Verhaltensforscher Ernst Fehr im Interview "Es gibt keine einfache Therapie"

Herr Professor Fehr, welche Wahrnehmungsverzerrung von Managern bereitet Unternehmen die größten Schwierigkeiten?
Fehr: Am problematischsten ist wahrscheinlich die Sunk Cost Fallacy – die Neigung, an einem einmal begonnenen Projekt festzuhalten. Wir sehen immer wieder, dass Manager auch dann nicht die Reißleine ziehen, wenn viele Indikatoren darauf hinweisen, dass ein Projekt scheitern wird. Sie werfen quasi gutem Geld schlechtes hinterher. Bei Managern ist das eine extrem machtvolle Verzerrung, vor allem wenn ihre Reputation an einem Projekt hängt. Die Sunk Cost Fallacy spielt bei Entscheidungen über Investitionen und die Strategie eine ganz große Rolle. Meist wird das durch Verlustaversion verstärkt ...
... also die Tendenz, dass Menschen Verluste höher gewichten als Gewinne. Aber ist nicht genau das eine wichtige Aufgabe von Managern – Chancen und Risiken abzuwägen und eine rationale Entscheidung zu treffen?
Fehr: Manager sind Menschen und damit per se nicht immer rational. Dazu kommt, dass sie sich häufiger als andere selbst überschätzen. Sie leiden also unter einer Verzerrung, die auf Englisch "Overconfidence" heißt. Bei Managern handelt es sich ja nicht um eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe, sondern um Menschen, die vieles gemeinsam haben. Diese Personen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr von sich überzeugt sind. Das ist ein Grund für ihren Erfolg: Je selbstbewusster jemand eine Sache vertritt, desto eher folgen einem die Leute. Manager müssen häufig andere überzeugen – Vorgesetzte, Aufsichtsgremien und so weiter. Doch so kommt es auch zu einer Selektion von Menschen, die eher dazu neigen, sich zu überschätzen. Daraus resultieren auch häufig falsche Entscheidungen.
Manager scheinen ja eine ganz schön verzerrte Weltsicht zu haben. Wenn Unternehmen Ihre Beratungsgesellschaft zu Hilfe rufen, welche Wahrnehmungsverzerrung sollen Sie am häufigsten beheben?
Fehr: Unsere Kunden kommen zu uns, weil sie ein Problem haben, das wir lösen sollen – nicht weil sie eine Wahrnehmungsverzerrung erkennen. Nicht selten ist das aber Ursache des Problems. Das zeigt sich dann an anderen Themen. Wenn wir etwa sehen, dass das Unternehmen viele Projekte begonnen hat, die erfolglos dahinplätschern, ist das ein Anzeichen für die Sunk Cost Fallacy. Wir diagnostizieren das mithilfe unseres verhaltensökonomischen Werkzeugkastens.
Können Manager das nicht selbst? Über Verhaltensforschung wird schon seit Jahrzehnten geschrieben. Jeder halbwegs belesene Manager weiß doch, dass der Homo oeconomicus nicht rational ist und wir alle Wahrnehmungsverzerrungen unterliegen.
Fehr: Diese Verzerrungen sitzen tief. Sie sind in der Psychologie der Menschen verankert. Manager sollten wissen, dass es sie gibt, aber das löst nicht das Problem. Das Wissen darum, dass Viren die Grippe verursachen, macht Sie auch nicht immun. Es gibt keine einfache Therapie.
Kann man sich wirklich nicht davon freimachen? Vieles scheint so offensichtlich zu sein!
Fehr: Klar: Der ideale Manager wäre frei von jeglichen Verzerrungen, und es gibt sicher große individuelle Unterschiede. Das Entscheidende aber ist, dass man sie nie ganz vermeiden kann. Unternehmen müssen deshalb die Entscheidungsarchitektur so gestalten, dass sie die individuellen Schwächen kompensiert. Sie brauchen Regeln, die verhindern, dass Verzerrungen zu Fehlentscheidungen führen.
Welche Regeln wären das?
Fehr: Das ist von Fall zu Fall verschieden, aber um ein Beispiel zu geben: Wenn es in einem Meeting um Investitionsentscheidungen geht, sollte der CEO immer erst zum Schluss reden. Warum? Weil er die größte Autorität hat. Wenn er am Anfang redet, lenkt er die Diskussion sofort in eine bestimmte Richtung. Selbst wenn jemand ein gewichtiges Gegenargument hat, wird er sich dann kaum noch trauen, den Mund aufzumachen. Oder er wird die Gegenargumente weniger überzeugend vorbringen.
Aber der CEO leitet die Sitzung. Da lässt es sich kaum vermeiden, dass er als Erster das Wort ergreift.
Fehr: Ja, aber die Einleitung sollte neutral sein. Und dann gilt: Zuerst die anderen reden lassen.
Welche Ratschläge geben Sie Unternehmen noch?
Fehr: Sie sollten sich sehr viele Gedanken über ihr Vergütungssystem machen. Boni etwa sollten sich am langfristigen Unternehmenserfolg orientieren. Es ist auch wichtig, dass das Unternehmen sie wieder zurückfordern kann, wenn sich im Nachhinein ein Fehlverhalten des Managers herausstellt. Dazu muss im Vertrag eine entsprechende Klausel stehen.
Bei der US-Bank Wells Fargo hatten Mitarbeiter Millionen Konten ohne Genehmigung der Kunden eingerichtet. Was war an den Anreizsystemen falsch? Waren die Verkaufsziele einfach zu ehrgeizig?
Fehr: Die Mitarbeiter wussten: Wenn ich die vorgegebenen Ziele erreiche, bekomme ich Geld, sonst erhalte ich gar nichts. Es gab keine Stufen, sondern nur ein Alles-oder-nichts. Das ist ein klassischer Fehlanreiz.
Das heißt: Die Entlohnung darf sich nicht am Prinzip "Ziel erreicht oder Ziel nicht erreicht" ausrichten?
Fehr: Ja, monetäre Anreize sollten immer "kontinuierlich" gestaltet sein, also den Grad der Zielerreichung berücksichtigen. Außerdem sollten sie die Vielfalt der Aufgaben eines Managers berücksichtigen. Ein Manager muss vieles richtig machen. Ich vergleiche das gern mit einem Zehnkämpfer: Er muss nicht nur ein schneller Läufer sein, sondern auch im Weitsprung, im Stabhochsprung und anderen Disziplinen gut sein. Allerdings: Wenn ich Anreize in einer Dimension setze, geht das immer zulasten anderer. Wenn Bonussysteme zu komplex werden, geht die Anreizwirkung verloren, weil keiner mehr durchschaut, was eigentlich belohnt wird.
Ein Anreizsystem sollte nicht zu einfach, aber auch nicht zu komplex sein – was ist die Lösung?
Fehr: Unternehmen brauchen holistische Indikatoren. Das funktioniert gut bei börsennotierten Gesellschaften. Falsch aber ist es, Boni einfach nur am Aktienkurs oder ähnlichen Indikatoren zu bemessen, wie es derzeit die Regel ist. Wir wissen aus der Forschung, dass Manager für Anstiege von Aktienkursen belohnt werden, die nur auf die allgemeine Marktentwicklung zurückgehen – vielleicht weil die Konjunktur gerade gut läuft. Wenn die Kurse aber sinken, werden sie nicht sanktioniert. Manager werden also für Glück belohnt und nicht bestraft, wenn sie etwas falsch machen. Deshalb wäre es besser, die relative Performance zu einem Vergleichsindex messen. Er setzt sich aus Unternehmen zusammen, die den gleichen konjunkturellen Faktoren unterliegen. In der Beratung haben wir hiermit viel Erfahrung gesammelt. Aber viele Manager wehren sich gegen objektive Vergleichsindizes, weil das nicht ihren Interessen entspricht.
Ist die finanzielle Motivation wirklich so wichtig? Sollten Unternehmen nicht vor allem darauf achten, einfach nur fähige Manager einzustellen?
Fehr: Es gibt gute CEOs, die in erster Linie ans Wohl des Unternehmens denken. Aber es gibt auch viele, die sehr eigennützig sind. Finanzielle Anreize sind dazu da, das Verhalten dieser Leute zu steuern. Doch das Problem beginnt schon früher, bei der Auswahl des Managers. Der beste CEO trifft nicht nur gute Entscheidungen, sondern ist auch charakterlich und moralisch ein Vorbild. Sein Verhalten hat Auswirkungen auf die Firmenkultur.
Im Grunde sind Unternehmen Kooperationsmaschinen. Abertausende Menschen arbeiten an einem gemeinsamen Ziel – dem Unternehmen zum Erfolg zu verhelfen. Das geschieht freiwillig und umso besser, je kooperativer die Kultur ist. Und die orientiert sich am CEO. Aufsichtsräte, die einen neuen Vorstandschef bestellen, müssen deshalb nicht nur die fachliche, sondern auch die charakterliche Eignung von Kandidaten überprüfen – das ist ganz wesentlich.
Woher weiß man, welcher Manager wirklich ethische Grundsätze vertritt? Nach außen hin stellt sich jeder als moralisch einwandfrei dar. Es wird ja niemand sagen: Ich denke nur an mein Bankkonto, macht mich zum CEO.
Fehr: Doch, das lässt sich überprüfen. Es gibt sehr viel informelles Wissen über einzelne Personen. Darum dürfen Verwaltungs- und Aufsichtsräte den persönlichen Kontakt nicht außer Acht lassen. Ich habe an der Universität viel Zeit mit der Auswahl neuer Professoren verbracht. Ein- oder zweimal ist es mir passiert, dass ich hervorragende Wissenschaftler berufen habe, die charakterliche Schwächen hatten. Im Nachhinein weiß ich: Das hätte mir vorher auffallen können, wenn ich mich entsprechend informiert hätte.
Sie können beispielsweise in Erfahrung bringen, wie oft jemand zuvor den Job gewechselt hat. Wenn er alle drei Jahre bei einem neuen Arbeitgeber angeheuert hat, frage ich mich, woran das liegt. Manche Mitarbeiter sind am Anfang immer Feuer und Flamme, und nach einem Jahr immer unzufrieden. Dann kommt es zum Jobhopping. Solche Leute werden nirgends glücklich.
Was muss eine Führungskraft noch können? Deutschen Managern wird ja nachgesagt, sehr analytisch zu sein, dafür aber nicht gut begeistern zu können. Muss ein Chef auch mal die Ratio beiseitelassen, um Mitarbeiter zu motivieren? Am Ende ist Führen ja das – anderen eine Richtung vorgeben.
Fehr: Der ideale Manager kann beides: Er hat analytischen Tiefgang, und er kann gleichzeitig die Leute mitreißen. Das gilt auf allen Ebenen. Auf der höchsten Ebene ist es natürlich besonders wichtig, weil viele Dinge von hier aus auf die ganze Organisation ausstrahlen. Am Ende geht es bei Führung um das Managen der Unternehmenskultur. Der Manager kommuniziert gegenüber seinen Mitarbeitern, welches Verhalten in der Organisation gewünscht ist.
Kommunikation muss vor allem verständlich sein. Heißt das für Manager: im Zweifel lieber die Dinge vereinfachen, statt auf Genauigkeit zu achten?
Fehr: Einfachheit ist immer wünschenswert. In meinen Augen kann man Menschen nur zu Dingen bewegen, die sie verstehen und nachvollziehen können. Diese Erfahrung habe ich in den 30 Jahren, die ich im Universitätsbetrieb verbracht habe, und auch in der Unternehmensberatung immer wieder gemacht. Deshalb versuche ich, Sachverhalte möglichst einfach zu erklären. Ich halte es mit dem Spruch: Wenn man etwas seiner Großmutter nicht erklären kann, dann hat man es selbst nicht richtig verstanden.
Wenn man eine komplexe Welt zu sehr reduziert, entsteht ein verzerrtes Weltbild.
Fehr: Natürlich darf man nicht zu sehr vereinfachen. Wenn etwas komplex ist, sollte man das schon erwähnen.
In Großbritannien und den USA haben Politiker großen Erfolg, die es mit der Komplexität nicht so genau nehmen.
Fehr: Populistische Politiker arbeiten sehr stark mit Vereinfachungen. Bei Massenbewegungen kann das eine erfolgreiche Strategie sein.
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Antonia Götsch, Chefredakteurin des Harvard Business managers, teilt Wissen aus den besten Managementhochschulen der Welt und ihre eigenen Erfahrungen mit Ihnen. Einmal die Woche direkt in Ihr Email-Postfach.
Können Manager sich da etwas abschauen? Unternehmen sind ja auch eine Art Massenbewegung.
Fehr: Tatsache ist: Wir haben alle nur eine begrenzte Aufmerksamkeitsspanne, können also Komplexität nur begrenzt verarbeiten. Die Kunst besteht darin, das Optimum zu finden. Nicht jeder hat diese kommunikative Gabe. Sie haben recht: Je emotionaler eine Situation ist, desto mehr spielen vereinfachende Mechanismen eine Rolle.
Nun ist die Politik häufig emotionaler aufgeladen als der Unternehmensalltag, außerdem gibt es dort politische Akteure, die sich in der Regel öffentlich kritisieren. In Unternehmen werden unterschiedliche Einschätzungen nicht öffentlich gemacht, und es geht vor allem um den Gegensatz zwischen Individualinteresse und dem gemeinsamen Unternehmensinteresse. Wenn also das Management die Unternehmensinteressen hintanstellt, wird das der Markt schnell bestrafen. Es existieren zusätzliche Sanktionsmechanismen, die in der Politik nicht wirken. Daher sind Menschen in Unternehmen stärker gezwungen zu kooperieren. Wenn Egoismen durchbrechen, ist das schlecht für das Unternehmen und am Ende oft auch für den Egoisten.
Trotzdem beschäftigen sich Menschen auch in Unternehmen viel mit sich selbst. Sie machen Persönlichkeitstests, gehen in Coachings und definieren Rollen im Team. Gibt es uns Sicherheit, wenn wir uns mit Kategorien identifizieren, die wir als positiv empfinden? Manchmal hat man den Eindruck, Menschen wollten sich geradezu selbst in Schubladen stecken.
Fehr Ich sehe darin kein Schubladendenken, sondern den Versuch, sich mit den eigenen Stärken und Schwächen auseinanderzusetzen. Jemand, der seine Schwächen kennt, weiß, wo er sich hinterfragen und wo er Rat suchen muss. Diese kritische Selbstreflexion ist wichtig, um sich zu verbessern.
Marcus Buckingham, einer unserer Autoren, kritisierte in einem HBM-Artikel kürzlich die unverblümte Feedbackkultur vieler Unternehmen. Sein Mantra lautet: Man soll nicht immer nach Schwächen suchen, sondern sich auf seine Stärken konzentrieren.
Fehr Man kann schon an seinen Schwächen arbeiten. Vielleicht hat ein Manager einen scharfen analytischen Verstand, ist aber nicht der beste Redner. Was, wenn er einen Vortrag halten soll? Dann würde ich ihm raten, seine Auftrittsfähigkeiten zu trainieren. Ich habe auch bemerkt, dass viele Doktoranden anfangs nicht gut schreiben können. Mit ein wenig Übung wird das dann besser. Selbst an seinen Emotionen kann man arbeiten. Wer zu impulsiv ist, kann das unter Kontrolle bringen – und sollte es auch.
Wäre es nicht besser, sich auf seinen Job zu konzentrieren statt auf Selbstoptimierung? Ich denke da an eine Studie von Chengwei Liu, einem Verhaltensforscher der Warwick Business School. Er hat herausgefunden, dass erfolgreiche CEOs meist einfach nur Glück hatten – sie waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Fehr: Dem würde ich widersprechen. Zufall spielt eine Rolle, aber nicht nur. Es ist kein Glück, wenn man den Zufall beim Schopfe packt. Als Niklas Kaul im Oktober Zehnkampfweltmeister wurde, hatte er Glück, dass der Topfavorit verletzt ausgeschieden war, aber genau dann rief er seine beste Leistung ab. Tatsächlich besteht Erfolg aus drei Komponenten: Glück, Können und Durchhaltevermögen. Vergleichen Sie folgende Situation: Ein Student fliegt durch eine Prüfung und bricht enttäuscht sein Studium ab. Ein anderer tritt dreimal an, besteht im dritten Versuch und wird ein erfolgreicher Manager. Der Zweite hatte Durchhaltevermögen – und das ist für den Erfolg häufig wichtiger als Glück.
Sie werden als Kandidat für den Wirtschaftsnobelpreis gehandelt. Haben Sie schon eine Rede in der Schublade?
Fehr: Nein, ich versuche, überhaupt nicht daran zu denken. Mir macht die Arbeit Freude. Darauf konzentriere ich mich, nicht auf alles andere, was da kommen mag. Als meine akademische Karriere begann, hätte ich ohnehin nie gedacht, je so weit zu kommen.
Bei Ihnen besteht also keine Gefahr der Selbstüberschätzung?
Fehr: Ich kenne meine Schwächen ganz gut.
Vielleicht ist Ihre Wahrnehmung ja verzerrt ...
Fehr: Sie meinen, ich unterliege einer Selbsttäuschung? Vielleicht. Aber hier geht es stets auch um die Bereitschaft, offen gegenüber der Erkenntnis von eigenen Fehlern zu sein.
© HBM 2019