Wandel Geheimagenten des Change-Managements
Manche Probleme in Unternehmen lassen sich wohl niemals wirklich lösen. Ganz gleich wie sehr sich die Beteiligten auch bemühen: Unmotivierte Mitarbeiter, steigende Kosten, Konflikte zwischen einzelnen Abteilungen - all das wird es immer geben. Doch es gibt Ausnahmen von der Regel: Gruppen oder Individuen, deren glänzende Leistung bei näherer Betrachtung auffällt. Irgendwie gelingt es einigen wenigen, die den gleichen Zwängen ausgesetzt sind und die über die gleichen Ressourcen verfügen wie alle anderen, trotz dieser Widerstände erfolgreich zu sein.
Beim Change-Management geht es darum, die Kluft zwischen dem Ist-Zustand und dem, was möglich ist, zu überwinden. Um Veränderungen in Unternehmen durchzusetzen, werden üblicherweise umfassende Analysen angestellt, mit dem Ziel, zu den Wurzeln der Probleme vorzudringen. Dazu werden externe Experten hinzugezogen und bewährte Praktiken (Best Practices) übernommen. Die Führungskräfte spielen eine zentrale Rolle.
Wir glauben, dass es eine bessere Methode gibt, nämlich eine, bei der "Change Agents" nach den natürlichen Quellen für Veränderung suchen.
Es gibt in Ihrem Unternehmen oder in Ihrer Gruppe fast immer Menschen, die bereits mit einem grundlegend besseren Ansatz als andere an die Dinge herangehen. Unser Vorgehen zielt darauf ab, die isolierten Erfolgsstrategien dieser "positiven Abweichler" im Unternehmen zu verbreiten. Traditionelle Change-Management-Methoden helfen hierbei nicht weiter: Entweder übersehen Manager die vor ihrer Nase liegenden vereinzelten Ausnahmeerfolge; oder sie entwickeln, wenn sie sie doch aufgespürt haben, aus dem Vorgehen eine Standardlösung und versuchen, diese von oben nach unten im Unternehmen durchzusetzen. Das erzeugt selten die für eine Veränderung nötige Begeisterung (siehe Kasten Seite 56).
Es ist Zeit für einen radikalen Bruch. Wir können erreichen, dass Erfolgsstrategien im Unternehmen auf breiter Basis angenommen werden. Nur dürfen wir nicht länger den vertrauten Methoden des Benchmarkings und der Verbreitung von Best Practices verhaftet bleiben. Entscheidend ist, die Mitglieder der Gemeinschaft in den Prozess mit
Praktizierte Veränderung
Skeptische Leser rechnen jetzt möglicherweise damit, dass ihnen mit großem Getöse das "nächste neue Veränderungsmodell" angepriesen wird. Doch tatsächlich haben wir unsere Erfahrungen "nur" aus Projekten abgeleitet, in denen es um einige der größten und hartnäckigsten Probleme ging, die auf diesem Planeten existieren: die Unterernährung der Bevölkerung von Mali und Vietnam, die katastrophalen Schulabbruchquoten in den ländlichen Gegenden Argentiniens, den Mädchenhandel auf Java, die Ausbreitung von Aids in Myanmar und die weit verbreitete Praxis der Beschneidung von Frauen in Ägypten.
Das Modell, das wir daraus entwickelt haben, hat mittlerweile auch Eingang in Unternehmen gefunden. So griff Goldman Sachs darauf zurück, um das Verhalten seiner über das ganze Land verstreuten Anlageberater zu verändern. Ingenieure von Hewlett-Packard (HP) bedienten sich dieses Veränderungsansatzes, um technische Probleme in Angriff zu nehmen. Auch Genentech, Merck und Novartis experimentieren damit.
Anhand einer induktiven Untersuchung haben wir das folgende sechsstufige Modell entwickelt. Es krempelt die gängigen Vorstellungen davon, wie Veränderung durchgeführt werden sollte, völlig um. Wir haben es das Konzept der positiven Abweichung ("Positive Deviance") genannt. (Zu den Unterschieden zwischen dem traditionellen Change-Management und dem Konzept der positiven Abweichung siehe auch Tabelle Seite 58).
1. Stufe
Machen Sie die Gruppe zum Guru
Die Literatur über Veränderungsmanagement betont allgemein die Bedeutung von "Champions" und Führern. Die sind natürlich wichtig. Aber allzu oft erzeugen diese Personen eine schädliche Abhängigkeit bei ihren Teams. Dadurch entbinden sie die Gemeinschaft von der Notwendigkeit, die Verantwortung für die erfolgreiche Umsetzung der Lösungen zu übernehmen. Beim Konzept der positiven Abweichung kommt alles von innen, die Gemeinschaft muss das Problem erkennen und eine Lösung dafür entwickeln. Auch die Verantwortung dafür verbleibt in der Gemeinschaft. Weil die Neuerer aus der Community selbst kommen, lassen sich Skepsis und Widerstand leichter überwinden.
Werfen wir beispielsweise einen Blick auf die Geschehnisse in einem Dorf in Mali. Dort waren die Bewohner allgemein der Überzeugung, der Dorfzauberer sei für die weit verbreitete Unterernährung der Kinder verantwortlich. Der Wille des Zauberers glich einem Naturgesetz, das die Dorfbewohner fraglos akzeptierten. Nichts konnte den Fluch außer Kraft setzten. Es schien unmöglich, daran etwas zu ändern.
Als die Eltern der unterernährten Kinder begannen, das unkonventionelle Verhalten ihrer Nachbarn nachzuahmen, besserte sich der Gesundheitszustand ihrer Kinder. Die Dorfbewohner erlebten eine die ganze Gemeinde erfassende Erleuchtung: Sie konnten selbst aktiv etwas verändern. Das Problem der Unterernährung entzog sich nicht mehr ihren Einflussmöglichkeiten. Eine runzelige Großmutter fasste das Triumphgefühl der Dorfbewohner in dem Ausruf zusammen: "Wir haben den Zauberer besiegt!"
Die Feldbedingungen in Mali weisen Parallelen zur Unternehmenswelt auf. Wie oft stoßen wir auf konventionelle Ansichten, nach denen die Führung die Schuld an den Problemen trägt und auch dafür zuständig ist, sie zu lösen? Der moderne Aberglaube, dass etwa "die Zentrale uns das niemals erlauben wird" oder dass "der Chef schon weiß, was zu tun ist", erzeugt eine Resonanz bei den Mitarbeitern, die an das Dilbert-Prinzip erinnert, so wie bei den Dorfbewohnern, die schicksalsergeben dem Zauberer gehorchten.
Bei Hewlett-Packard wurde ein offenbar verzwicktes technisches Problem gelöst und in einen Wettbewerbsvorteil verwandelt, als ein positiver Abweichler entschied, sich der Herausforderung zu stellen. Es ging um Folgendes: Bleiben Computer einfach angeschaltet - das gilt für die meisten PC -, laufen sie irgendwann heiß, wodurch es vermehrt zu Systemfehlern und -abstürzen kommen kann. In regelmäßigen Abständen pflegte das Management vage zu erklären, dass man hinsichtlich des Problems etwas unternehmen müsse. Aber die Ingenieure des Unternehmens wurden dafür belohnt, sich intellektuell anspruchsvolleren Aufgaben zu widmen, und stuften das Ganze als niedere Handwerksarbeit ein. In diesem Fall war der Zauberer die felsenfeste Überzeugung, dass Überhitzung einfach eine unabänderliche Tatsache war. Jeder Computer auf diesem Globus heizte sich auf, und man konnte kaum etwas dagegen tun. Außerdem waren die Ingenieure der Meinung, für wahre Experten gäbe es glorreichere Aufgaben zu lösen.
Im Rahmen eines Programms innerhalb des Forschungsbereichs von HP wurde eine Gruppe von Ingenieuren verpflichtet, das Konzept positiver Abweichung aufzugreifen. Einer von ihnen, Chandra Patel, beschloss, sich dem Problem der Wärmeableitung ernsthaft zu widmen. Er machte sich auf die Suche nach jedem noch so kleinen Hinweis, der zu einer Lösung führen konnte. Und tatsächlich gab es in der über den ganzen Globus verstreuten, eingeschworenen Gemeinschaft von HP-Ingenieuren ein paar positive Abweichler, die sich mit dem Problem befasst und bereits unterschiedliche Ideen und Prototypen zur Kühlung des Prozessors entwickelt hatten. Schließlich rief die Recherche hundert begeisterte Ingenieure auf den Plan und führte zu einigen originellen Lösungen.
Heute genießt HP im Bereich des so genannten Wärmetransfers eine unbestrittene Führungsposition. Die Computer sind besser gekühlt und fallen dadurch seltener aus. Dieser Wettbewerbsvorteil macht sich beim Gewinn von HP in Höhe von mehreren Millionen Dollar bemerkbar. Patel wurde mit einer schnellen Beförderung belohnt und genoss die Anerkennung seiner Kollegen.
2. Stufe
Schaffen Sie neue Fakten
Probleme, deren Definition auf einen bestimmten Kontext begrenzt ist, finden garantiert nur eine auf diesen Rahmen begrenzte Lösung. Wenn Sie ein Problem neu formulieren, verlagern Sie die Aufmerksamkeit auf fruchtbare, bislang unbekannte Felder und lassen neue Gedanken zu. Nach dem Konzept positiver Abweichung zu arbeiten bedeutet, ein konkretes Problem aufzuspüren und es anders zu formulieren. Sie müssen vermeiden, in überholte Klischees zurückzufallen oder sich mit Pseudoproblemen zu beschäftigen.
Dies half beispielsweise zwei Dutzend Lehrern und Rektoren, das Problem der hohen Schulabbruchquoten an den Grundschulen in ländlichen Gegenden Argentiniens zu lösen. Die Weltbank hatte dazu Workshops über positive Abweichung gesponsert. Die Rektoren und Lehrer hatten den starken Verdacht, dass das Bildungsministerium des Landes versuchte, ihnen die überdurchschnittlich vielen Schulabbrüche anzulasten, um so von der Verantwortung des Ministeriums für das erschreckend unterfinanzierte Bildungssystem abzulenken. Während 86 Prozent der Kinder in ganz Argentinien die Grundschule abschlossen, schafften dies nur 56 Prozent der Kinder in der ländlichen Provinz Misiones.
Stellen Sie sich das folgende Szenario vor: Eine kahle Cafeteria mit Betonboden und Stahlstühlen, auf denen die Lehrer und Rektoren mit über der Brust verschränkten Armen sitzen. Ihre Körpersprache ist viel sagend: "Na gut, beeindruckt
Die Schuld für das Problem lag ihrer Meinung nach woanders, bei den faulen Schülern, den desinteressierten Eltern oder den jämmerlichen Grundvoraussetzungen.
Die Atmosphäre änderte sich, als die Workshop-Teilnehmer der Frage nachgingen, ob irgendeine von den gleichen Zwängen geplagte Schule bessere Ergebnisse vorweisen konnte. Besonders hilfreich war die Statistik über Schulabbrecher im Bereich Misiones. Zwar konnten zahlreiche Schulen durchschnittliche Werte vorweisen. Zu ihrer Verblüffung entdeckten die Workshop-Teilnehmer aber auch eine Schule, an der 100 Prozent der Schüler bis zur sechsten Klasse durchhielten (Die argentinische Elementarschule hat sechs Schuljahre - Anm. d. Red.). Und sie fanden zehn Schulen, an denen dies bei immerhin 90 Prozent der Schüler der Fall war. "Wie", so fragten sie sich, "schaffen es diese Schulen, so viele Schüler zu halten?" Schließlich hatten deren Lehrer vermutlich ebenfalls kein Gehalt bekommen. Die Stimmung wandelte sich von selbstgerechtem Ärger in Verwunderung und Neugier.
Die Teilnehmer des Workshops besuchten die Schulen mit den guten Ergebnissen und stellten fest, dass der Unterschied nicht beim Unterricht lag. Vielmehr handelten die Lehrer der ländlichen
Ein anderes Beispiel dafür, wie harte Fakten die Sichtweise verändern können - auch wenn das nicht auf Basis des Konzepts der positiven Abweichung geschah -, ist das Vorgehen von Billy Beane, dem gefeierten Manager der Basketballmannschaft "Oakland A". Im Jahr 1997 übernahm Beane das vom Abstieg bedrohte Baseball-Team einschließlich eines dazugehörigen Franchiseunternehmens mit kleinem Budget.
Aber statt von den Clubeignern mehr Geld für den Erwerb besserer Spieler zu fordern oder mit Talentsuchern über die Aussichten von High-School-Nachwuchsstars zu debattieren, suchte Beane nach hervorragenden Spielern, indem er die schier unerschöpflichen Statistiken über den Profi-Baseball durchforstete. Das Vereinsmanagement verschwendete seine Aufmerksamkeit nicht mehr auf den Glaubenskrieg über das Potenzial und den Wert von Spielern, sondern widmete sich der mathematischen Untersuchung der Faktoren, die am höchsten mit dem Spielgewinn korrelierten.
Die Häufigkeit, mit der ein Schlagmann (Batter) die Base erreichte, erwies sich als erheblich geeigneterer Indikator, um einen Spielerfolg zu prognostizieren, als Mutmaßungen darüber, wer der nächste Starspieler werden würde. Beanes Vorgehen machte "Oakland A" regelmäßig zum Titelanwärter, obgleich er über eines der kleinsten Budgets in der Liga verfügte. Welche Lehre lässt sich daraus ziehen? Es lohnt sich, die Dinge auf andere Art zu betrachten und sich weniger auf sein Bauchgefühl als auf harte Fakten zu verlassen.
3. Stufe
Schaffen Sie Sicherheit
Mit der Zeit klammern sich Menschen an den Status quo, selbst wenn er nicht gut für sie ist. Oft bleiben Probleme ungelöst, weil der Lösungsweg mit möglichen Verlusten und anderen Risiken gepflastert ist. Man kommt nicht darum herum anzuerkennen, dass eine Reise in unbekannte Gefilde ein gefährliches Unterfangen ist. Positive Abweichler fürchten vielleicht, bloßgestellt oder der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden. Vielleicht haben sie Angst vor Rache, wenn ihr neu
Ebenso haben die anderen Gruppenmitglieder möglicherweise Angst davor, in ein Problem verwickelt zu werden, sobald sie es als solches anerkennen. Beispielsweise sind nur wenige Krankenhausmanager bereit, sich mit den Warnsignalen für Fehlbehandlungen zu befassen. Sie befürchten, ihnen könnte unterstellt werden, sie hätten vorab Kenntnis von Fehlern gehabt, oder es könnten in Gerichtsverfahren Probleme aus den Diskussionen ans Tageslicht kommen. Nur wenn sich die Menschen sicher genug fühlen, über ein Tabu zu sprechen, und wenn sich die Gemeinschaft darum bemüht, Lösungen zu finden, besteht die Aussicht, eine Alternative zu finden.
In Indonesien machte das schwierige Thema des Menschenhandels deutlich, wie notwendig psychologische Sicherheit ist. Eine nicht staatliche lokale Organisation hatte bei den armen ostjavanischen Familien die Besorgnis erregende Entwicklung bemerkt, dass junge Dorfmädchen in die Stadtzentren "exportiert" wurden. Niemand sprach über diese Praxis. Die Scham der Eltern mischte sich mit der Furcht vor den Folgen, wenn die Zuhälter keinen Nachschub mehr erhielten.
Die Organisation veranstaltete für die Dorfbewohner einen diskreten Workshop, um unverfängliche Probleme wie die Schulabbruchquoten zu untersuchen. Als die Workshop-Leiter darüber sprachen, wie es Gemeinden in anderen Ländern anhand positiver Abweichungen gelungen war, Lösungen für heikle Probleme wie die Verringerung des Aids-Risikos zu finden, begann die Gruppe, ihre Zurückhaltung schrittweise aufzugeben. Ein offenherziger Freiwilliger sprach das Thema der "fortgehenden" Mädchen an - ein Euphemismus für den Mädchenhandel. Die indirekte Annäherung an das tabuisierte Thema brachte die Dorfbewohner schließlich dazu, darüber zu sprechen, dass Mädchen von ihren in Armut lebenden Eltern fortgeschickt wurden.
Die Teilnehmer organisierten eine Befragung und suchten arme Familien auf, die der Versuchung widerstanden hatten, ihre Töchter weggehen zu lassen. Außerdem hatten sie sechs Monate später die Familien besonders gefährdeter Mädchen identifiziert. Lokale Politiker, die zuvor den Regelungen für die Erteilung von "Reisedokumenten" keine Beachtung geschenkt hatten, begannen nun, die Bestimmungen zu verschärfen.
Heute werden durch dieses Frühwarnsystem Freiwillige benachrichtigt, die dann die Familien der Mädchen aufsuchen und beraten, die das Dorf verlassen wollen. Außerdem können Abweichlerfamilien ausfindig gemacht werden, die ihre Armut mit anderen Mitteln bekämpfen konnten, als ihre Töchter zu verkaufen - etwa indem sie eigene Gemüsegärten anlegten oder ihren Zigarettenkonsum reduzierten. Auf Grund dieses Vorgehens hat sich der belegbare Menschenhandel in der Region halbiert.
Unternehmen haben ihre eigenen heimlichen Tabus, die sich, wenn sie nicht angegangen werden, zu gewaltigen Problemen auswachsen können, die an den Fall Enron gemahnen. Richard Pascale, einer der Autoren dieses Artikels, hat mit Unternehmen wie Coca-Cola, Ford, BP, Shell und BAE Systems zusammengearbeitet, um Tabuthemen zu identifizieren. Das Kernstück der vierstufigen Methode namens "organizational CAT-Scan" ist ein eintägiger Workshop, der von einem externen Berater konzipiert und durchgeführt wird. Die Gruppe besteht aus 50 bis 100 der wichtigsten Betroffenen, von denen angenommen wird, dass sie Veränderungen im Unternehmen kritisch gegenüberstehen.
In seiner Eröffnungsrede betont der einladende Manager, wie wichtig es ist, Probleme offen anzugehen und aus Fehlern in der Vergangenheit zu lernen. Der Schwerpunkt liegt darauf, Hindernisse zu erkennen und zu beseitigen, statt den Überbringer schlechter Nachrichten abzustrafen. Für den Erfolg dieser Arbeit ist Offenheit entscheidend. Die Gruppenmitglieder lesen unbeschönigte und anonyme Aussagen voneinander vor, in denen die Probleme im Unternehmen angesprochen werden. Dann teilt sich die Gruppe in Untergruppen auf. Jede setzt sich eingehend mit den identifizierten Themen auseinander und legt nach ein bis zwei Stunden ihre jeweiligen Analysen vor.
Ein Unternehmen kann so innerhalb von sechs Stunden eine tief gehende, aktuelle Fallstudie über sich selbst erstellen. Im Anschluss an diese Übung sind die Teams in der Lage, die erkannten Probleme zu untersuchen und nach 30 bis 60 Tagen bei einem erneuten Treffen Aktionspläne und Meilensteine vorzulegen.
Konkretisieren Sie das Problem
In Unternehmen werden ständig sinnlose Gespräche geführt. Während Worte gewechselt und durch Nicken bestätigt werden, kommen die zwischen Sender und Empfänger ausgetauschten Signale oft nur verzerrt an. Ungeschriebene Normen bewahren Leute davor, ganz konkret sagen zu müssen, was sie meinen. Im Gegenteil - oft werden sie sogar daran gehindert. Das trägt erheblich dazu bei, Einblicke zu verhindern. Denken Sie beispielsweise daran, wie sich mit Power-Point-Folien harte Fakten verwischen oder verbergen lassen: Bevor die Nasa den katastrophalen Verlust des Space Shuttles "Columbia" erlitt, versteckten die Ingenieure von Martin Marietta und Boeing die drohenden Risiken durch die Keramikkacheln, die das Raumschiff schützen sollten, zwischen komplizierten, verschachtelten und in kleiner Schrift gehaltenen Themenpunkten ihrer Power-Point-Präsentation.
Wenn Sie auf eine enge Anbindung an die Realität achten, schalten Sie vage Vermutungen aus und helfen, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was wirklich funktioniert. Der direkte Umgang mit einer unbequemen Wahrheit erfordert deren konkrete Benennung, damit es keine Möglichkeit gibt, der bestehenden Herausforderung auszuweichen. Dabei kommt es nicht nur auf Genauigkeit an, sondern auch darauf, ein wichtiges Thema auf überzeugende Weise zu beschreiben oder sich plastisch vor Augen zu führen.
Ein Beispiel dafür liefert ein Workshop über positive Abweichung, in dem nach Möglichkeiten gesucht wurde, die Ausbreitung von Aids in Myanmar einzudämmen. Die Teilnehmer waren Prostituierte. Fast jede von ihnen behauptete, sie würde ihre Kunden gewissenhaft zur Verwendung von Kondomen anhalten. Der Augenblick der Wahrheit kam, als die Teilnehmerinnen gebeten wurden, ein Kondom über eine Banane zu ziehen. Anhand der Geschicklichkeit der Frauen konnten schnell die tatsächlichen Anwenderinnen von jenen getrennt werden, die dies nur vorgaben. Nachdem die positiven Abweichlerinnen identifiziert waren, berichteten sie über die Verhandlungsstrategien, die sie anwandten, um ihre Kunden dazu zu bringen, Kondome zu benutzen. Schon bald waren die anderen Mitglieder der Gruppe in der Lage, die Einwände ihrer Kunden zu entkräften. Mit der richtigen Übung könnten viele Unternehmen von einer modifizierten Nachahmung des "Bananentests" profitieren.
5. Stufe
Sorgen Sie für den Beweis
Das alte Sprichwort "Wer sieht, der glaubt" besitzt besonders dann Gültigkeit, wenn es um Veränderung geht. Denken Sie nur an die Anonymen Alkoholiker. In den 30er Jahren kamen zwei positive Abweichler auf die Idee, sich wöchentlich zu treffen, damit es ihnen leichter fiel, trocken zu bleiben. Andere schlossen sich ihnen an. Durch induktives Reflektieren und Lernen entstand ein zwölfstufiges Programm - eine Vereinbarung, die jeglichen von Psychiatern entwickelten Interventionen um Jahrzehnte voraus war. Dieser Ansatz ist heute Bestandteil des weltweiten Erfolgs der Anonymen Alkoholiker und seiner Übertragung auf viele ähnlich gelagerte Problematiken. Der soziale Beweis ist die Lebensgrundlage der Selbsthilfegruppen-Bewegung.
Lassen Sie uns ein weit dramatischeres Beispiel für die Kraft des sozialen Beweises betrachten. Stellen Sie sich ein verängstigtes Mädchen vor, das versucht, sich dem Griff seiner Mutter und Tante zu entwinden, um dem scharfen Rasiermesser des Barbiers zu entkommen. In Ägypten ist die Verstümmelung der weiblichen Genitalien oder die Beschneidung von Frauen eine 4000 Jahre alte Praxis, die von den christlichen Kopten ebenso wie von den Muslimen angewandt wird. Dahinter steckt die Absicht, Frauen ihrer sexuellen Empfindungsfähigkeit zu berauben und ihre Treue zu garantieren. 90 Prozent der ägyptischen Mädchen werden, meist im Alter zwischen 9 und 13 Jahren, der schmerzhaften und zuweilen gefährlichen Prozedur unterzogen. Oft begreifen sie nicht, was mit ihnen geschieht und warum ihnen das angetan wird. Manche der Mädchen sterben an einer nachfolgenden Infektion oder am Blutverlust. Die Praxis ist ein fester Bestandteil des ägyptischen Lebens und wird daher massiv verteidigt. Traditionell wurde sie nicht als Problem betrachtet, sondern einfach als alltäglich angesehen
War es möglich, in ägyptischen Dörfern Familien zu finden, die ihre Mädchen nicht beschnitten - und würden diese Familien bereit sein, darüber
Für die Opfer, ihre Mütter und andere weibliche Verwandte entstand durch die Diskussion des Traumas der Beschneidung ein therapeutischer Kreis aus Katharsis, Vergeben und Heilung. Die Frauen legten ein erschütterndes Zeugnis ab: "Wir schlachten unsere Mädchen." "Das Herausschneiden der Zunge beseitigt nicht den Hunger." "Sehnsucht ist in den Gedanken, nicht in den Organen verankert." "Ich konnte meiner Mutter nie mehr vertrauen." Im weiteren Verlauf der Gespräche begann sich ein neues Bewusstsein herauszubilden. Die Kunde von den Gesprächen verbreitete sich, und die Gemeinden fingen an, offener über die Beschneidung von Frauen zu diskutieren. Weitere Familien erklärten sich bereit, sich nicht nur befragen zu lassen, sondern auch als Fürsprecher innerhalb ihrer Gemeinden zu agieren.
Im Laufe der Zeit erlebte das Dorf eine Flut spontaner Initiativen. In einem Fall versammelte eine 18-Jährige ihre Freundinnen auf dem staubigen Boden im Schatten einer Tamariske. Gemeinsam durchlebten sie noch einmal ihre grauenhaften Erfahrungen und das Gefühl, verraten worden zu sein. Einstimmig beschlossen sie, nach Hause zu gehen und ihre Mütter zu bitten, ihre jüngeren Schwestern nicht dem gleichen Schicksal auszusetzen. In einem anderen Fall versicherte ein Scheich während des Gottesdienstes in einer Moschee, dass der Islam keine Beschneidung verlange. Kurz darauf schlossen sich die Dorfoberen dem Chor der Andersdenkenden an. Die Beschneidung von Frauen abzulehnen wurde zur legitimen Alternative.
In den vergangenen fünf Jahren haben zehntausende normaler Dorfbewohner bewiesen, dass eine Frau unbeschnitten und doch tugendhaft sein kann. Mehr als tausend Beschneidungen wurden allein in ein paar Dörfern verhindert. Noch bemerkenswerter ist, dass die ägyptische Regierung gerade die erste landesweite Kampagne gegen die Beschneidung von Frauen initiiert hat.
6. Stufe
Unterbinden Sie Abwehrreaktionen
Newton hatte Recht: Wird auf etwas Kraft ausgeübt, erzeugt dies eine Gegenkraft. In Unternehmen äußert sich dies in Form von Ausweichmanövern, Widerstand und dem Pochen auf Ausnahmen. Aber wenn Sie die Glut in einer Gemeinschaft anfachen, statt sich auf vereinzelte Buschbrände, die von der Zentrale oder von Nichtgruppenmitgliedern gelegt worden sind, zu verlassen, ergibt sich die Veränderung ganz natürlich. Durch intern entwickelte Lösungen wird verhindert, dass die transplantierte Lösung abgestoßen wird. Denn die Promotoren der Veränderung weisen dieselbe DNA auf wie der Wirt. Der Trick besteht darin, bereits vorhandene Ideen auf breiter Ebene in die Organisation zu tragen, ohne sich dabei allzu sehr auf Führungskräfte zu stützen. Warum den Vorschlaghammer benutzen, wenn eine Feder ausreicht?
Vor fünf Jahren wurde bei Goldman Sachs im Bereich Private Vermögensverwaltung eine ganze Reihe von Top-down-Veränderungsinitiativen durchgeführt. Die aus über 300 Anlageberatern bestehende Vertriebsabteilung hatte den Eindruck, dass ihr ein unerprobtes Geschäftsmodell aufgezwungen werden sollte, das in der Zentrale in New York beschlossen worden war, um einen weit reichenden Wandel in der Unternehmenspolitik einzuleiten. Die Manager in der Zentrale wiederum hatten den Eindruck, dass die Vertriebsmitarbeiter sie daran hinderten, das Veränderungstempo vorzulegen, das ihrer Ansicht nach erforderlich war, um mit den Marktentwicklungen Schritt halten zu können.
Die Anlagespezialisten in dem Bereich hatten zuvor immer unabhängig oder in Zweierteams gearbeitet. Jede Einheit entwickelte höchst spezielle Vorgehensweisen, um sehr vermögende Kunden zu gewinnen. Erfolg hängt natürlich von Leistung ab. Aber er ist auch eine Frage des Aufbaus tiefer, vertrauensvoller, häufig über mehrere Generationen hinweg andauernder Beziehungen zu den Kunden. Diese luden ihre Anlageberater
Ende 2000 waren die Topmanager des Bereichs Private Vermögensverwaltung zutiefst besorgt darüber, dass sich in der Branche eine erdrutschartige Veränderung vollzog. Von den Anlageberatungsfirmen wurden eine größere Transparenz und der Nachweis gefordert, dass sie im Interesse ihrer Kunden handelten. Gleichzeitig zwang man sie, ihre Provisionssätze zu senken. Wie konnte Goldman Sachs in einem schwierigen Umfeld mit einem sich verschärfenden Wettbewerb seine Kunden behalten, seine Profitabilität verbessern und seine Kompetenzen ausbauen? Die Lösung des Managements bestand in einem veränderten Vorgehen der Anlageberater: weg von einem sich primär auf Maklergebühren stützenden Modell, hin zu einer gebührenpflichtigen Beratung. Aber die Anlageberater, die ihr Geschäftsmodell auf ein bewährtes Rezept stützten, erwiesen sich als eifrige Vertreter der Maxime: "Repariere nichts, was funktioniert."
Einer der damaligen Leiter im Privatkundengeschäft befand sich mitten in diesem Dilemma. Er hatte sich dafür entschieden, auf die konventionelle Rolle als Führungskraft zu verzichten und sich von dem heftigen Pochen des Topmanagements nicht unter Druck setzen zu lassen. Vielmehr wandte er eine listige Führungstaktik an, indem er den Anlageberatern eine verblüffende Frage stellte: "Gibt es irgendwelche Teams mit ähnlichen Gebieten und Chancen, die in diesem schwierigen Klima erfolgreich sind?"
Ein sechsköpfiger Rat aus einflussreichen Anlageberatern (die als "Partisanenführer" aus den landesweiten Vertriebsbüros ausgewählt worden waren) ließ eine Untersuchung über "Vertriebseffektivität" durchführen. Die Aufgabe des Rates bestand darin, außergewöhnlich erfolgreiche Vorgehensweisen aufzuspüren. Seine Mitglieder versicherten den Mitarbeitern, dass alle Ergebnisse hinsichtlich ihrer Relevanz und ihrer Skalierbarkeit genau überprüft werden würden: Was bei dem besten Team in Boston funktionierte, sollte auf die Teams an anderen Orten übertragbar sein.
Der erste Teil des Projekts begann im Jahr 2000 mit einer zweimonatigen Ermittlungsphase, in der bei den erfolgreichsten Beraterteams fünf positive abweichende Praktiken ausfindig gemacht werden konnten. In Phase zwei wurde die Gruppe der Ermittler vergrößert, indem für jede der fünf Praktiken jeweils eine Arbeitsgruppe (die sich wieder aus informellen Meinungsführern zusammensetzte, die landesweit ausgewählt worden waren) gegründet wurde. Die Gruppen hatten die Aufgabe, ein Modell zu entwickeln, das von allen Anlageberatungsteams auf einer freiwilligen Basis übernommen und implementiert werden konnte.
Als es an der Zeit war, die neuen Modelle einzuführen und andere zu trainieren, wurden diese Gruppen zu Speerspitzen. Sie suchten jedes Büro auf und erklärten, warum und wie ihre speziellen Praktiken funktionierten. In jeder Gruppe befand sich immer eine Person aus dem jeweiligen Büro, sodass einer der präsentierenden Anlageberater zugleich als lokaler Mittler des Themas fungieren konnte. Wenn die örtlichen Beratungsteams Fragen hatten, wandten sie sich an diese Person. Es entstand eine Dynamik, die auf den gesamten Bereich Private Vermögensverwaltung eine erstaunlich belebende Wirkung hatte.
Zu Phase drei gehörte der Aufbau eines Systems, mit dem einerseits gemessen werden konnte, inwieweit man sich dem Ziel angenähert hatte, und mit dem sich andererseits Trends aufspüren ließen. Jedes der elf regionalen Büros wurde nach der Übernahme der fünf Praktiken bewertet, und die Ergebnisse wurden veröffentlicht. Der Ansatz stützte sich ausschließlich auf Transparenz und auf die Beurteilung durch Kollegen. Es wurden keine Sanktionen verhängt, wenn die neuen Praktiken nicht übernommen wurden. Die Mitarbeiter fanden es gut, an der Spitze, und schlecht, ganz unten zu stehen. Dadurch wurde die Aufmerksamkeit wach gehalten und ein möglicher Rückfall vermieden.
Während des Projekts konnten alte Rivalitäten zwischen den Teams beigelegt werden. Zum ersten Mal in der Erinnerung der Mitarbeiter bildete sich ein Gefühl des "Gemeinsam siegen wir" heraus. Nachdem die Anlageberater ihre Abgrenzungsmentalität überwunden hatten, wich die ursprüngliche Skepsis der Überzeugung. Der Ansatz der positiven Abweichung, der im Laufe von 18 Monaten implementiert worden war, veränderte das Verhalten, die Praxis und die Leistung.
Der Bereich Private Vermögensverwaltung verbesserte seine Wettbewerbsposition sprungartig. Nach drei Jahren hat er sich von einem Problemfall
Die neue Rolle der Führungskraft
Unser Ansatz erfordert eine Rollenumkehrung, bei der die Experten zu Lernenden, Lehrer zu Studenten und Führer zu Anhängern werden. Führungskräfte müssen der Gemeinschaft gegenüber ihre Tätigkeit als Chefermittler aufgeben. Das ist nicht leicht, denn es verlangt von ihnen, dass sie ihre Egos und gewohnten Identitäten (derjenige zu sein, an den sich alle wenden; der Entscheider, der weiß, was zu tun ist) überwinden.
Was wird dann aus der Führungskraft? Während sie offensichtlich die traditionelle Rolle des Einzelkämpfers aufgeben muss, bleibt noch wichtige Arbeit für sie übrig. Dazu gehören vier grundlegende Aufgaben: Die Führungskraft muss für Aufmerksamkeit sorgen, knappe Ressourcen zuweisen, den Veränderungswillen erhalten und schließlich das Erreichen der festgelegten Ziele überwachen. Vom Chefexperten wird die Führungskraft zum Chefförderer. Ihre Aufgabe ist, die Veränderungsinitiative so zu lenken, dass sie sich entfalten kann. Diese Rolle unterscheidet sich grundlegend von der traditionellen Rolle, so wie sich die Veränderungsmethode selbst von Standardverfahren unterscheidet.
Das klassische Modell der Verhaltensänderung mit den Säulen Wissen-Einstellung-Praxis besagt, dass Wissen die Einstellung verändert, die wiederum die Praxis verändert. Vertreter des Ansatzes der positiven Abweichung stellen dieses Schema auf den Kopf und wenden stattdessen ein Praxis-Einstellung-Wissen-Modell an. Sobald Sie der Gemeinschaft helfen, die positiven Abweichler zu entdecken und ihre Praktiken zu identifizieren, helfen Sie, die Einstellungen von Menschen durch Handeln zu verändern. Wieso? Weil Menschen weit eher durch ihr Handeln eine neue Art des Denkens entwickeln als durch Denken eine neue Art des Handelns.
Fazit
Sollte der Ansatz der positiven Abweichung bei jeder Veränderungsinitiative angewendet werden? Selbstverständlich nicht. Wenn es bewährte Mittel gibt, um Probleme zu beseitigen - den Impfstoff Salk gegen Kinderlähmung, bewährte Methoden des Lieferkettenmanagements, funktionierende Hard- und Softwarelösungen -, können Unternehmen sie einsetzen, um härter, schneller oder geschickter zu arbeiten. Und auch Probleme, deren Lösung Intelligenz erfordert, aber keine größeren Verhaltenskorrekturen, eignen sich nicht für den Ansatz der positiven Abweichung.
Die Methode funktioniert am besten, wenn es um Verhaltens- und Einstellungsänderungen geht - also dann, wenn sich kein fertiges Mittel zur Lösung des anstehenden Problems anbietet und erfolgreiche Strategien nur vereinzelt vorkommen und verborgen bleiben.
In solchen Fällen liegt der beste Weg in einem von innen heraus vollzogenen Wandel, der von den Menschen, welche die Veränderung vornehmen müssen, entdeckt, gefeiert und implementiert wird.
Der taoistische Gelehrte Lao Tse hat den Ansatz der positiven Abweichung mit beredter Einfachheit zusammengefasst:
Lerne von den Menschen,
plane mit den Menschen,
beginne mit dem, was sie haben,
baue auf das, was sie
von den besten Führern wissen.
Und wenn die Aufgabe erfüllt ist,
werden alle Menschen sagen:
Das haben wir selbst getan. n
Traditionelles Change-Management: Not Invented Here - das ist das Motto des mehr oder weniger offenen Widerstands, an dem die meisten Veränderungsinitiativen scheitern. Manager, die versuchen, ihre Organisation mit Hilfe externer Best-Practice-Vorbilder von oben herab zu verändern, scheitern oft an Zweiflern. Diese argumentieren, die Neuerungen könnten bei ihnen nicht funktonieren.
Konzept der positiven Abweichung: Die Autoren haben aus Erfahrungen mit sozialen Projekten gelernt. Beim Kampf gegen Hunger, Aids oder Mädchenhandel sind es immer wieder einzelne Beteiligte, die als "positive Abweichler" den Wandel in Gang setzen. Auch in Unternehmen gibt es Menschen, die deutlich erfolgreicher arbeiten als andere, obwohl sie mit den gleichen Schwierigkeiten kämpfen. Nach dem Konzept der positiven Abweichung ("Positive Deviance") müssen diese Kollegen ihre Methoden im ganzen Unternehmen verbreiten. Goldman Sachs und Hewlett-Packard haben das Konzept getestet.
Warum sich Best Practices nicht verordnen lassen
Best Practices und Benchmarking haben eine Gemeinsamkeit mit unserem Ansatz der positiven Abweichung: Es geht darum, anhand von Erfolgsmodellen Lernen anzustoßen. Aber an diesem Punkt endet die Ähnlichkeit auch schon. Um überlegene Vorbilder zu identifizieren, wird meistens nur außerhalb des Unternehmens gesucht, nicht in der Gemeinschaft selbst. Deshalb werden Best Practices auch häufig als Frage aufgefasst: "Warum bist du nicht so gut wie der andere?"
Sollen Best Practices von außen im Unternehmen eingeführt werden behaupten Manager oft, deren Erfolg sei auf außergewöhnliche Bedingungen zurückzuführen. Außerdem würden sich die Umstände beträchtlich von denen in der eigenen Firma unterscheiden. Best Practices sind ein Import von außen. Daher ist es wenig verwunderlich, dass sie in den Unternehmen selten begeisterte Nachahmer finden.
Der Fall Genentech: Jüngste Vorkommnisse bei der führenden biopharmazeutischen Firma Genentech veranschaulichen sowohl die Chancen des Ansatzes der positiven Abweichung als auch die Gefahren von Best Practices. Im Jahr 2003 brachte Genentech Xolair auf den Markt, ein Wundermittel für viele Menschen, die an chronischem Asthma leiden. Im Gegensatz zu den meisten Asthmamedikamenten, die auf eine Linderung der mit einem Anfall verbundenen Symptome abzielen, regelt Xolair die Histamine im Immunsystem und beugt Asthmaanfällen dadurch vor. Der Patient kann ein normales Leben ohne Angst vor schwächenden Anfällen führen. Aber trotz der pharmakologischen Überlegenheit des Medikaments blieben die Verkaufsquoten sechs Monate nach der Markteinführung deutlich hinter den Erwartungen zurück.
Als das Unternehmen nach einer Erklärung für die enttäuschenden Ergebnisse suchte, entdeckten die Manager eine Ausnahme. Zwei Vertriebsleute der aus 242 Mitarbeitern bestehenden Abteilung verkauften das 20fache ihrer Kollegen. Hier handelte es sich um klassische positive Abweichler. Zwei für die Gebiete Dallas und Fort Worth verantwortliche Frauen hatten die Akzeptanzbarrieren in der Zielgruppe erfolgreich überwinden können.
Durch eine genauere Untersuchung vermochten die Führungskräfte zu klären, warum dies so war. Genentechs traditionelles Hauptgeschäftsgebiet war die Krebsmedizin. Und während Onkologen und Lungenfachärzte in ihren Praxen routinemäßig ambulante Chemotherapien in Form von Infusionen durchführen, tun das Allergologen und Kinderärzte - die Zielgruppe für Asthmamedikamente - nicht. Infusionsprotokolle (die Verabreichung von Medikamenten über einen intravenösen Tropf) erfordern Infusionsräume, Infusionsliegen und Infusionspersonal. All dies gehörte nicht zum Alltag dieser Ärztegruppe und ihres medizinischen Personals.
Die positiven Abweichlerinnen aus Dallas und Fort Worth waren sich klar darüber, dass sie eine Akzeptanz des Produkts nicht durch die üblichen Praxisbesuche erreichen konnten. Und der Widerstand würde auch nicht durch noch mehr Informationsmaterial, das Xolairs pharmakologische Überlegenheit bewies, zu überwinden sein. Die
Die beiden Frauen führten den Ärzten und dem medizinischen Personal vor, wie das Medikament für die Infusion vorbereitet und den Patienten verabreicht wird. Sie zeigten, wie man die Spezialformulare ausfüllt. Sie verdeutlichten die Auswirkungen, die das Medikament auf die Lebensführung hat, und berichteten von Kindern, die Xolair nahmen und dadurch mit Haustieren zusammenleben und draußen Sport treiben konnten. Indem sie den Blickwinkel der Ärzte und des übrigen medizinischen Personals erweiterten, hatten die beiden Vertriebsmitarbeiterinnen das entdeckt, was ganzen Mannschaften von Marktforschern, die für Genentech arbeiteten, entgangen war. Sie waren erfolgreich, weil sie zu Veränderungspromotoren geworden waren.
Der falsche Weg: Es scheint auf der Hand zu liegen, wie unsere Geschichte erfolgreich hätte enden können. Was tatsächlich passierte, war dagegen ernüchternd. Die abweichenden Verkaufsergebnisse riefen Bestürzung hervor und führten zu genauen Nachforschungen. Anfangs nahm das Management an, dass das Vertriebsteam über einen unfairen Vorteil verfügte und dass das Gebiets- oder Quotensystem neu gestaltet werden müsse. Erst nach einiger Zeit, nachdem eine externe Marktforschungsfirma beauftragt worden war, akzeptierte das Unternehmen den Wert der Strategie der Verhaltensänderung durch Promotoren.
Daraufhin verbreitete es die Best-Practice auf konventionelle Weise. Der Vorgesetzte der Vertreterinnen für Dallas und Fort Worth beschrieb anderen Managern in einer Telefonkonferenz die Techniken. Und das Ergebnis? Einige Vertriebsmitarbeiter übernahmen die Methode teilweise, und die Implementierung ging höchst schleppend voran.
Der richtige Weg: Wird den Mitarbeitern eine überlegene Methode aufgezwungen, statt sie sie selbst entdecken zu lassen, sind abwehrende Rufe wie "Wir sind nicht wie die" oder "Das funktioniert hier einfach nicht" programmiert. Demgegenüber ist es bei einem Konzept, das es einer Gemeinschaft erlaubt, von ihrem eigenen verborgenen Wissen zu lernen, unter anderem nötig, respektvoll vorzugehen. Der Neuerer und der Übernehmende müssen auf gleicher Augenhöhe sein. Dann werden die Mitglieder der Gemeinschaft viel Schweiß investieren, um die positiven Abweichler zu endecken, und im Laufe der Zeit werden sie zu Partnern bei der Veränderung.
Ein neuer Umgang mit Veränderungen
In traditionellen Veränderungsinitiativen wird typischerweise ein Top-down-Ansatz verfolgt. Lösungen werden von außen importiert, und die Manager konzentrieren sich auf Mängel und Fehler. Außerdem wollen sie die Veränderungsaktion unter Kontrolle behalten. Mit unvorhergesehenen Konsequenzen rechnen sie kaum. Veränderungsprogramme werden kaskadenförmig abgewickelt. Beim Ansatz der positiven Abweichung dagegen geht die Veränderung von unten nach oben (Bottom-up). Sie kommt von innen und stützt sich auf vorhandene Werte. Innovatoren im Unternehmen werden identifiziert und unterstützt. So werden Neuerungen von den Mitarbeitern schnell akzeptiert.
Traditionelles Change-management
Führungskräfte als Wegbereiter
Konzepte und die Impulse für Veränderungsprozesse kommen von oben.
Von außen nach innen
Experten identifizieren erfolgreiche Verfahren (Best Practices) und führen sie im Unternehmen ein.
Mängelorientiert
Führungskräfte analysieren allgemeine Probleme und empfehlen Best-Practice-Lösungen nach dem Motto: "Warum seid ihr nicht so gut wie die anderen?"
Durch Logik gesteuert
Die Beteiligten entwickeln durch Denken neue Handlungsansätze.
Erzeugt Widerstände
Die von Externen importierten oder aufgezwungenen Ideen werden abgelehnt.
Von der Problemlösung zur Problemakzeptanz
Best Practices werden angewandt auf Probleme, die im Rahmen gegebener Parameter definiert sind.
Beteiligung, so weit nötig
An der Problemlösung werden nur diejenigen beteiligt, die traditionell mit dem Problem in Verbindung gebracht werden.
konzept der positiven Abweichung
Führungskräfte als Unterstützer
Führungskräfte helfen bei der Suche nach einer Lösung; die Gemeinschaft übernimmt die Verantwortung für die Veränderung.
Von innen nach außen
Die Gemeinschaft identifiziert bereits existierende Lösungen und entwickelt sie weiter.
Potenzialorientiert
Die Verbreitung existierender Lösungen erfolgreicher Mitarbeiter innerhalb der Gemeinschaft wird gefördert.
Lerngesteuert
Die Beteiligten entwickeln durch Handeln neue Denkansätze.
Fördert Nachahmung
Das in einer Gemeinschaft schlummernde Wissen wird angezapft. So wird vermieden, dass das soziale System die neue Lösung abstößt.
Von der Problemsuche zum Problemlösen
Indem neue Parameter entdeckt werden, wird der Lösungsspielraum erweitert.
Das Netzwerk vergrößern
Der Kreis der Beteiligten wird erweitert über die Personen hinaus, die direkt von dem Problem betroffen sind.
Service
LITERATUR
Seeger, Chr. (Hrsg.): Harvard Businessmanager, Edition Change-Management: So schaffen Sie die Wende, manager magazin Verlag, Hamburg 2004 (zu beziehen auch über: www. harvardbusinessmanager)
Internet
www.positivedeviance.org
Kontakt
rtpascale@aol.com
jerry_sternin@hotmail.com
RICHARD TANNER PASCALE
ist außerordentliches Mitglied der Oxford University. Zuvor lehrte er 20 Jahre lang an der Stanford Business School in Kalifornien.
JERRY STERNIN
war früher stellvertretender Dekan an der Harvard Business School in Boston und Direktor von "Save the Children" und Peace Corps. Heute leitet er die von der Ford-Stiftung ins Leben gerufene Initiative, die den hier vorgestellten Ansatz an der Tufts University in Boston entwickelte.
© 2005 Harvard Business School Publishing