Wie bewältigt ein Zulieferer die starken Absatzschwankungen in der Dritten Welt? Produktionsplanung in Entwicklungsländern
KARLHEINZ KURT NAUMANN leitet seit Oktober 1987 nach vieljähriger Geschäftsführertätigkeit für deutsche Kfz-Zulieferer in Brasilien, Südafrika und Mexiko die Filiale Säo Paulo der Unternehmensberatung Roland Berger + Partner aus München.
Der Automobilzulieferer bedient prinzipiell drei Märkte, den Serienerstausrüstungs- und Ersatzmarkt sowie den freien Ersatzteilmarkt. Letzterer kann bei einigen Produkten sowohl mit neuen als auch mit fabrikaufgearbeiteten Teilen zur Reparatur oder Aufarbeitung gebrauchter Aggregate beliefert werden. Der Ersatzbedarf ist als stochastische Größe relativ einfach über bekannte statistische Methoden zu prognostizieren und bietet daher für die Produktionsplanung keine besondere Schwierigkeit. Der Serienerstausrüstungsbedarf, der dem Zulieferer durch Abrufprogramme mitgeteilt wird und damit deterministischer Natur sein sollte, verursacht aber gerade in Ländern der Dritten Welt große Probleme, so etwa in Mexiko, wo Volkswagen, Nissan, Ford, General Motors und Chrysler relativ große Montagewerke, unter anderem für den Export in die USA, betreiben. Der lokale Zulieferer ist beispielsweise bei Federbandstahl oder Tiefziehblechen zum Teil noch auf den Import aus Übersee angewiesen und muß in vielen Fällen eine für seinen Bedarf zu große Mindestbestellmenge und Lieferzeiten von bis zu sechs Monaten akzeptieren. Disponiert er kostenbewußt, also knapp, kann er bei erhöhten Abrufprogrammen oder Qualitätsmängeln der importierten Materialien nicht liefern beziehungsweise wird gesperrt und verliert entsprechend Ertrag. Disponiert er sicherheitsbewußt, hat er bei gekürzten Abrufprogrammen hohe Bestände in Hartwährung zu finanzieren. Das ist gerade in inflationsgeplagten Entwicklungsländern problematisch, da die Verkaufspreiserhöhungen des Automobilzulieferers oft unterhalb und die Abwertung der einheimischen Währung oft oberhalb der Inflation liegen. So verzeichnete Mexiko 1986 eine Jahresinflation von 105 Prozent und eine Abwertung des Pesos gegenüber der Mark von 196 Prozent bei Preiserhöhungen, die oft nur knapp 85 Prozent überschritten. Das machte in vielen Fällen die Finanzierungskosten zum bedeutendsten Posten in der Gewinn- und Verlustrechnung. Die Produktionsplanung ist für den Zulieferer so schwierig, weil er in Mexiko seine Abrufprogramme oft zu spät erhält - in Einzelfällen gar erst in dem Monat, für den die Programme gültig sein sollen. Oder er bekommt mehrmals in einem Monat Abrufprogramme mitgeteilt, die stark voneinander abweichen:
Dabei passiert es oft, daß per Telephon noch ein im letzten Abrufprogramm nicht enthaltener Bedarf dringend angefordert wird. Die Ursache für dieses Chaos liegt eindeutig bei der Kfz-Industrie, die entweder nicht in der Lage ist, eine verläßliche Absatzprognose zu erstellen, oder die die prognostizierten Absatzzahlen nicht in verläßliche Produktionsprogramme beziehungsweise Lieferantenabrufe umsetzen kann. Gerechterweise soll aber hier der staatliche Einfluß in Entwicklungsländern erwähnt werden, der solche Prognosen ungemein erschwert. Der Verdacht, daß es sich trotzdem oder gerade deswegen um ein Absatzprognoseproblem handelt, wird durch folgende Tatsache erhärtet: Mexikos Automobilabsatz ging 1986 so stark zurück, daß viele Kfz- Hersteller wochen- oder monatelang Kurzarbeit einlegen mußten, um hohe Haldenbestände (in einigen Fällen mehr als 20 000 Fahrzeuge) abzubauen. Selbst langandauernde Streiks waren in dieser Zeit den Herstellern zur Reduzierung der Produktion bei niedrigen Personalkosten willkommen. Neuanläufe wurden gleichzeitig um bis zu 18 Monate verschoben; diese Entscheidungen wurden so kurzfristig getroffen, daß ein Lieferant von den Werkzeugen bis zum Material für die Serienproduktion der ersten drei Monate schon alles im Hause hatte. Überflüssig zu erwähnen, daß es Fälle gab, in denen der Kunde sich nur nach massiver Vorlage entsprechender Forderungen bereit erklärte, die Werkzeuge, nicht aber das Material zu bezahlen. Die Werkzeugkostenerstattung wurde dabei als besondere Gefälligkeit hervorgehoben, weil die Bezahlung laut Liefervertrag erst nach Abnahme der Serienmuster vorgesehen war. Und daß das Material nicht bezahlt wurde, wurde damit begründet, daß die per Telex mitgeteilten Abrufmengen bloße Information und nicht bindend gewesen seien und daß außerdem die letzte Freigabe noch nicht erteilt worden war. Daß diese vom Kunden verzögert wurde - die notwendigen Muster lagen ihm vor - , war geflissentlich vergessen worden wie die Tatsache, daß der Lieferant vier Wochen früher noch darauf hingewiesen wurde, daß er bei fehlender Lieferbereitschaft eventuell anfallende Importkosten einschließlich der Luftfrachtkosten übernehmen müsse. Daß die Absatzkrise einige Kfz- Produzenten völlig unvorbereitet traf, zeigt die Tatsache, daß zum Teil zwei oder drei Monate vor Beginn der Kurzarbeit neue Arbeitskräfte für eine zweite und dritte Schicht eingestellt wurden. Wie kann sich ein Zulieferer vor den für ihn kostspieligen Fehlern seiner Kunden schützen? Zunächst muß er seinen eigenen Absatzplan so sorgfältig ausarbeiten, daß eine Produktionsplanung nicht nur kurzfristig gültig ist. Dabei ist die in Abbildung l dargestellte Unterteilung nützlich. Aus den erwähnten Gründen wurde der vorhandene fixe Serienerstausrüstungsbedarf in Anführungsstriche gesetzt, da "fix" in der Praxis durchaus "variabel" bedeuten kann. Für den kumulierten Jahresabsatz erhält man das Schema in Abbildung 2. Die ungedeckte Lücke, die zum Beispiel das Erreichen des Break-Even-Punkts verhindern kann, muß mit geeigneten Projekten beziehungsweise Maßnahmen, die alle drei Märkte betreffen können, geschlossen werden. Mit dem Automobilhersteller sollten die Zahlen des Seriengeschäfts regelmäßig besprochen und ihm die Probleme des damit zusammenhängenden Imports klargemacht werden. Einige Kfz-Hersteller zeigen Bereitschaft, in Sonderfällen von der Praxis abzugehen, einen bindenden Abruf zum Beispiel nur für einen Monat und eine bindende Prognose für ein bis zwei weitere Monate zu geben und sich bei Importmaterial ohne Substitutionsmöglichkeit im Land in der Größenordnung der Lieferzeit dieses Materials festzulegen. Parallel dazu sollte der Zulieferer sich bemühen, seine Importabhängigkeit zu verringern. Das ist leichter gesagt als getan, wenn wie in Mexiko nur ein privater Stahlhersteller vorhanden ist, der Bestellungen nur bis zu einem bestimmten Stichtag im Monat entgegennimmt und die pünktliche Auslieferung nicht garantieren kann - von Qualitätsmängeln und minderwertigem Material gar nicht zu sprechen. So muß ein Coil in Mexiko vor dem Schneiden bezahlt werden. Stellen sich beim Schneiden Qualitätsmängel heraus, die das Walzwerk zu verantworten hat, ist der Zug schon längst abgefahren. Daß Walz- und Schneidewerk oft mehr als 1000 Kilometer voneinander entfernt sind, erschwert die Angelegenheit. Also sollte der Zulieferer der Automobilindustrie trotz und wegen der Kundenforderung auch in Mexiko nach Just-in-Time-Lieferungen seine Produktion so planen, daß er den prognostizierten Bedarf eines Monats mindestens vier Wochen vor der geplanten Auslieferung im Fertigwarenlager hat. Unvorhergesehene Störungen und geänderte Abrufe sorgen dann schon von selbst dafür, daß sein Produkt erst kurz vor dem Bedarfszeitpunkt verfügbar ist. Je besser man mit Einzelteilen bevorratet ist, desto schneller kann man natürlich ohne Kopfstände mit der Montage auf Abrufprogrammänderungen reagieren. Das ist vor allem dann vorteilhaft, wenn die erforderliche Flexibilität in der Montage kostengünstiger als in der Fertigung erreicht werden kann, was normalerweise in Entwicklungsländern der Fall ist. Die mit der beschriebenen Verfahrensweise verbundenen Sicherheitsbestände müssen natürlich in der Preisgestaltung des Zulieferers berücksichtigt werden. Dies geschieht am einfachsten durch Anwendung der Formel
mit
wobei unter Gewinn der gewünschte Gewinn zu verstehen ist und die Kosten zur Bestimmung des Zuschlagsfaktors der Gewinn- und Verlustrechnung entnommen werden. Mit anderen Worten: Für die Produktionsplanung ist eine Primärbedarfsdisposition für den Zulieferer unerläßlich, die sicherstellt, daß sein monatliches Produktionsprogramm ohne Änderungen mit der garantierten Verfügbarkeit aller benötigten Materialien und Teile gefahren werden kann. Am einfachsten ist es daher, von einem Lieferprogramm ausgehend das Bruttomontageprogramm abzuleiten, dem Fertigwarenbestand gegenüberzustellen und mit dem dadurch erhaltenen Nettomontageprogramm die Verfügbarkeitskontrolle für Einzelteile per Stücklistenauflösung durchzuführen. Als letzter Schritt folgt dann die Aufstellung des Fertigungsprogramms.
Für die Materialdisposition einschließlich der Disposition der Zukaufteile hat sich dabei bewährt, nicht mit dem echten, sich ständig ändernden Primärbedarf Stücklistenauflösung zu betreiben, sondern einen mittleren Primärbedarf, der über eine bestimmte Periode ermittelt wird, als Basis zu benutzen. Abweichungen zum echten Primärbedarf sollen und müssen durch einen Sicherheitsbestand an Materialien oder Teilen ausgeglichen werden. Nur bei dauernden Abweichungen nach oben oder unten ist eine Anpassung des mittleren Primärbedarfs an die neue Realität angebracht; extreme, aber einmalige Abweichungen sollten als Sonderfall behandelt werden, zum Beispiel durch direkte Bedarfsermittlung per Stücklistenauflösung und Addition zum Material- oder Zukaufteilebedarf, der durch Betrachtung des mittleren Primärbedarfs gewonnen wurde. Eine weitere Vereinfachung ergibt sich, wenn man den Inventurbestand an Materialien und Teilen plus Zugänge minus Ausschuß und Abgänge anstelle des buchmäßigen Bestands benutzt, wobei die Abgänge aus der produzierten Menge an Fertigwaren über Stücklistenauflösung errechnet werden.
Durch dieses Verfahren ist der Zulieferer gezwungen, den Absatz seiner Produkte mindestens monatlich im Detail zu verfolgen und zu prognostizieren, braucht aber nicht - was ein großer Vorteil ist - sein Dispositions- und Beschaffungssystem auf jede Absatzschwankung reagieren zu lassen. Der Absatz pro Produkt (= Fertigwarennummer) sollte dabei zweckmäßigerweise im Team verfolgt werden, unter Federführung des Verkaufs und unter Teilnahme der Produktion und der Logistik einschließlich des Einkaufs. Da die Fertigungsplanung sich wie vorher beschrieben eng an die Montageplanung anlehnt beziehungsweise aus dieser hervorgeht, kann das Fertigungssteuerungssystem einfach gehalten werden. Es reicht für jeden Montageauftrag eine Auftragsstückliste mit der Menge der benötigten Teile, dem Bedarfstermin und dem Hinweis, welche Teile verfügbar sind beziehungsweise noch gefertigt (oder beschafft) werden müssen. Für die zu fertigenden Teile reicht die Eröffnung eines Fertigungsauftrags mit Hinweis auf den zugehörigen Montageauftrag und die Materialverfügbarkeit. Um den Aufwand klein zu haken, sollte der Fertigungssteuerung nicht unbedingt nach Erledigung jedes Arbeitsgangs der aktuelle Status des Fertigungsauftrags mitgeteilt werden. Meist reicht die an besonderen Zählpunkten - zum Beispiel jeder dritte Arbeitsgang oder bei Werkstattfertigung die Überschreitung der Werkstattgrenze - gewonnene Information völlig. Unerläßlich ist der ständige Kontakt mit der Programmabteilung des Kunden. Stellt sich bei einer unbedingt notwendigen Plausibilitätskontrolle der erhaltenen Abrufe heraus, daß wahrscheinlich ein Fehler vorliegt, oder ist der Abruf bis zu einem Stichtag nicht eingegangen, sollte der Kunde schriftlich (!) darauf aufmerksam gemacht werden. Schriftliche Ankündigung ist unbedingt zu empfehlen, weil in Entwicklungsländern meist eine hohe Personalfluktuation herrscht und eine klar definierte oder sichtbare Verantwortlichkeit fehlt. Man sollte sich deshalb als Zulieferer im Interesse des Kunden auch nicht scheuen, direkt den Werkleiter des Kunden auf die Konsequenzen der entdeckten Schwachpunkte hinzuweisen, wenn man im Kontakt zur Programmabteilung keinen Erfolg hat. Daß das aus Zeit- und Sicherheitsgründen per Telex oder Boten mit Empfangsbestätigung erfolgen muß und nicht per Brief, sollte in der Dritten Welt selbstverständlich sein. Versäumt man dies, muß man die oft kostspieligen Folgen eines vom Kunden verursachten Fehlers selber tragen, wenn man auf eigene Faust für eine nicht offiziell geforderte Lieferbereitschaft gesorgt hat, die sich dann doch als unnötig herausstellte. Oder man war im Vertrauen auf einen Fehler nicht lieferbereit und muß Luftfrachtkosten für den Import dringend benötigter Aggregate übernehmen und wird außerdem häufig noch durch den Verlust eines Lieferanteils für einige Wochen oder Monate bestraft. Geschäfte werden von Menschen gemacht, und je früher ein persönlicher Kontakt dafür sorgt, einen Fehler zu vermeiden oder seine Auswirkungen zu begrenzen, desto besser. Keine Fehler zu machen, war schon immer besser und billiger, als Fehler dadurch zu bekämpfen, daß man die Symptome zum Verschwinden bringt.