich Engländerin und musste mich bei der Hitze besonders konzentrieren - aber er hat irgendwas von in Sachen "...gegen Anne Koark erscheinen die Klägerin persönlich usw." gesagt, auf jeden Fall etwas ganz Formelles.
Danach haben wir uns alle gesetzt und dann fragte er in unsere Richtung: "Sind Sie bereit, einen Vergleich zu schließen?" Ach ja - einen Vergleich - das hat doch etwas mit Geld zu tun, oder nicht?
Mein Anwalt fing an "Die Beklagte befindet sich wirtschaftlich in einer sehr schwierigen Position..." Ich weiß, dass er ein Spitzenanwalt ist, sonst hätte er nicht die Kunden (oder nennt man die Mandanten?), die er hat.
Trotzdem dachte ich: "Anne - du musst doch auch selber etwas dazu beitragen." Das lag nicht an dem, was er gemacht hat, sondern daran, dass ich es in meinem Leben bisher kaum jemals geschafft habe, irgendwo einfach still zu sitzen und abzuwarten.
"Wie heißt die richtige Antwort?"
Und die Spannung kombiniert mit Schweigen - das glaube ich, hätte ich nicht lange geschafft. Ich flüsterte also meinem Anwalt ins Ohr: "Ist es erlaubt, dass ich den Richter selber anspreche? Und ist es O.K. für dich, wenn ich das tue?" Er nickt.
Ich weiß nicht - hat er einfach Vertrauen zu mir, oder bin ich so penetrant, dass auch ein Anwalt nicht gegen mich ankommt? Egal, ich muss jetzt sprechen.
Und dann kam es - wie spricht man ein Richter an? Für alle Deutschen im Saal stellte sich diese Frage wahrscheinlich nicht, aber in der Hitze des Gefechtes war es mir wirklich entfallen, wie das richtig auf Deutsch heißt.
Mensch - ich habe Matlock und viele juristische Sendungen im Fernsehen gesehen. Herrschaft - wie heißt das noch mal?
Und plötzlich haben wir keine Zeit und weil ich so entschlossen bin, rede ich einfach los. Ich fange an: "Also, Herr Richter..." Ich weiß, dass das doof klingt. Heute weiß ich, dass ich "Euer Ehren" hätte sagen sollen - aber es ist alles nicht so einfach, wenn man als Ausländerin aufgeregt ist.
"Also, Herr Richter - Sie haben eine Frage gestellt. Wenn ich NEIN darauf antworte, werden Sie denken, ich bin nicht kooperativ. Wenn ich JA sage, treffen wir uns nächste Woche wieder, weil ich das nicht zahlen kann. Bitte könnten Sie mir helfen - wie heißt nun die richtige Antwort?"
Ich sah schon, dass er etwas verdutzt war, verstand es aber nicht ganz, weil ich schließlich die Wahrheit gesagt habe. Er lächelte. "Ist das ein gutes Zeichen", habe ich mich gefragt? Auf jeden Fall lief die Verhandlung weiter und nach kurzer Beratung mit ihrer Anwältin zog die Mitarbeiterin ihre Klage zurück.
Ich war wirklich froh, denn eine Abfindung hätte uns getötet. Ich bedankte mich bei ihr, weil ich dachte, dass sie meine Gründe und die Notwendigkeit eingesehen und verstanden hätte. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass mit ihr immer noch nicht alles in Ordnung ist.
Schade, denn es hätte alles nicht sein müssen. Wie gesagt - ich habe ihr nicht gekündigt, weil es so spaßig war.
Trotzdem - ich ging heraus mit dem Gefühl, dass es doch noch Gerechtigkeit gibt. Es war kein Triumph, weil ich viel lieber überhaupt keinen Gerichtsfall gehabt hätte und schon gar nicht in meiner Situation. Außerdem fand ich es schade, dass es so gekommen ist. Aber ich hatte das Gefühl, es sei richtig und das gab mir heute Mut - jetzt werde ich weiterkämpfen können!
Ich rase nach Hause und greife zum Telefon - das Büro! "Hallo - ich bin es - die Anne", sage ich mit einer ganz gedrückten Stimme. "Seid ihr alle da?" Die Antwort - auch ganz gedrückt: "Ich trommele alle zusammen und wir rufen dich zurück - mit Lautsprecher."
"Manchmal steht man vor einem Berg"
Das Telefon klingelt und ich, wieder mit ganz gedrückter Stimme: "Also" - dann lege ich theatralisch eine ganz große Pause ein. Eigentlich ist das total fies, weil ich weiß, wie sehr sie alle mitgezittert haben.
"Also" - und dann schreie ich los: "Wir haben gewonnen!" Ein Glücksgeschrei am anderen Ende des Telefons: Zwei Amerikanerinnen "Yeah!", und gleichzeitig die deutsche Belegschaft: "Geil!!!!" Was für eine Firma, was für ein Glück! Ja - wir werden es schaffen - ich weiß es!
Heute Abend werde ich auf uns trinken. Dabei fällt mir auf, dass ich in letzter Zeit relativ häufig Rotwein trinke. Dann gehen wieder die Gedanken los - werde ich zur Alkoholikerin?
Trinke ich, um zu flüchten? Nein - ich trinke nur, wenn ich gut drauf bin. Trinke ich zu häufig? Ich eile zum Spiegel, um zu sehen, ob ich eine Schnapsnase habe.
"Mensch, was tue ich eigentlich hier?" Ich muss eine Firma retten, ich kann nicht vor dem Spiegel stehen und untersuchen, ob die Orangenhaut mein Gesicht erreicht hat.
Schließlich bin ich 39 Jahre alt und das eine oder andere Glas Rotwein wird mich nicht gleich als Alkoholikerin enden lassen. Schließlich haben wir tonnenweise Alkohol im Haus und diesen verwende ich nur zum Kochen.
Ich trinke gar nichts, wenn kein Rotwein da ist. Dann urplötzlich denke ich an meinem Vater, der vor eineinhalb Jahren qualvoll an Krebs gestorben ist.
Er hat doch immer zu mir gesagt: "Anne - wenn du keine Probleme hast, dann suchst du welche." Heh Papa, denke ich - ich habe keinen Grund, welche zu erfinden. Ich kämpfe um meine Firma.
Dann denke ich weiter. Er hat doch auch gesagt: "Wenn du irgendetwas wirklich im Leben willst, dann musst du dafür hart arbeiten. Es ist nicht immer einfach und manchmal steht man vor einem Berg, von dem man nicht glaubt, dass man ihn erklimmen könnte. Und trotzdem muss man es wenigstens probieren, sonst bleiben deine Träume nur Luftschlösser."
O.K. Papa - mit dem Gedanken gehe ich weiter. Ich schaffe es - das wirst du sehen!