Zur Ausgabe
Artikel 5 / 18

Wissensmanagement Gesucht: Chief Ignorance Officer

WISSENSMANAGEMENT : Nichtwissen bewusst zuzulassen kann effizienter sein, als Wissen zu verwalten. Vier Grundprinzipien sollten Sie dabei beachten.
Von David Gray
aus Harvard Business manager 2/2004

Eben erst hat der Wissensmanager, auch Chief Knowledge Officer (CKO) genannt, die Führungsetagen amerikanischer Unternehmen erobert. Das illustriert, welche besondere Bedeutung das intellektuelle Kapital heutzutage für Unternehmen hat. Nun ist die Zeit möglicherweise reif, dem CKO einen CIO zur Seite zu stellen - wobei das I nicht für Information steht, sondern für Ignoranz. Gesucht wird also ein Chief Ignorance Officer.

Bisher wurde Ignoranz nur in Ausnahmefällen als wertvolle Ressource begriffen. Im Gegensatz zum Wissen, das beliebig oft wiederverwendet werden kann, ist Ignoranz eine einmalige Angelegenheit. Tritt erst einmal Wissen an ihre Stelle, lässt sie sich nur schwer wieder zurückgewinnen. Ohne Ignoranz neigen wir eher dazu, bereits bekannte Wege einzuschlagen, um Antworten zu finden. Wir werden uns weniger mit dem auseinander setzen, was wir nicht wissen, um zu neuen Lösungen zu kommen. Wissen kann innovatives Denken blockieren. Denn gelöste Probleme bleiben in der Regel gelöst - selbst wenn die Lösung schlecht ist.

Die meisten Menschen gestehen sich ihre Wissensdefizite auf vielen Gebieten vermutlich ungeniert ein. Aber die wenigsten trauen sich, ein gesundes Maß an Ignoranz oder Nichtwissen auf ihrem Fachgebiet zu kultivieren, zumal sie auf das, was sie zu wissen glauben, stolz sind. (Das Wort Nichtwissen, das lediglich die Abwesenheit von Wissen ausdrückt, ist hier wohl besser als das Wort Ignoranz, das eher abwertend klingt.)

Viele herausragende Denker haben sich über den tyrannischen Charakter des Wissens ausgelassen. Die moderne Managementliteratur beschreibt Wege, wie sich standardisierte Geschäftsabläufe wieder "verlernen" lassen, und führt voller Häme Fälle an, in denen renommierte Wissenschaftler und Manager eklatant falsche Voraussagen gemacht haben - obwohl sie sich weitgehend auf allgemein akzeptiertes Wissen gestützt hatten.

Das soll nicht heißen, dass wir durch Ignoranz alle Probleme los wären. Die Anerkennung des Nichtwissens könnte uns aber helfen, Probleme besser zu bewältigen. In diesem Sinne sollte ein kompetenter Ignoranzmanager unseren Blick weg vom Reich des Gewohnten und Bekannten und hin zur Terra incognita lenken. Vier Prinzipien, die Nichtwissen über Wissen stellen, leiten uns auf dieser Entdeckungsreise:

Das Prinzip des Aufschubs

Nichtwissen ist fruchtbar, wenn Manager nach neuen Ideen suchen. Trotzdem wird im ersten Impuls versucht, das Vakuum mit bekanntem Wissen zu füllen; dies gibt uns das Gefühl voranzukommen. Der Trick besteht darin, den Vorstoß zum Wissen zu verzögern und das Nichtwissen so lange wie möglich zu bewahren. Schon eine Hypothese kann für das Nichtwissen den Anfang vom Ende bedeuten. Sobald die 2x2-Matrix entworfen ist und alle Möglichkeiten auf dem Tisch liegen, ist das Denken eingeschränkt. Der Nutzen von Nichtwissen wird allenfalls einmal entdeckt, wenn sämtliche bekannten Lösungsmodelle unattraktiv erscheinen.

Nehmen wir das Beispiel eines Herstellers von Papierprodukten, der mit zu hohen Kosten kämpft. Statt reflexhaft an Standardlösungen wie Modernisierung, Verkauf oder Schließung des Betriebs zu denken, blieb das Management in alle Richtungen offen und konnte auch auf schwache Signale reagieren. Ein ungewöhnlich profitabler Kunde brachte die Unternehmensführung darauf, eine völlig neue Strategie zu entwickeln, die auf dem Bedarf an hoch spezialisierten Papierprodukten beruhte. Plötzlich erwies sich die veraltete, teure Ausstattung des Betriebs als Vorteil. Indem sie ihr Nichtwissen zuließen, hatten sich die Manager von konventionellen Analysemustern gelöst.

Das Prinzip der Voreiligkeit

Hierbei handelt es sich um das notwendige Gegenstück zum vorherigen Prinzip. Ignoranzmanagement bedeutet auch, sich von der Vorstellung zu befreien, erst alles wissen zu müssen, um handeln zu können. Die neue Geschäftsstrategie hatte Folgen: Der Papierhersteller musste einschneidende Prozessveränderungen vornehmen, deren Erfolg sich nicht mit Sicherheit voraussagen ließ. Der Nebel der Ungewissheit, der sich im Vorfeld über diese Maßnahmen gelegt hatte, lichtete sich erst durch die Taten der Geschäftsführung. Jeder Schritt, den ein Ignoranzmanager unternimmt, wird unweigerlich verfrüht oder voreilig erscheinen. Doch kritisches Lernen resultiert häufig aus der Anpassung an unvorhergesehene Ereignisse, die sich nicht antizipieren lassen.

Das Prinzip der Irrelevanz

Neues Wissen entsteht auf der Grundlage von altem Wissen - aber nur unter der Voraussetzung, dass sich bekannte Ideen auf neue Weise verbinden und miteinander reagieren können. Oft entspringt diese fruchtbare Rekombination der Verwendung von Metaphern und Analogien und einer Offenheit gegenüber dem scheinbar Irrelevanten. Wir können nicht schon vorher wissen, was uns letztlich inspirieren wird. Das Prinzip der austauschbaren Aluminium-Kopiertrommel von Canon, die den Kopierermarkt revolutionierte, wurde durch eine Bierdose angeregt. Ein guter Ignoranzmanager muss daher für die Bedingungen sorgen, die das scheinbar Irrelevante zulassen. Er wird versuchen, einen Zustand positiven Nichtwissens herbeizuführen, der die bestehenden Hilfsmittel und Systeme außer Kraft setzt.

Das Prinzip des Überflusses

Die Verschwendungslust der Natur ist immer wieder verblüffend. Von Milliarden ausschwärmenden Samen gelingt nur wenigen die Befruchtung. Ähnlich verhält es sich mit Ideen: Es sind viele nötig, wenn eine gute dabei sein soll. Man muss dafür sorgen, dass sich Ideen vermehren und gegeneinander behaupten. Derlei Überfluss ist zwar teuer, kann aber für die Innovationskraft entscheidend sein.

Der Kreditkartenaussteller Capital One führt jedes Jahr tausende von Studien durch, um neue Gewinn bringende Produkte und Bereiche zu erschließen. Dabei ist von vornherein klar, dass die meisten dieser Bemühungen vergeblich sein werden. Ein paar Treffer können neue Chancen bergen. Ignoranzmanager scheuen keine Fehlstarts und Sackgassen - sie haben gelernt, sie zu akzeptieren.

Die genannten Prinzipien entspringen der Erkenntnis, dass wir angesichts der ungeheuren Fülle von Nichtwissen letztlich nur sehr wenig wissen. Diese Tatsache vergisst leicht, wer sich auf das Management von vorhandenem Wissen beschränkt. Unseren Wissenshorizont mit dem aktuellen Kenntnisstand gleichzusetzen bedeutet auch, die Chance auf neue Erkenntnisse zu verspielen.

Die wichtigste Eigenschaft des Ignoranzmanagers ist eine Art konsequente Bescheidenheit. Es bedarf des Mutes und einer gewissen Weisheit, den Satz "Ich weiß es nicht" auszusprechen und diese Negation auch als Wert und Chance anzusehen - statt als Mangel. Indem wir auf das Nichtwissen achten, werden wir zugleich daran erinnert, dass wir das Wissen, das zu managen sich lohnt, erst erwerben müssen. n

-------------------------------------------------------------------

SERVICE

INTERNET

Die Internetadresse des Strategy Institute der Boston Consulting Group: www.bcg.com/this_is_bcg/ strategy_institute_global

-------------------------------------------------------------------

DAVID GRAY

ist Mitglied des Strategy Institute der Boston Consulting Group in Boston und Leiter der Strategy Gallery des Unternehmens.

-------------------------------------------------------------------

© 2003 Harvard Business School Publishing

Zur Ausgabe
Artikel 5 / 18
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren