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Einzelhandelskonzepte App statt Kasse

Niemand mag es, im Geschäft Schlange zu stehen. Bei Amazon Go gibt es daher keine Kassen mehr – Sensoren erkennen, was die Kunden kaufen. Kann das im Einzelhandel überall funktionieren? Forscher haben die Vor- und Nachteile neuer Ladenkonzepte untersucht.
aus Harvard Business manager 4/2020
In Los Angeles will Amazon bald smarte Einkaufswagen einsetzen: Sie können Produkte erkennen und wiegen und damit die Kasse im Supermarkt überflüssig machen.

In Los Angeles will Amazon bald smarte Einkaufswagen einsetzen: Sie können Produkte erkennen und wiegen und damit die Kasse im Supermarkt überflüssig machen.

Foto: amazon

Die Zukunft des Einzelhandels lässt sich im Schweizer Dorf Bonstetten bewundern, beim Metzger Steiner: lange Öffnungszeiten, große Auswahl – und keine Bedienung weit und breit. Stattdessen gibt es eine Kasse, an der Kunden Wurst, Käse und Eier selbst einscannen und per Debit- oder Kreditkarte bezahlen können. Die Türen öffnen um 8 Uhr morgens und schließen abends um 10, automatisch. Kameras sollen Diebe abschrecken. Mitarbeiter betreten das Geschäft nur, um sauber zu machen und die Regale aufzufüllen.

Seit einem halben Jahr existiert der Laden. Es ist die dritte Verkaufsstelle der Metzgerei und die erste, die komplett auf Selbstbedienung getrimmt ist. "Ein Ziel war, keine neuen Verkäufer einstellen zu müssen. Leute, die den Job mit Leidenschaft machen, findet man ohnehin kaum noch", sagt Geschäftsführer Markus Steiner. "Die Maschinen und die Ausrüstung, um die Produkte zu verpacken und den Laden zu bewirtschaften, hatten wir ja bereits." Das Konzept funktioniere, sagt er: "Im Dorf kommt der Laden gut an."

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Für Einzelhändler wie Kunden gehen lang gehegte Wünsche in Erfüllung. Die einen sparen Personal und vergrößern die Verkaufsfläche, die anderen vermeiden das Schlangestehen – der Forschung zufolge eines der größten Ärgernisse beim Einkaufen. Möglich macht das die Technik: Selbstbedienungskassen, Sensoren und Software sind mittlerweile so ausgereift, dass der vollautomatische Laden in Reichweite ist. Ob bei Saturn, Edeka oder Hornbach: In immer mehr Läden scannen Kunden ihre Einkäufe selbst ein, manchmal direkt am Regal, meist an der Kasse; verrechnet wird häufig über die App des Händlers.

Taktgeber dieser Entwicklung ist, wie so oft, Amazon: Der US-Konzern drängt mit Macht in den stationären Handel und setzt dabei neue technische Maßstäbe. Experimentierfeld sind seine Amazon-Go-Läden: Kunden melden sich am Eingang mit ihrem Kundenkonto über das Smartphone an; Kameras an den Decken und Waagen in den Regalen zeichnen auf, welche Produkte sie mitnehmen; sobald sie das Geschäft verlassen, erhalten die Kunden ihre elektronische Rechnung. Kassen? Die gibt es bei Amazon Go gar nicht mehr.

Im Einzelhandel sorgt das für Wirbel. Seit Amazon vor zweieinhalb Jahren die US-Biokette Whole Foods übernommen hat, schaut die Branche mit Argusaugen auf den neuen Rivalen, der sich in ihrer Branche breitmacht und große Pläne verfolgt: Bis 2021 will der Konzern bis zu 3000 Amazon-Go-Filialen eröffnen. Berichten zufolge denkt das Unternehmen auch darüber nach, seine Technologie an Wettbewerber zu lizenzieren. Vielleicht weil sie so teuer ist: Die technische Ausstattung einer der hochgerüsteten Filialen soll im Durchschnitt mit einer Million Dollar zu Buche schlagen.

Doch wie viel Technik braucht es wirklich, um im Einzelhandel der Zukunft zu bestehen? Das Institut für Marketing der Universität St. Gallen hat die neuen kassenlosen Geschäfte in einer Studie untersucht. Dabei teilten die Forscher den Einkaufsprozess im Laden in vier Phasen auf: vor dem Einkauf, Check-in, Produktauswahl und Check-out. Sie sortierten die unterschiedlichen Ansätze, die derzeit auf dem Markt zu finden sind, in die vier Bereiche ein und listeten die jeweiligen Vor- und Nachteile auf. Manches, das im Ausland funktioniert, etwa die Gesichtserkennung im chinesischen Alibaba Futuremart, ließe sich in Deutschland aus Datenschutzgründen nicht so leicht durchsetzen; anderes, etwa die Sensortechnik bei Amazon Go, wäre wohl nur eine Frage des Geldes.

Für Einzelhändler, die sich mit dem Thema noch nicht befasst haben, haben die Forscher eine gute Nachricht: Bislang hat sich kein Konzept auf dem Markt durchgesetzt, vielmehr befinden sich fast alle Unternehmen noch im Experimentiermodus. "Für kassenlose Geschäfte gibt es keine Standardlösung", sagt der Studienautor und Direktor des Instituts für Marketing, Marcus Schögel. "Die Herausforderungen sind in der Branche zu unterschiedlich. Das heißt jedoch nicht, dass Einzelhändler die Hände in den Schoß legen können. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um herauszufinden, was für die eigenen Kunden und das eigene Sortiment am besten funktioniert."

"Die größte Herausforderung ist die Warensicherung"

Der Elektronikhändler MediaMarktSaturn probiert in mehreren Städten aus, wie Läden ohne Kassen bei den Kunden ankommen. Ein Gespräch mit Sonja Moosburger, Geschäftsführerin der Innovationseinheit N3XT.

Was haben Ihre Tests ergeben?
Moosburger In einem Projekt haben wir 2018 etwa für drei Monate einen kassenlosen Store in Innsbruck eröffnet. Kunden mussten für ihren Einkauf eine Saturn-Express-App auf dem Handy installieren und sich registrieren. Dann konnten sie den Barcode von Produkten scannen und via Paypal oder Kreditkarte bezahlen. Jedes Produkt war mit einem RFID-Transponder versehen, der durch den Bezahlvorgang deaktiviert wurde. Das Konzept kam überraschend gut an. 85 Prozent der Kunden sagten, dass sie den Store weiterempfehlen würden. Aber wir haben auch erfahren, dass es für viele noch eine Hürde ist, sich über eine mobile Website anzumelden oder eine App herunterzuladen.

Ist das die größte Herausforderung?
Moosburger Nein, das ist ganz klar das Thema Warensicherung. Als Elektronikhändler verkaufen wir auch hochwertige Produkte. Mit neuen Bezahltechnologien müssen wir daher auch immer sicherstellen, dass niemand, beispielsweise mit einem neuen iPhone, unsere Märkte einfach verlassen kann, ohne zu bezahlen.

Werden Sie künftig also alle Produkte mit RFID-Chips ausstatten?
Moosburger Die Technik hat Vorteile: Sie sorgt nicht nur für Warensicherheit, sondern auch dafür, dass wir in der Lieferkette sehen können, wo sich die Produkte befinden. Für Händler, die nicht selbst produzieren und die viele Lieferanten haben, stellt sich aber die Frage: Wer bringt die Chips an? Wenn das die Hersteller tun würden, wäre das toll - aber das ist nicht der Fall. Wenn wir das übernehmen, wenn die Waren im Lager eintreffen, haben wir einerseits den Aufwand. Andererseits wäre dies zudem aus unserer Sicht auch ein zu später Zeitpunkt.

Welche Alternativen gibt es?
Moosburger Wir testen hier unterschiedliche technische Optionen. In einem Saturn-Markt in München haben wir beispielsweise eine Technologie pilotiert, mit der Produkte, die mit einer Art Spinne gesichert sind, durch den Kunden am Regal bezahlt und entsichert werden können. Wenn der Kunde per App bezahlt, verbindet sich das Handy direkt mit der Spinne und entsichert diese. Am Ende könnte es unterschiedliche Systeme für unterschiedliche Produkte geben. Die Herausforderung ist, den Prozess für den Kunden selbsterklärend zu gestalten.

Wenn Sie raten würden: Welche Technik wird sich durchsetzen?
Moosburger Das ist schwierig zu sagen. Die Technologie entwickelt sich rasant. Ich glaube, wir werden im Lebensmittelbereich zunächst mehr Selbstscannerkassen sehen, anderswo bezahlen die Kunden häufiger bei Mitarbeitern mit mobilen Kassen. Was wir gerade testen, muss nicht das Konzept sein, das wir am Ende in unsere Märkte bringen. Wir puzzeln zusammen, wie die einzelnen Elemente als Ganzes funktionieren. Am Ende ist das dann eine Lösung, die für uns und unsere Kunden am besten passt.

Bei Amazon Go erfassen Kameras und Sensoren, was der Kunde auswählt, die Software rechnet über das Kundenkonto ab. Ein Modell für Sie?
Moosburger Die Amazon-Go-Läden sind klein, das Sortiment begrenzt. Wir haben mehr und hochwertigere Produkte; unsere Geschäfte sind größer, es kommen mehr Kunden. Die Technologie lässt sich da nicht einfach übertragen. Sie muss auch bezahlbar sein. Amazon macht keine Aussagen darüber, wie viel das Ganze kostet.

Berichten zufolge rund eine Million Dollar pro Laden ...
Moosburger Was Sie auch bedenken müssen: Es geht nicht nur um die Hardware, sondern auch um die Datenverarbeitung. Die Software muss fehlerfrei erkennen, welche Waren welcher Kunde nimmt. Das muss sie per Machine Learning trainieren. Auf geringer Fläche mit einem kleinen Sortiment von Lebensmitteln, das sich kaum ändert, ist das möglich. Eine Packung Milch sieht auch in drei Jahren noch wie eine Packung Milch aus. Bei Konsumelektronik wechselt das Sortiment häufiger, ebenso im Modebereich. Der Händler muss die Software daher mit jedem neuen Produkt neu trainieren. Aber klar: Wenn sich die Kamerasensorik weiter so entwickelt wie bisher, könnte das auch für normale Einzelhändler bezahlbar werden.

Eine weitere Erkenntnis der Studie: Einzelhändler sollten Kassen nicht abschaffen, um Kosten zu sparen. Die Zukunft der Branche liege nicht in weniger, sondern in besserem Service, sagt Schögel. Das deckt sich mit Forschungserkenntnissen des Instituts für Handelsforschung Köln (siehe "Attraktiv auf der Fläche" , HBM September 2019). "Am Ende werden sich die Konzepte durchsetzen, die sich konsequent an den Kundenbedürfnissen ausrichten", sagt Schögel. "Der Servicegedanke muss daher bei allen Veränderungen im Vordergrund stehen. An Amazon lässt sich dabei sicher ein Beispiel nehmen."

Und guter Service muss nicht personalintensiv sein. Markus Steiner in Bonstetten berichtet, wie ihm eine junge Kundin neulich sagte: "Ich will gar nicht, dass mich jemand bedient. Das Schöne an Ihrem Laden ist, dass ich eine halbe Stunde hin- und hergehen kann und mich niemand fragt: ,Was möchten Sie?'" Das habe ihn nachdenklich gemacht, sagt Steiner. "Man lernt, die Kunden nicht warten zu lassen und ihnen zu zeigen, dass man sich um sie kümmert. Aber viele wollen heute anonym einkaufen. Das Verhalten hat sich geändert." Falls in seinem Selbstbedienungsladen doch mal jemand Hilfe benötigt: Er hat eine Telefonnummer hinterlassen. "Unsere Produktion ist nebenan. Wir sind dann schnell da", sagt Steiner. © HBM 2020

Quelle: Marcus Schögel, Severin Lienhard: "Cashierless Stores – the New Way to the Customer?", Marketing Review St. Gallen, 2020

Dieser Beitrag erschien in der April-Ausgabe 2020 des Harvard Business managers.

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