Unternehmen müssen den Kunden in den Mittelpunkt ihrer Strategie stellen Wettbewerbsschlachten besser vermeiden
KENICHI OHMAE leitet die Mc- Kinsey-Niederlassung m Tokio. Er ist Autor einer Reihe vielbeachteter Bücher, zuletzt erschien von ihm ,Beyond National Borders " (Dow Jones-Irwin, 1987).
Kaum ein anderes Schlagwort beschäftigt die wirtschaftspolitischen Zirkel in Washington und den meisten europäischen Hauptstädten so sehr wie das von der "Wettbewerbsfähigkeit". Und der Ruf nach ihrer Wiederherstellung dürfte wohl allerorten zu jenen Losungen der Politik zählen, die auf breite Zustimmung rechnen dürfen. Doch lange bevor sich die Politiker des Themas ernstlich annahmen, haben zu beiden Seiten des Atlantiks bereits Spitzenmanager der Wirtschaft die Zukunft untersucht und sich insbesondere damit befaßt, wie denn - mit Hilfe welcher Erfolgsmodelle - das kommende neue Wettbewerbsspiel wohl am besten gespielt werden kann. Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren die Modelle, auf die sie dabei stießen und die lehrreichen Beispiele, die sich ihnen aufdrängten, durchweg japanischen Ursprungs. In den Augen vieler westlicher Manager bezeugt die beeindruckende japanische Wettbewerbsleistung auf eindeutige Weise, daß als Gütesiegel einer erfolgreichen Strategie die Schaffung eines Wettbewerbsvorteils gelten muß - irgend eines wesentlichen Vorteils, der erlaubt, die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen. Kommt es für den Markttriumph auf erstklassige Fertigung an, dann seien die Mitbewerber mit den eigenen Fabriken zu besiegen. Gibt schnelle Produktentwicklung den Ausschlag, dann müßten sich die eigenen F + E-Einrichtungen als überlegen erweisen. Und ist ein überragendes Vertriebssystem entscheidend, dann gelte es eben, die Marktrivalen mit Hilfe einer souveränen Logistik zu übertreffen. Kosten nebensächlich, das strategische Hauptziel bestehe einfach darin, die Konkurrenz zu schlagen. Nach einem Jahrzehnt ständiger, schmerzlicher Bodenverluste gegenüber den Japanern haben Manager in den USA und Europa diese vermeintlich so klare Lektion in der Tat recht gut begriffen. Als Handlungsanleitung ist sie eindeutig und als Leistungsmaß geradezu zwingend. Der Fehler nur - diese Lektion ist falsch. Gewiß, in einer offenen Feldschlacht den Sieg davontragen, sei es auf dem Gebiet der Fertigung, der Produktentwicklung oder der Logistik, ist keine üble Sache. Dennoch ist es nicht das, was Strategie ausmacht - oder doch ausmachen sollte. Denn wo die Aufmerksamkeit nur den Mitteln und Wegen gilt, wie sich die Konkurrenz schlagen läßt, da wird Strategie unausweichlich vor allem unter Wettbewerbsaspekten begriffen. Hat die Konkurrenz zum Beispiel eine neue raffinierte Kaffeemaschine herausgebracht, so sollte ein Mitbewerber tunlichst mit etwas Gleichwertigem in seinem Angebot gleichziehen. Senkt ein Konkurrent die Produktionskosten, müssen auch die anderen schnell Hand an die ihren legen. Und sollte die Konkurrenz eine landesweite Werbekampagne beginnen, so muß wiederum jeder der Wettbewerber seiner Agentur unverzüglich Beine machen. Wo enge Tuchfühlung zur Konkurrenz besteht, kann es keiner der Rivalen zulassen, daß sich ein anderer irgendeine Art von Wettbewerbsvorteil verschafft - so oder so ähnlich lautet das Kernargument. Nun ist es bestimmt wichtig, die Konkurrenz ins Kalkül miteinzubeziehen. Aber beim Entwickeln einer Strategie sollte dies nicht vorrangig sein. Denn zuallererst geht es darum, die Kundenbedürfnisse peinlich genau kennenzulernen und zu beachten. Daher muß an erster Stelle die eingehende Analyse der konkreten Möglichkeiten des Unternehmens stehen, diesen Bedürfnissen zu genügen. Es geht außerdem darum, bereit zu sein zu prüfen, welche Produkte das eigene Angebot enthält und wozu sie taugen, und gleichzeitig darüber nachzudenken, wie sich der gesamte Prozeß am besten organisieren läßt, mit dem diese Produkte entwickelt, gefertigt und vermarktet werden. Mögliche Strategien gilt es mit den Realitäten des Wettbewerbs abzugleichen, jedenfalls aber müssen sie mit Blick auf die Kunden und nicht auf die Mitbewerber definiert werden. Auf Aktionen der Konkurrenz unverzüglich mit Gegenmaßnahmen zu reagieren mag auch nötig sein, doch ist das großenteils nur reaktiv und sollte daher erst an zweiter Stelle kommen - nach Ihrer eigentlichen Kernstrategie, mit der Sie vermehrten Kundennutzen zu kreieren suchen. Rechte Schärfe gewinnt diese Strategie überdies aus dem Bestreben, Konkurrenz zu vermeiden - wann und wo immer das möglich ist. Denn wie schon der große Sun Tzu 500 Jahre vor Christus beobachtete, ist die klügste Strategie im Krieg jene, die es einer Partei erlaubt, ihre Ziele zu erreichen, ohne kämpfen zu müssen. So verhielt sich zum Beispiel auch Nintendo: In nur drei Jahren verkaufte das Unternehmen allein in Japan zwölf Millionen Stück seiner "Familiencomputer" und blieb in dieser Zeit praktisch ohne alle Konkurrenz; ein riesiges Netz von Betrieben entstand, die sämtlich zum Erfolg beitrugen. Ricoh lieferte die entscheidenden Zylog-Chips; eine Reihe von Softwarehäusern entwickelte spezielle Spiele (wie Drachen I, II und III), die sich mit den Computern spielen ließen. Alle Beteiligten verdienten viel zu viel Geld, als daß sie sich Gedanken wegen möglicher Konkurrenz machen mußten. Der sichtbare Zusammenstoß von Unternehmen auf dem Markt - in dem Manager oft das strategische Kernproblem sehen - ist nur ein kleines Bruchstück des strategischen Ganzen; denn einem Eisberg vergleichbar bleibt das meiste, was geschieht, im Verborgenen. Der wahrnehmbare Teil kann, zumal in einem Wettbewerb Kopf an Kopf, reines Feldgeschrei sein. Aber der wichtigere Teil bleibt mit Absicht unsichtbar, unter der Oberfläche, dort also, wo wirklicher Kundennutzen geschaffen und die frontale Auseinandersetzung vermieden wird. Sicherlich, zuweilen kann auch der Wettbewerb mit Feuer und Flamme nicht vermieden werden: Das Produkt stimmt, die Marschrichtung am Markt stimmt und die Nutzenwahrnehmung auf Seiten der Kunden ist in Ordnung - nun müssen sich die Manager ins Zeug legen und den Kampf mit der Konkurrenz ausfechten. Aber nach meinen Erfahrungen stürzen sich Manager allzuoft und allzu bereitwillig in solche altmodischen Wettbewerbsschlachten. Dabei fällt es ihnen weit schwerer zu erkennen, wie mit einer wirksam kundenorientierten Strategie die Schlacht überhaupt vermeidbar wäre.
Die große Klemme
In den späten 60er und frühen 70er Jahren konzentrierten sich die meisten japanischen Firmen darauf, ihre Kosten zu senken (durch Programme wie Qualitätszirkel, Wertanalyse und Null-Fehler). Doch als sie dann global tätig wurden, legten sie mehr Nachdruck darauf, sich von den Mitbewerbern abzusetzen. Diese betonte Wettbewerbsdifferenzierung ist inzwischen zu weit gegangen, die Schwelle zu abnehmenden Erträgen wurde überschritten - zu viele Modelle, zu viele Feinheiten, zuviel Schnickschnack. Heute stehen einige der größten und erfolgreichsten dieser Unternehmen vor einem gemeinsamen Problem - der Gefahr, in die Klemme zwischen den billigen Massenherstellern aus den neuen Schwellenländern einerseits und den europäischen Produzenten der oberen Preisklasse andererseits zu geraten. Wenngleich diese Gefahr im Grunde den Managern aller großen Industrieländer Sorgen bereitet, wird sie in Japan am unmittelbarsten und drückendsten bemerkbar. Sie hat prompt dazu geführt, daß die Unternehmen ihre vertrauten strategischen Ziele neu überdenken. Eine der Konsequenzen: Die Firmen entdecken die vorrangige Bedeutung einer Konzentration auf die Kunden wieder - mit anderen Worten, sie sehen die Wichtigkeit der Aufgabe, Strategie auf das zurückzuführen, was Strategie wirklich ist. Derzeit stehen in vielen Branchen Japans die gleichen Zeichen an der Wand: Die vordem so erfolgreichen Strategien ziehen nicht mehr. Da sind auf der einen Seite deutsche Unternehmen, die - wie Mercedes oder BMW im Automobilbau - Spitzenprodukte fertigen und dafür so hohe Preise fordern dürfen, daß selbst stolze Kostenniveaus der Rentabilität nicht ernsthaft Abbruch tun. Und da sind auf der anderen Seite billige Massenhersteller - wie die koreanischen Konzerne Hyundai, Samsung und Lucky Goldstar -, die zu Kosten produzieren, die um die Hälfte niedriger liegen als bei ihren japanischen Konkurrenten. So sehen diese sich peinlich in die Zange genommen, weder imstande, die enormen Gewinnspannen der Deutschen durchzusetzen noch die Tiefstpreise der Koreaner zu unterbieten. Was könnten die derart bedrängten japanischen Unternehmen tun? Meines Erachtens haben sie drei Möglichkeiten: Erstens, da die Produktivität der Koreaner noch immer recht niedrig ist, können sie direkt bei den Kosten ansetzen. Obwohl koreanische Löhne oft nur ein Siebentel oder Zehntel der japanischen ausmachen, könnten die Japaner den Arbeitskostenanteil ihrer Produkte noch entschieden drücken, die Kostenlücke schließen oder sogar umkehren. Praktisch heißt das: Mit Härte auf Vollautomatisierung, robotorisierten Betrieb und völlig flexible Fertigungssysteme hinsteuern, bei Massenwaren wahrscheinlich der einzig mögliche Weg. Nur durch Senkung des Arbeitskostenanteils ließe sich der Kostenvorsprung der Koreaner wettmachen, von anderen Schwellenländern wie China (besonders stark in der Textil- und Schuhindustrie) gar nicht zu reden. Als zweiter Ausweg aus der Klemme kommt der Einzug in ein preislich höheres Marktsegment in Frage, dorthin, wo etwa die Deutschen operieren. Was theoretisch verführerisch scheinen mag, fällt den Japanern in der Praxis allerdings sehr schwer, denn ihre Unternehmenskulturen lassen das nicht zu. Man vergegenwärtige sich nur, was zum Beispiel auf dem Markt für CD-Spieler geschah. Sobald die CDs auftauchten, schoß die Nachfrage nach ihnen in die Höhe, und jedermann verlangte nach einem Abspielgerät - eine ideale Gelegenheit, mit einem "Mercedes"-CD- Spieler in die obere Preisklasse einzusteigen. Was machten aber die Japaner? Unternehmenskultur und Instinkt behielten die Oberhand, also senkten sie die Preise bis auf ein Fünftel dessen, was amerikanische und europäische Wettbewerber für ihre Geräte verlangten. Philips bemühte sich, Preis und Gewinnspanne hoch zu halten, denn man wollte Geld verdienen, die japanischen Unternehmen wollten Marktanteile um jeden Preis. Das ist Narretei - oder ärgeres. Natürlich ist klar, warum die Japaner sich so verhielten. Schließlich waren sie in der Vergangenheit mit ihrem Niedrigpreis-Markteintritts- Spiel sehr erfolgreich; sie verstehen sich darauf (und spielen das auch untereinander furios), aber die Koreaner können es inzwischen noch besser. Nunmehr ist ein anderes Spiel eröffnet, und die japanischen Unternehmen sehen bestürzt, daß Spielzüge, die Niedrigpreis-Anbietern nutzen, sinnlos sind für Unternehmen, die im oberen Marktsegment mitmischen möchten. Doch weil japanische Unternehmen die Geschichte ihrer eigenen Erfolge mitschleppen - und die ist immer mit Preisreduzierungen verknüpft - fällt es ihnen schwer, dem deutschen Weg zu folgen. Was bleibt ihnen aber noch? Die dritte Option - Nutzen stiften für Kunden. Was auch für andere empfehlenswert sein mag, gilt für japanische Unternehmen aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen und ihrer gegenwärtigen Lage besonders: Sie benötigen dringend einen mittleren Weg, einen Weg, der ihnen zu florieren erlaubt, ohne frontal gegen Wettbewerber ankämpfen zu müssen, sei es im Niedrigpreis- oder im Hochpreis- Spiel. Dieser dritte strategische Kurs bringt Manager zum Kern dessen zurück, was Strategie wirklich ausmacht.
Fünf-Finger-Übungen
Stellen Sie sich für einen Moment die Situation von Yamaha vor, einer Firma, die Klaviere herstellt. Nach langen energischen Anstrengungen, weltweit der führende Klavierbauer zu werden, ist es endlich geschafft - dem Unternehmen gehören 40 Prozent des Weltmarktes. Unglücklicherweise beginnt gerade da die Nachfrage nach Klavieren insgesamt um jährlich zehn Prozent zu fallen. Ein Klavier ist ein Klavier, in vielerlei Hinsicht ein Instrument, daß sich seit den Zeiten Mozarts nicht verändert hat. Über die ganze Welt verstreut gibt es bereits 40 Millionen Exemplare, in Wohnzimmern und Buden, Konzertsälen und Vergnügungsstätten. Und die meisten stehen nur herum. Freundlich gesagt: Der Markt ist gesättigt, unverblümter - die Produktion verfällt. Und obendrein kommen die koreanischen Hersteller mit ihren üblichen Niedrigpreis-Angeboten. Besondere Aktionen zur Verteidigung des Marktanteils scheinen nicht aussichtsreich. Höherwertige Klaviere zu fertigen wird auch nicht viel helfen, der Markt ist an den Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit. Was dann? Manche Berater meinten, der richtige Schritt sei, das Klaviergeschäft aufzugeben. Aber Yamaha entschied sich anders. Seine Manager nahmen ihr Produkt und die Kunden intensiv unter die Lupe, um herauszufinden, wie sich ein höherer Nutzen für die Kunden erreichen ließ. Sie wußten, die meisten Klaviere stehen die meiste Zeit ungenutzt - und meist ungestimmt - herum. Keiner scheint mehr recht Zeit zum Spielen zu haben, und Klavierspielen lernen kostet auch eine Menge Zeit. So steht in den Wohnungen dieser vielbeschäftigten Leute also ein großes Möbelstück, das Staub ansetzt und anstelle für Musik sogar noch für Schuldgefühle sorgt. Wie gut eine Verkaufsstrategie auch sein mochte, bei einer solchen Lage würde es einfach nicht zu schaffen sein, noch viele neue Klaviere abzusetzen. Sollte etwas bewegt werden, dann mußte irgendwie der Gebrauchswert dieser Millionen Klaviere erhöht werden. Bei Yamaha entsann man sich des alten elektrischen Klaviers - eines vergnüglichen Instruments mit einem weniger erfreulichen Klang. Mit Hochdruck entwickelte Yamaha eine raffiniert moderne Kombination von digitaler und visueller Technik, die beim Tastendruck nach 92 verschiedenen Wirkungsgraden und Tempi unterscheidet, vom Pianissimo bis zum Fortissimo. Wegen der Digitaltechnik kann jeder Tastenanschlag mit größter Genauigkeit aufgenommen und wiedergegeben werden, mit den gleichen Disketten wie bei den PC. Der einzelne Spieler kann nun Live-Auftritte von Pianisten der eigenen Wahl mitschneiden - oder computergerechte Disketten im Handel erwerben - und dann diese Kompositionen auf dem eigenen Klavier abspielen. Ein völlig neuer Vorteil für Klavierspieler, geboren aus Yamahas Strategie, die Technik einzusetzen. Man denke, für rund 2.500 Dollar können Sie Ihr herumstehendes, Staub fangendes, überdimensioniertes Möbelstück reaktivieren, indem Sie die größten Künstler für sich spielen lassen in der Stille Ihrer eigenen vier Wände. Sie können Ihre Freunde einladen und sie gleichfalls unterhalten - und ihnen dabei die letzte Neuheit in häuslicher Unterhaltungstechnik vorführen. Spielen Sie selbst Flöte, so können Sie sich jemand dazuholen, der Sie auf dem Klavier begleitet, und sogleich alles aufnehmen. Und viele weitere Möglichkeiten bestehen, das wieder tauglich gemachte Klavier zu nutzen, auch unter Einsatz von Telephon und PC. Auf den Klaviermarkt gesehen eröffnet die neue Technik die Aussicht, mit Hilfe solcher 2.500-Dollar-Verkäufe alle jene 40 Millionen Klaviere reaktivieren zu können - keine schlechte Aussicht für eine niedergehende Industrie. Zudem ist das Marktpotential wegen der Software-Tonaufnahmen noch erheblich größer. Yamaha begann mit der Vermarktung dieser Technik im April 1988, und die Verkäufe in Japan entwickelten sich geradezu explosiv. In ein stagnierendes Geschäft (mit einem in den vergangenen fünf Jahren jeweils zehnprozentigen Umsatzrückgang) war Leben zurückgekehrt - auf eine unübliche Weise: Nicht durch Kostensenkungen, Modellvariationen oder andere konventionelle Maßnahmen. Yamaha hatte unvoreingenommen nach Möglichkeiten gesucht, den Kundennutzen zu erhöhen und dabei Erfolg gehabt. Und das Unternehmen fand noch etwas anderes heraus: Es lernte, daß der Prozeß der Suche nach nutzenstiftenden Produkten selbstansteckend ist, er breitet sich aus. Nun, da die Kunden über Klaviere verfügen, die zum Beispiel selbst den jüngsten Horowitz-Klavierabend wiedergeben können, möchten sie ihre Instrumente auch nach professionellem Standard gestimmt haben. Das bedeutet, alle sechs Monate kommt ein Klavierstimmer zu Besuch, was für einen erheblichen zusätzlichen Ertrag sorgt. (Der ist wirklich erheblich, denn mit dieser Dienstleistung werden jährlich weltweit rund 1,6 Milliarden Dollar umgesetzt, eine gewaltige Chance, die von Klavierherstellern und -händlern lange unbeachtet blieb.) Yamaha bot Arbeitern, die sonst beschäftigungslos geworden wären, die Möglichkeit, sich zu Klavierstimmern ausbilden zu lassen. In dem Maße, wie das Klavier wieder populär wurde, wollte eine wachsende Zahl von Leuten auch wieder lernen, das Instrument selbst zu spielen. Und das hieß Kurse, Klavierschulen, Videokassetten und eine Vielzahl weiterer umsatzschaffender Gelegenheiten. Alles in allem ist das Wachstumspotential der Klavierindustrie, Hardware und Software zusammengenommen, weit größer als von irgend jemand zuvor bemerkt. Im Nutzen stiften für den Kunden lag der Schlüssel, um es zu erschließen. Aber werden denn wirklich viele Leute noch Klavierspielen lernen wollen auf die altmodische Weise? Schließlich leben wir in einer Gesellschaft, die Bequemlichkeit schätzt. Und haben wir nicht alle diese Leute vor Augen, die mit einem Stecker im Ohr ins Büro oder in die Schule eilen? Nicht das Interesse an Musik ist zurückgegangen, sondern das Interesse daran, Jahre mit der Anstrengung zuzubringen, ein Instrument beherrschen zu lernen. Auf Befragen geben viele zu, daß sie sehr gern die Fähigkeit besäßen, ein Instrument wie das Klavier spielen zu können. Aber die meisten glauben auch, die Gelegenheit, das zu lernen, schon verpaßt zu haben. Nun fühlen sie sich zu alt und finden nicht die Zeit, um nun noch lange Unterrichtsjahre durchzustehen. Mit den neuen Digital- und Sound-Chip-Techniken braucht das auch niemand mehr - und Wunderkinder sind ebensowenig gefragt. Für l .500 Dollar kann heute ein "Klavinova" erworben werden, ein digitalisiertes elektronisches Klavier, mit dem sich viele wunderbare Dinge vollbringen lassen. Der Käufer kann es auf Spielen programmieren und zur Musik leise mitsummen. Er kann es darauf programmieren, nur die linke Klavierhand zu spielen und diese dann mit einem einzigen Finger begleiten. Er kann eine Unterrichtskassette abhören, die vorgibt, welche Tasten anzuschlagen sind. Er kann im Computer Instruktionen so speichern, daß er nicht alle Noten und Akkorde simultan spielen muß. Die Digitaltechnik macht Mitwirken leicht und zugänglich, das "Spielen" des Instruments wird zum Spaß. Die Technik baut die Lernbarrieren ab. Kein Wunder, wenn dieses Digitalsegment des Marktes inzwischen weit größer ist als der bisherige Analogmarkt. Yamaha hat Akustikinstrumente nicht aufgegeben; es ist heute Weltmarktführer bei nahezu allen akustischen und "technischen" Musikinstrumenten. Aber das Unternehmen studierte seine musikliebenden Kunden und basierte auf den Erkenntnissen eine auf Nutzenstiftung gerichtete Strategie, die den tieferen Wünschen dieser Kunden entgegenkam. Nichts überließ Yamaha dem Zufall - "it got back to Strategy".
Was Kunden wünschen
Die Yamaha-Strategie steht beispielhaft für einen Mittelkurs zwischen dem Vorgehen der Koreaner und dem der Deutschen. Wie aber läßt sich eine solche, den Kundennutzen vermehrende Strategie kreieren? Nicht durch den Vorsatz, die Konkurrenz zu schlagen, sondern allein durch den Willen, zu verstehen, auf welche Weise Nutzwert für die Kunden erreichbar wird. Ein anderes Beispiel: Kao ist ein japanischer Hersteller von Toilettenartikeln, der vier Prozent seiner Erträge für Grundlagenforschung aufwendet, bei der Haut, Haar, Blut, Blutkreislauf und dergleichen untersucht werden. (Diese vier Prozent mögen auf den ersten Blick wenig erscheinen, doch enthalten sie keine Personalkosten; immerhin aber sind 2.800 Mitarbeiter von den 6.700 insgesamt in F+ E tätig.) Unlängst entwickelte die Firma einen neuen Badezusatz, der der Wirkung einer japanischen Thermalquelle entspricht. Thermalwasser aus der Quelle steht unter hohem Druck und hat einen hohen Mineralstoffgehalt. Selbst wenn die richtigen chemischen Stoffe zuhause in ein heißes Bad gegeben werden, kommt nicht automatisch derselbe Kreislaufeffekt wie bei einer Quelle zustande. Doch Babu, die neue Badetablette von Kao, bringt diese Wirkung tatsächlich zustande. Ins Wasser geworfen wirkt sie so wie eine Alka- Seltzer-Tablette im Jumbo-Format, es sprudelt und blubbert, während sich die Kohlenstoffdioxide im heißen Wasser auflösen. Kao's Strategie bestand darin, den Kunden etwas von den üblichen Badegels völlig Verschiedenes zu bieten. Wegen seiner Wirkung auf das allgemeine Wohlbefinden und den Kreislauf gewährte Babu einen neuartigen Vorteil. Tatsächlich brachte es das alte japanische Badegelund Badezusätze-Gewerbe in einem einzigen Jahr zum Verschwinden. Es existiert kein Wettbewerb mehr, denn keiner der möglichen Konkurrenten ist in der Lage, etwas Ähnliches wie Babu herzustellen. Kao hatte das Wettbewerbsspiel nicht auf die übliche Weise gespielt. Es hatte unter Strategie nicht verstanden, die Mitbewerber zu schlagen, sondern als harte Arbeit, den eigentlichen Wünschen der Kunden auf die Spur zu kommen - um sie dann nicht nur mit einer besseren Variante der Konkurrenzprodukte zu befriedigen. Von Haar versteht das Unternehmen inzwischen soviel, daß sein neuestes Tonicum namens Erfolg irgendwo zwischen Kosmetik und Heilkunde konkurrenzlos angesiedelt ist.
Kaffee aus der Maschine
Maßgeblich strategisch denken bedeutet, sich darauf zu besinnen, wozu ein Produkt eigentlich dienen soll. Vor einiger Zeit zum Beispiel versuchte sich ein japanischer Haushaltsgerätehersteller an der Entwicklung einer Kaffeemaschine. Sollte sie mehr einem Modell von General Electric oder von Philips ähneln, eventuell etwas größer oder etwas kleiner sein, fragten sich die Verantwortlichen? Ich drängte darauf, eine ganz andere Art von Fragen zu prüfen: Warum trinken Leute Kaffee? Auf was legen sie Wert, wenn sie es tun? Und falls schon die Absicht besteht, die Kunden besser zufriedenzustellen, warum dann nicht auch überlegen, weshalb Kunden überhaupt so gern Kaffee trinken? Die Antworten würden dann schon zeigen, wie die richtige Kaffeemaschine sein muß. Die wichtigste Antwort kam schnell: Beim Kaffee zählt guter Geschmack. Ich fragte daraufhin die Firmentechniker, was sie denn beitragen könnten, um dem Konsumenten zu einer Tasse guten Kaffees zu verhelfen. Sie meinten, dafür würden sie eine gute Kaffeemaschine zu konstruieren suchen. Als ich aber fragte, was denn den guten Geschmack einer Tasse Kaffee bewirkt, wußte es niemand. Also trugen wir gemeinsam zusammen, was wohl von Einfluß ist - die Bohnen, die Temperatur des Wassers, das Wasser selbst; wir listeten alle möglichen geschmacksbeeinflussenden Faktoren auf. Jeder dieser Faktoren bot den Ingenieuren einen strategischen Freiheitsgrad bei der Konstruktion der Maschine - eine Möglichkeit also, etwas daraus zu machen. Kaffeebohnen können von unterschiedlicher Qualität oder Frische sein, können auf verschiedene Weise zermahlen werden, zu unterschiedlichen Körnungen, die je nach Heißwasseraufguß reagieren. Unter allen Faktoren, so fanden wir heraus, sorgt die Wasserqualität für die größten Geschmacksunterschiede, was die Maschine, die sich zu jener Zeit im Entwicklungsstadium befand, überhaupt nicht berücksichtigte: Man hatte schlicht unterstellt, die Verbraucher würden Leitungswasser benutzen. Als nächstes entdeckten wir, daß die Mischung des Kaffeepulvers und die Zeit zwischen! dem Mahlvorgang und dem Aufschütten des Wassers eine wichtige Rolle spielen. Nun begannen alle, über das Produkt und seine notwendigen Eigenschaften neuerlich nachzudenken. Vor allem mußte es das Wasser entchloren können, und es mußte ein eingebautes Mahlwerk besitzen. Die Verbraucher sollten lediglich Wasser und Bohnen einfüllen - der Rest wäre Sache der Maschine. Stets müssen Sie am Anfang die richtigen Fragen stellen und die richtigen strategischen Vorgaben treffen. Wenn Sie sich nur darum kümmern, daß GE gerade eine neue Maschine herausgebracht hat, die Kaffee in zehn Minuten brüht, dann werden Ihre Techniker Ihnen eine Maschine hinstellen, die das in sieben Minuten schafft. Und wenn Sie auf dieser Schiene weiterdenken, dann werden Ihnen die Marktforscher schließlich mitteilen, alles liefe im Grunde auf Pulverkaffee hinaus. Die üblichen Marketingmethoden lösen das Problem nicht. Durch Verbraucherbefragungen läßt sich jede gewünschte Antwort erzielen. Fragen Sie die Leute, ob sie Kaffee lieber in zehn oder in sieben Minuten möchten, dann werden die natürlich sagen, in sieben. Aber es bleibt die falsche Frage. Und Sie sehen sich an den Punkt zurückgeworfen, wo Sie angefangen haben - bei dem Versuch, die Konkurrenz in einem Spiel zu schlagen, das diese veranstaltet, statt sich darein zu vertiefen, welche tieferen Verbraucherwünsche existieren und durch welche Produktgestaltungen sich die befriedigen lassen. Eine persönliche Bemerkung: Ich würde es vorziehen, mich mit drei Hausfrauen je zwei Stunden über deren Gefühle etwa gegenüber Waschmaschinen zu unterhalten, statt eine 1.000-Personen-Untersuchung zum gleichen Thema durchzuführen. Aus den Gesprächen erfahre ich weit mehr darüber, was Hausfrauen wünschen.
Photographieren
Seinerzeit, Mitte der 70er Jahre, begannen einäugige Spiegelreflexkameras immer beliebter zu werden, und Verschlußkameras gerieten darüber rasch in Mißkredit. Den meisten Leuten sahen diese Apparate nun billig und unprofessionell aus, allenfalls für Aufnahmen minderer Qualität geeignet. Diese Meinung war so stark verbreitet, daß ein Hersteller, für den ich arbeitete, bereits entschlossen war, das Verschlußkamera-Geschäft gänzlich aufzugeben. Alle wollten wissen, daß der Trend zu den Spiegelreflexapparaten ging und daß allein eine bessere Version davon die Konkurrenz schlagen könnte. Ich wußte das nicht. Und darum stellte ich ein paar einfache Fragen: Aus welchem Grund vor allem photographieren die Leute? Was wollen sie wirklich, wenn sie Aufnahmen machen? Die Antwort war simpel. Sie erwarteten nicht eine gute Kamera, sie erwarteten gute Bilder. Photoapparate - ob mit Spiegelreflex oder Verschluß - und Filme waren nicht die Endprodukte, die Konsumenten wollten. Was sie wollten, waren gute Bilder. Warum aber war es so schwierig, mit einer Verschlußkamera zu guten Bildern zu kommen? Damals wußte das niemand. Also gingen wir in ein Filmlabor und sahen einen Stapel von 18.000 Aufnahmen durch, ungefähr sieben Prozent schlechte sortierten wir aus und forschten bei jeder von ihnen nach, was beim Photographieren zu Fehlern geführt hatte. Einige Ursachen waren offensichtlich - etwa falsch eingestellte Entfernungen. Die Ingenieure der Firma gingen dieses Problem auf zweifache Weise an: Sie ergänzten die Optik um eine Plastiklinse, die alle Entfernungen über rund einen Meter im Blickfeld hielt, und sie automatisierten den Vorgang des Scharfeinsteilens. Ein anderer häufiger Grund für schlechte Bilder war das fehlende Licht; das Unternehmen baute einen Blitzlichtgeber direkt in die Kamera ein. Noch ein Problem bereitete auch die Einstellung der Kamera auf den eingelegten Film. Also brachten die Ingenieure einige seitliche Einkerbungen an der Filmpatrone an, so daß die Kamera sich auf die Lichtempfindlichkeit des Films einstellte. Doppelbelichtungen waren ein weiteres Problem, also bekam die Kamera einen Selbstaufzug. Im ganzen kamen wir auf rund 200 Ideen zur Verbesserung der Verschlußkamera. Das Resultat? Eine beinahe völlig neue Konzeption für das Produkt, die das Geschäft mit ihm wiederbelebte. Heute ist der Markt größer als der für Spiegelreflexkameras. Und dieser Erfolg kam nur, weil wir nach den eigentlichen Wünschen der Kunden gefragt hatten und davon ausgehend überlegt hatten, wie die Kamera beschaffen sein muß, die diese Wünsche erfüllt.
Kopfschmerzen und
falsche Logik
Auf Bedürfnisse eines Kunden acht geben, ein Produkt gründlich überdenken - das sind keine exotischen Übungen in Strategie. Sie sind, was sie immer waren, die Grundlage solider Unternehmensführung. Sie wurden oft vernachlässigt oder ganz beiseite gelassen. Aber warum nur sind so viele Manager bereit gewesen, weit von dem wegzudriften was Strategie wirklich bedeutet? Denken wir einmal an Kopfschmerzen. Ist mein Kopfschmerz etwa derselbe wie der Ihre? Meine Erkältung, meine Schmerzen in der Schulter, meine Magenverstimmung - stets so wie die eines anderen? Natürlich nicht. Doch als ein Pharmaunternehmen um Hilfe nachsuchte, um den Prozeß der Einführung neuer Produkte zu verbessern, da wollte es vor allem wissen, wie sich neue Medikamente für solche Regelbeschwerden wie Kopfoder Bauchschmerzen schneller entwickeln lassen. Dazu gab es dann eine Liste mit therapeutischen Kriterien, die das Unternehmen bei seinen F + E-Bemühungen dann getreulich zu erfüllen suchte. Niemand aber hatte sich die Zeit genommen, darüber nachzudenken, wie Menschen die verschiedenen Beschwerden tatsächlich empfinden. Also baten wir 50 Mitarbeiter dieser Pharmafirma darum, einen Fragebogen - im Laufe eines vollen Jahres - auszufüllen, mit Angaben darüber, wie sie sich zu verschiedenen Zeiten an jedem Tag dieses Jahres körperlich fühlten. Anschließend listeten wir die angegebenen Symptome auf und befragten die Wissenschaftler des Unternehmens dazu Punkt für Punkt: Wissen Sie, warum Leute auf die genannte Art und Weise empfinden? Verfügen Sie über ein Medikament im Falle dieser Schmerzanzeichen? Dabei kam heraus, daß es für 80 Prozent der aufgeführten Symptome, die auf körperliches Unbehagen hinwiesen, kein spezifisches Mittel gab. Bei vielen Symptomen wirkte eine Kombination von vorhandenen Medikamenten recht gut, bei anderen Symptomen hatte nie jemand über ein besonderes Mittel dagegen auch nur nachgedacht. Die Wissenschaftler hatten also eine Unmenge Profitmöglichkeiten übersehen. Ohne wirkliches Verständnis für die Bedürfnisse der Verbraucher - also die besonderen Formen von Beschwerden, die sie quälen - fiel es der Firma leicht, einfach zu sagen: "Kopfschmerz? Klar, hier ist das Mittel dagegen, eine Aspirin gegen den schmerzenden Kopf. Fall abgeschlossen, wieder einmal haben wir die Konkurrenz geschlagen - mit Aspirin." Doch die Lösung eines Schmerzproblems ergibt sich nicht allein aus der Umkehrung der Diagnose. Das ist schlechte Heilkunde und noch schlechtere Logik. Niemandem war eingefallen, die nächste Frage zu stellen: "Um welche Art von Kopfschmerzgefühl handelt es sich denn? Woher kommt der Schmerz? Was ist seine tiefere Ursache? Wie läßt sich diese Ursache behandeln und nicht nur das Symptom?" Und sind viele dieser Ursachen denn nicht beispielsweise psychisc hen oder kultur-spezifischen Ursprungs? In den Vereinigten Staaten wird am meisten über Kopfschmerzen geklagt, in Großbritannien über Rückenschmerzen, in Japan über Leibschmerzen. In den USA geben die Leute "rasende" Kopfschmerzen an, in Japan läuft es auf Ulcus hinaus. Wie können wir wirklich erfassen, was diese Leute fühlen und aus welchen Gründen? Eine fehlende oder verkürzte Logik versäumt dann eben, die eigentlichen Bedürfnisse der Kunden bis ins Detail aufzuspüren. Sie führt zur Entwicklung von Gabelstaplern, mit denen sich Kisten wunderschön aufschichten lassen, dem Fahrer aber keine direkte Sicht nach vorn gestatten. Sie führt zu Klavieren, die unbenutzt herumstehen und Staub fangen. Sich auf die eigentliche Strategie besinnen heißt, sich allzu raschen Antworten verweigern, nach besseren Wegen suchen, solchen nämlich, die den Kunden mehr Nutzen bieten werden. Sie bedeutet auch, auf einfache, gradlinige Weise zu fragen, was mit den eigenen Produkten los ist und wozu sie taugen sollen. In aller Kürze heißt das: den strategischen Teil des Managements wirklich ernst zu nehmen. Copyright: © 1989 by the President and Fellows of Harvard College; ursprünglich veröffentlicht in "Harvard Business Review" Nr. 6, November/Dezember 1988, unter dem Titel "Getting Back to Strategy"; Übersetzung: Dr. Horst Georg Koblitz.