Vor einiger Zeit richtete der Innovationschef eines großen Industriekonzerns zehn funktionsübergreifende Teams ein. Das Ziel, das er vorgab, war kühn: Er wollte, dass sie ihr Geschäft vollkommen neu erfinden. Um frische Ideen und Methoden zu fördern, gab das Unternehmen den Teams vor, bei der Marktforschung mit einem Design-Thinking-Ansatz zu arbeiten und Prototypen für mögliche Lösungen mittels Lean-Start-up-Techniken zu entwickeln.
Der Innovationschef ging davon aus, dass er zehn Ideen mit umwälzendem Charakter geliefert bekomme. Stattdessen erhielt er Vorschläge, die sich in etwa auf dem Niveau bewegten, ein Industriegerät durch zusammengefasste Datenströme zu verbessern. Der Mann war fassungslos. Wo blieben die radikal neuen Konzepte? Hatte niemand wenigstens darüber nachgedacht, eine digitale Plattform zu entwickeln, das Geschäftsmodell auf den Kopf zu stellen oder Produkte neu zu erfinden?
Die Neigung zu inkrementellem Denken treibt Unternehmen aller Art um – trotz unseres immer ausgeklügelteren Arsenals an Innovationswerkzeugen. Und obwohl schrittweise Weiterentwicklungen in einem Wachstumsportfolio durchaus ihre Berechtigung haben, werden sie ein Geschäft kaum langfristig tragen. Wie aber können Unternehmen auf größere und bedeutsamere Ideen kommen? Was schränkt Kreativität ein? Warum gelingt nicht jedem Unternehmen, was Google "10x Thinking" nennt – Ideen zu entwickeln, die zu zehnfachen Verbesserungen führen anstatt nur zu den üblichen 10 Prozent? Es ist verlockend, der Technologie, dem Wettbewerb oder den Vorschriften die Schuld zuzuschieben. Indes: Diese Barrieren sind viel durchlässiger, als wir glauben. Schließlich dachten die Menschen früher auch, dass eine Mondlandung unmöglich sei, Sofortbildfotografie unpraktisch und Weltraumraketen, die sich wiederverwenden lassen, schlichtweg verrückt.
Dann inspirierte John F. Kennedy eine Nation, Edwin Land brachte die Polaroidkamera auf den Markt, und Elon Musk startete SpaceX. Die wirklichen Grenzen für 10x-Ideen liegen in falschen Vorstellungen, die unsere Wahrnehmung verzerren und uns daran hindern, Chancen zu erkennen. Die Kognitionswissenschaft hat damit begonnen, diese Verzerrungen zu erforschen. Dabei hat sie offengelegt, inwiefern wir uns "vorhersehbar irrational" verhalten. Nicht zuletzt deshalb hat ein eher verhaltensorientierter Ansatz die einstmals dominanten Paradigmen in Wirtschaft, Marketing und Strategie verdrängt. Im Bereich der Innovation ist die verhaltensorientierte Revolution jedoch noch nicht angekommen. Dort müssen wir erst noch lernen, die Perspektiven und Werkzeuge systematisch anzuwenden, die uns zu großen Sprüngen verhelfen. Wenn wir über neue Vorgehensweisen nachdenken, tappen viele von uns in kognitive Fallen, die das verstärken, was Wissenschaftler als "lokale Suche" bezeichnen. Dazu zählt der Availability Bias (so viel wie "Verfügbarkeitsfehler" – Anm. d. Red.), also die Tendenz, lieber die sofort verfügbaren Informationen zu nutzen statt repräsentative Daten. Der Familiarity Bias ("Vertrautheitsfehler") hingegen bezieht sich auf die Neigung, bereits bekannte Dinge überzubewerten. Auch der Confirmation Bias ("Bestätigungsfehler") verzerrt unsere Wahrnehmung. Er lässt uns glauben, dass neue Informationen unsere bereits bestehenden Überzeugungen bestätigen.
Wegen all dieser Fehleinschätzungen erkennen wir letztlich nur die Chancen, die sich aus dem Status quo ergeben. Dadurch liegen die viel wertvolleren Ideen und Möglichkeiten außerhalb unseres Blickfelds. Dieser Artikel wird einige Ansätze vorstellen, mit denen Unternehmen solche Fallen umgehen können. Sie unterscheiden sich von gängigen Konzepten wie Lean Start-up und agile Entwicklung. Zwar haben solche Ansätze selbstverständlich ihre Berechtigung; sie sind jedoch nicht dafür ausgelegt, Wahrnehmungsverzerrungen zu vermeiden, die echte Durchbrüche verhindern. Tatsächlich fanden Wissenschaftler der Harvard Business School in einem Feldversuch kürzlich heraus, dass agile Methoden neue Denkansätze sogar behindern. Fragen Sie sich doch einmal selbst: Führen Kundenbeobachtung, A/B-Tests oder Sprints im Rahmen von Scrum-Modellen wirklich zum nächsten Transistor, iPhone oder SpaceX? Vermutlich nicht.
Die Strategien und Werkzeuge, die wir im Folgenden beschreiben, hinterfragen alle unseren mächtigen Impuls, Risiken zu vermeiden und den einfacheren Weg zu wählen. Wir haben sie entweder eingesetzt, um Unternehmen zu ermöglichen, größere Potenziale für sich zu erkennen, oder wir entdeckten sie bei unserer Forschung zu radikalen Innovatoren. Unsere Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie zeigt lediglich einige Beispiele dafür, wie kreative Unternehmen vorgehen, um 10x-Ideen zu entwickeln. Unsere Absicht ist, einige Methoden zu präsentieren, mit denen Unternehmen die Kräfte überwinden können, die ihre Entfaltungsmöglichkeiten einschränken.
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