Mit Denkansätzen aus der Antike durch die Krise Leadership by Aristoteles

Wenn Sie Ihre Leadership-Fähigkeiten verbessern möchten, worauf sollten Sie dabei genau achten? Die Pandemie 2020 führt uns etwas Entscheidendes vor Augen: Als Führungskraft muss man einschätzen können, welche Art des Denkens für eine bestimmte Herausforderung die geeignetste ist. Eine falsche Herangehensweise wählt, wer beispielsweise nur wissenschaftliche Daten analysiert, wo besser ein werteorientiertes Urteilsvermögen gefragt ist. Oder genauso schlecht: Man verlässt sich nur auf Instinkte, wo eigentlich eine nüchterne Datenanalyse weiterhilft.
Solche Fehler kommen immer wieder vor, denn unterschiedliche Tätigkeiten erfordern unterschiedliche Arten des Wissens und Denkens. Das ist keine neue Theorie, die wir aufstellen: Aristoteles legte sie schon vor zweitausend Jahren dar. Er unterschied dabei zwischen drei unterschiedlichen Arten des Denkens und Wissens, die in drei unterschiedlichen Bereichen des Problemlösens zur Anwendung kommen.
Techne bezeichnet das handwerkliche Wissen: Dabei geht es um das Wissen, wie man Werkzeuge und Methoden verwendet, um etwas zu erzeugen.
Episteme meint demgegenüber das wissenschaftliche Wissen: Das Aufdecken von Naturgesetzen und unanfechtbaren Tatsachen, die "nicht anders sein können" - auch wenn sie im Moment manchmal noch schwer nachvollziehbar sind.
Phronesis wiederum bezeichnet das ethische Urteil und setzt Weisheit und den Wechsel von Perspektiven voraus, wenn Werte miteinander konkurrieren und trotzdem eine Entscheidung getroffen werden muss.
Es ist also in jenen Fällen nötig, in denen die Antwort nicht von vorneherein klar ist, mehrere Optionen möglich und Dinge sehr wohl anders sein können als sie zu sein scheinen. Ein Landwirt, der ein Bewässerungssystem entwirft, oder ein Software-Ingenieur, der einen agilen Prozess implementiert, arbeitet im Bereich der Techne. Ein Astronom, der die Rotation der Galaxien untersucht, bewegt sich im Bereich der Episteme. Und ein politischer Entscheidungsträger, der über die Zuteilung begrenzter Mittel entscheidet, bewegt sich dabei im Bereich der Phronesis.
Aristoteles unterschied diese drei Arten des Wissens, weil sie unterschiedliche Denkstile erfordern. Menschen, die intensiv in einem dieser Wissensbereiche arbeiten, tendieren dazu jene spezifische Art des Denkens zu entwickeln, die für diesen Bereich hilfreich ist und durch die sie sich letztlich von anderen unterscheiden. Der Punkt, den Aristoteles damit machen wollte, war: Will man beispielsweise ein "phronetisches Problem" lösen, sollte man keinen "epistemischen Denker" einsetzen.
Unterschiedliche Denkstile in der Praxis
Stellen Sie sich vor, Sie leiten ein großes Unternehmen. In Ihrem Produktionsbetrieb gibt es zunächst zahlreiche techne-Probleme, für die Sie die richtigen Methoden und Werkzeuge finden müssen. Allerdings sind Sie auch mit epistemischen Herausforderungen konfrontiert, vor allem wenn es um Optimierungsprobleme geht. Jedes Optimierungsproblem – etwa bei der Definition des richtigen Marketing-Mix oder in der Produktionsplanung – setzt implizit voraus, dass es eine absolut richtige Antwort gibt, die es zu finden gilt. Im Bereich der Phronesis sind alle Fragen angesiedelt, die Kompromisse sowie den Umgang mit einer Zukunft erfordern, die unterschiedliche Varianten bereithält. Sie werden allgemein mit "strategisch" bezeichnet – etwa Entscheidungen über Fusionen oder die Einführung neuer Produkte.
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Als Führungskraft eines vielschichtigen Unternehmens besteht nun ein großer Teil Ihrer Arbeit darin, dafür zu sorgen, dass die jeweils richtigen Denkansätze für unterschiedliche Entscheidungssituationen eingesetzt werden. Das setzt voraus, dass Sie selbst mit den unterschiedlichen Denkweisen gut umgehen können - zumindest ausreichend gut, um zu erkennen, welche Denkweise bei welchem Problem angewendet werden muss und wer im Unternehmen dafür am besten geeignet sind.
Die gilt umso mehr für die größten Leadership-Herausforderungen in der modernen Welt, die so vielschichtig und komplex sind, dass diese drei Denkweisen in unterschiedlichen Ausprägungen benötigt werden. Denken wir etwa an eine Liquiditätskrise in einem Unternehmen: Manager benötigen zunächst epistemisches Fachwissen, wie man nämlich am besten mit Kreditvereinbarungen und komplexen Finanzinstrumenten umgeht. Sie brauchen aber zugleich das phronetische Urteilsvermögen, um zu beurteilen, wo kurzfristige Einschnitte (zum Beispiel Entlassungen oder Werksschließungen) langfristig und gesamtheitlich betrachtet den geringsten Schaden anrichten. Dabei müssen unterschiedliche Optionen und damit auch (oft gegensätzliche) Werte gegeneinander abgewogen werden. Hierbei kann man sich nicht nur auf Zahlen verlassen, sondern braucht bei der Abwägung ausreichend phronetisches Wissen und Erfahrung.
Phronetisches Denken in der Krise
Das bringt uns zur Covid-19-Pandemie und den Herausforderungen für Führungskräfte auf allen Ebenen – in globalen Behörden ebenso wie in nationalen und lokalen Regierungen, in großen wie kleinen Unternehmen. Gewiss, die ganze Welt wurde von dieser Katastrophe überrumpelt und frühe Fehltritte waren unvermeidlich, insbesondere angesichts der anfänglichen Fehlinformationen. Dennoch sind seit dem Patienten Null beinahe elf Monate vergangen. Wie ist es möglich, dass wir heute vor einem Trümmerhaufen stehen und unkontrolliert von einer tödlichen Krankheit zu einer wirtschaftlichen Katastrophe übergegangen sind? Unsere Diagnose - nicht als medizinische Experten, sondern als Beobachter von Führungsprozessen: Viele Führungspersönlichkeiten stolperten über die Herausforderung, die richtige Denkweise zu finden, die in den unterschiedlichen Etappen jeweils vonnöten war.
In den ersten Wochen des Jahres 2020 stellte sich Covid-19 als wissenschaftliches Problem dar, das fest im epistemischen Bereich verankert war. Es drängten sich zunächst jene Art von Fragen auf, bei denen ausreichend Daten und Analysekapazitäten meist zu einer richtigen Antwort führen: Was ist das für ein Virus? Woher kommt es? Wie wird es übertragen? Wie äußern sich die Symptome in schweren Fällen? Welche Therapien helfen am besten? Diese unmittelbare Eingrenzung des Problems veranlasste die Verantwortlichen – und die Menschen, die sie beeinflussten – enormes Gewicht auf epistemisch denkende Experten zu legen: konkret – auf Wissenschaftler. (Wenn ein Satz als Mantra des Jahres 2020 in die Geschichte eingehen sollte, dann jener: "Follow the Science".)
Im Vereinigten Königreich führte dies etwa dazu, dass Entscheidungen auf der Grundlage eines Modells von Forschern des Imperial College getroffen wurden. Das Modell verwendete die bis dahin gesammelten Daten, um vorherzusagen, wie sich das Virus in den folgenden Wochen ausbreiten würde (leider ziemlich ungenau). Bei den häufigen Sitzungen des Wissenschaftsrats für Notfälle war ein Regierungsbeamter anwesend, der schon früh versuchte, einige praktische und politische Überlegungen in die Beratungen einzubringen. Er wurde allerdings prompt in die Schranken gewiesen: Er sei nur als Beobachter anwesend. Die Mitglieder des Komitees drückten ihren Unmut darüber aus, dass jemand aus der Welt der Politik versuchen würde, Einfluss "auf einen angeblich unparteiischen wissenschaftlichen Prozess" zu nehmen.
Es stellte sich heraus, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zwar eine absolut notwendige Komponente waren, dass sie allerdings angesichts einer Krise, die zu einer sozialen eskalierte, nicht ausreichen. Schnell wurde klar, dass ein stärkeres Denken in Kompromissen gefordert war. Notwendig wurde daher jene Art politischer Entscheidungsfindung, die mehrere Dimensionen und unterschiedliche Perspektiven berücksichtigte (nämlich das von Aristoteles identifizierte phronetische Denken). Gesellschaften und Organisationen brauchten zu diesem Zeitpunkt dringend Prozesse, die die unterschiedlichen Faktoren menschlichen Wohlergehens, die sich nicht mehr in sauberen Gleichungen abbilden ließen, verlässlich ausbalancierten. Wie sich herausstellte, bestand die Antwort auf die Pandemie daher nicht allein darin, Daten zu sammeln und diese bis ins letzte Detail zu analysieren.
Diese Erkenntnis setzte sich allerdings erst zögerlich durch: Da am Anfang der Krise die epistemische Methode die dominante Vorgehensmethode war, blieb sie auch lange (und bleibt noch immer) im Zentrum der Krisenbewältigungsstrategie. Nur langsam begannen sich die Staats- und Regierungschefs auch den gesellschaftlichen Herausforderungen zu stellen.
Was aber wäre die Alternative gewesen? Wie sollte ein weitblickender Manager in einer Krise wie dieser reagieren? Wir sind davon überzeugt, dass der bessere Zugang gewesen wäre, nicht nur auf das epistemische Wissen etwa der Epidemiologen, Virologen, Pathologen und Pharmakologen zurückzugreifen, sondern auch gleichzeitig sicherzustellen, dass das Problem weiter gefasst wird als in einer rein epistemischen Herangehensweise. Epistemisches Denken tendiert dazu, sich auf jene eng gefassten Nischen zu konzentrieren, in denen eindeutige Antworten von der Art "Es-kann-nur-so-und-nicht-anders sein" gefunden werden können.
Angesichts einer Krisensituation, die bereits von Anbeginn als ein herausforderndes, komplexes und sich ausbreitendes System erkannt wurde, wäre der richtige Weg gewesen, jene Ansätze miteinzubeziehen, die einen ganzheitlichen Zugang berücksichtigen und in denen die verschiedensten Werte gegeneinander abgewogen werden. Hätten die Staats- und Regierungschefs die Pandemie von Anfang an als eine Krise eingestuft, die nicht nur wissenschaftliche Daten und Fakten erfordert, sondern auch ein Höchstmaß an politischem und ethischem Urteilsvermögen, so wären die Entscheidungsträger aller Ebenen angesichts der Schwierigkeit, Testergebnisse zu sammeln, zusammenzufassen und zu vergleichen, nicht derart gelähmt gewesen – etwa in Bezug auf Maskenverordnungen, dem Verbot großer Versammlungen, der Schließung und Wiedereröffnung von Unternehmen und der Vorgabe von Leitlinien für Pflegeheime.
Wir geben zu, dass wir hier mit einem groben Pinsel malen: Zweifellos ist es einigen Staats- und Regierungschefs gelungen, ein Gleichgewicht zwischen einander konkurrierenden Werten zu schaffen und damit die Katastrophen des Jahres 2020 wirksamer zu bewältigen als anderen. Unser Ziel ist auch nicht, mit dem Finger auf Schuldige zu zeigen – unser Ziel ist vielmehr, Covid-19 zu nutzen, um unsere Aufmerksamkeit auf einen grundlegenden, aber unterschätzten Aspekt von Führungsverantwortung zu legen.
Fazit
Es gehört zur Aufgabe einer Führungskraft, Probleme so zu formulieren, dass andere ihre Energie dafür einsetzen können, sie zu lösen. Das beginnt damit, die Natur eines Problems zu verstehen und jene Art und Weise seiner Lösung auszuwählen und vorzugeben. Seine Mitarbeiter aufzufordern, bloß Meinungen zu einem Problem auszutauschen, das eine rigorose Datenanalyse erfordert, ist ein Rezept für eine Katastrophe. Darauf zu beharren, "der Wissenschaft zu folgen", wenn die Wissenschaft das Problem nicht annähernd lösen kann, sorgt hingegen ebenso für Frust und Lähmung.
Die Fähigkeit, die richtige Denkweise zu wählen, die für die Lösung eines spezifischen Problems erforderlich ist, lässt sich durch bewusste Einübung entwickeln. Der erste wesentliche Schritt besteht darin, zu erkennen, dass es diese unterschiedlichen Arten des Wissens überhaupt gibt, und dass es in unserer Verantwortung liegt, zu bestimmen, welche davon wann verwendet werden muss.
Trotz der Arbeiten des Aristoteles haben die meisten Führungspersönlichkeiten über die verschiedenen Arten des Denkens und Wissens, so scheint es, noch nicht viel nachgedacht. Das wird sich ändern – sobald sich Unternehmen und Gesellschaften den immer komplexeren und umfangreicheren Herausforderungen stellen – und dann werden Führungskräfte auch nach ihrer Art des Denkens beurteilt werden.