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Raul Krauthausen im Interview "Ich manage eine Schattenfirma"

Raul Krauthausen ist Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit. Im Interview erklärt er, was ihm an dem Inklusionsprozess in Deutschland stört, und fordert mehr Mitspracherecht für Menschen mit Behinderung.
Das Interview führte HBm-Mitarbeiterin Finnja Korn
aus Harvard Business manager 4/2023
Raul Krauthausen setzt sich als Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit ein.

Raul Krauthausen setzt sich als Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit ein.

Foto: Anna Spindelndreier

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Harvard Business manager: Herr Krauthausen, in Ihrem neuen Buch stellen Sie Fragen über Inklusion. Können Sie ein Beispiel nennen?

Raul Krauthausen: Eine Frage ist, wie wir Barrieren beseitigen können. Viele meinen, man müsste mehr Aufklärung betreiben. Das bedeutet aber meistens nur, Broschüren auszudrucken, in denen gesagt wird: „Menschen mit Behinderung haben auch ein Recht auf Arbeit.“ Das sollte inzwischen aber allen klar sein. Besser sind reale Begegnungen. Hat ein Busfahrer nur einen Arm, dann wäre die erste Begegnung mit ihm für viele Fahrgäste etwas Neues, aber beim zweiten Mal fänden sie es schon fast normal. Außerdem müssen Menschen mit Behinderung stärker eingebunden werden. Es gibt immer noch zu wenig Dialog zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Und schließlich bedeutet Barrierefreiheit auch, unterschiedliche Behinderungen zu beachten. Ein rollstuhlgerechtes Gebäude ist schön und gut, aber wenn die Technik nicht für blinde Menschen ausgestattet ist, werden wieder Menschen ausgeschlossen.

Was muss auf dem Arbeitsmarkt für mehr Inklusion passieren?

Da passiert schon eine Menge, aber wir müssen weiter daran arbeiten. Arbeitgeber sollten ihre Ängste und Vorurteile hinterfragen. Nur weil jemand eine Behinderung hat, muss das nicht automatisch heißen, dass er oder sie langsamer arbeitet. Menschen mit Behinderung sind oft eine Bereicherung  fürs Team. Sie sind häufig loyal, weil sie natürlich wissen, wie schwer sie es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben. Viele sind kreativ im Bewältigen von Herausforderungen. Und mir zum Beispiel helfen mehrere Assistenzen im Alltag. Ich leite also im Prinzip eine ganze Schattenfirma, wodurch ich Kompetenzen im Teammanagement erworben habe. Und wenn Menschen wegen ihrer Behinderung doch langsamer arbeiten oder weniger schaffen, können Unternehmen vom Staat dafür einen finanziellen Ausgleich  bekommen. Ein Punkt ist mir hier übrigens noch wichtig: Unternehmen, die mit Werkstätten für Menschen mit Behinderung kooperieren, sollten diese Zusammenarbeit reflektieren.

Warum?

Das sind Ausbeuterbetriebe. Menschen mit Behinderung sind vom gesetzlichen Mindestlohn ausgenommen. In Deutschland beträgt der durchschnittliche Lohn in den Werkstätten 212 Euro im Monat  – das ist nur wenigen bekannt. Es ist eine große Herausforderung, das Werkstättensystem zu kritisieren. Mir wird oft vorgeworfen, ich würde wollen, dass Menschen mit Behinderung arbeitslos werden. Dabei geht es mir um faire Löhne und ein Mitspracherecht.

Sie sind Mitbegründer des gemeinnützigen Vereins Sozialhelden , der Organisationen zu Inklusion und Barrierefreiheit berät. Mit welchen Fragen kommen Unternehmen zu ihnen?

Oft geht es zuerst um Kommunikationsmaßnahmen. Die Unternehmen fragen sich: Wie sprechen wir Menschen mit Behinderung richtig an? Wie können Produkte inklusiv beworben werden? Allerdings muss die Kommunikation auch glaubwürdig sein. Man kann zum Beispiel schlecht behaupten, die Deutsche Bahn sei barrierefrei. Da würden Menschen mit Behinderung nur lachen. Mir wurde schon mehrmals die Mitfahrt mit dem ICE verweigert, mit der Begründung, die barrierefreie Toilette sei kaputt. Ich kann doch selbst entscheiden, ob ich es schaffe, vier Stunden nicht aufs Klo zu gehen.

Ihre Projekte thematisieren Inklusion schon sehr lange. Haben Sie manchmal das Gefühl, den Leuten immer das Gleiche erklären zu müssen?

Ja. Davon bin ich tierisch genervt. Das ist auch einer der Gründe, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Ich habe lange mitgespielt und mich für Reportagen vor Treppen filmen lassen. Inzwischen lehne ich das ab, es gibt genug Archivbilder von mir. Und die Treppen sind dadurch auch nicht verschwunden.

Woran liegt das?

Es fehlen noch viele rechtliche Rahmenbedingungen. Wir leben nicht in den USA, wo ich McDonald's verklagen kann, weil dort das Burger-Menü nicht in Blindenschrift steht. Wir brauchen stärkere Gesetze, die Unternehmen dazu verpflichten, Barrieren abzuschaffen. Einiges ist aber auch schon erreicht. Bei WirMobil  zum Beispiel, einem vom Land Berlin geförderten Fahrdienst. Die Buchung war früher sehr umständlich, bis sie vor zwei Jahren mithilfe der Sozialheldinnen und -helden digitalisiert wurde. Ein Fax muss heute keiner mehr dort hinschicken.

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