Unternehmerisches Handeln ist eine kontinuierliche Gemeinschaftsleistung Die Mär vom Entrepreneur
ROBERT E. REICH lehrt Wirtschaftspolitik und Management an der John F. Kennedy School of Government der Harvard University in Cambridge/ Massachusetts. Der Beitrag beruht auf seinem neuen Buch "Tales of a New America" (New York; Times Books, 1987).
Aufwachen, junger Mann', rief eine rauhe Stimme. Ragged Dick öffnete langsam seine Augen und blickte schlaftrunken in das Gesicht des Sprechers, ohne dabei Anstalten zu unternehmen aufzustehen. 'Wach auf, du Rumtreiber', sagte der Mann nun etwas ungeduldig. 'Du würdest wohl den ganzen Tag hier rumliegen, wenn ich dich nicht gerufen hätte.'" Mit diesen Worten beginnt die Geschichte von "Ragged Dick" oder "Street Life in New York", Horatio Algers erste von insgesamt 135 Erzählungen, die Ende des 19. Jahrhunderts erschienen und eine Verkaufsauflage von rund 20 Millionen Exemplaren erreichten. Wie auch die nachfolgenden Bücher erzählt "Ragged Dick" die Geschichte eines jungen Mannes, der es mit Fleiß und Glück vom Straßenjungen zu einer wohlanständigen bürgerlichen Existenz brachte. Fast ein Jahrhundert später vertritt ein amerikanischer Bestseller aus der Berufswelt ein neues Heldenbild und ein ganz anderes Erfolgsrezept: "Im letzten Tageslicht wirkte die See bis hin zum Horizont wie eine einzige graue Masse, deren Wellenberge von Schaumkappen gekrönt waren. Aus der Plicht der kleinen, zwölf Meter langen weißen Schaluppe sahen die Wellen wie Gebirge aus, und der Großteil der Mannschaft vermied es, zurückzublicken. Unter gerefften Segeln, nordostwärts ablaufend, legte sich das Boot krachend von einer Seite auf die andere. Töpfe und Pfannen schlugen in der Kombüse umher. Eine Sechserpackung Bier, die man vergessen hatte wegzustauen, rutschte laut scheppernd hin und her. Irgendwann im Laufe der Nacht rief ein Mannschaftsmitglied im Geheul des Windes: ,Was versuchen wir eigentlich zu beweisen?'" Das 1981 erschienene Buch von Tracy Kidder heißt "Die Seele einer neuen Maschine" und ist die Geschichte eines arbeitswütigen Erfinderteams, das in gemeinschaftlicher Anstrengung einen Computer baute. Die Eingangsszene ist eine Metapher für das abenteuerliche Unterfangen des Teams. Die beiden Erzählungen, die grundverschiedene Ideale des amerikanischen Unternehmertums vertreten, symbolisieren den Scheideweg, vor dem die USA in den 90er Jahren stehen. Horatio Alger vertritt das traditionelle Erfolgskonzept: Die altbekannte Mär der erfolgreichen Einzelkämpfer, der unternehmenden Helden, die mit einer Mischung von Bildungseifer, Glauben, Durchsetzungsvermögen und ganz einfach Glück zu Ruhm und Reichtum kommen. Im Gegensatz dazu berichtet Tracy Kidder von den geballten Fähigkeiten, der Energie und dem Engagement eines Teams - dem gemeinschaftlichen Unternehmertum. Solche Erzählungen haben mehr, als nur Unterhaltungswert. Ähnlich alten Sagen, die einen wahren Kern enthalten, haben auch sie Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung und unser Verhalten. Sie können mobilisierend auf uns wirken und unser Handeln viel stärker beeinflussen als manch klare, sachliche Information. Wenn wir uns an das traditionelle Märchen des unternehmenden Helden klammern, bremsen wir den Wandlungs- und Anpassungsprozeß, der für unseren wirtschaftlichen Erfolg notwendig ist. Um im heutigen Wettbewerb zu bestehen, müssen wir kollektives Unternehmertum fördern, Bemühungen, bei das Gesamtergebnis mehr ist als nur die Summe der einzelnen Beiträge. Wir müssen verstärkt Teams und weniger vereinzelte Genies feiern.
Helden und Arbeitstiere
Der alte, immer noch vorherrschende amerikanische Traum kennt zwei Akteure: den unternehmenden Helden und das Arbeitstier - den Inspirierten und den Transpirierenden. In diesem Traum sind die Helden der Inbegriff von Freiheit und Kreativität. Sie haben die großen Ideen und schaffen die Voraussetzung für ihre Umsetzung. Sie ergreifen Initiative, entwickeln technische und organisatorische Innovationen und finden neue Lösungen für alte Probleme. Diese Männer und Frauen gründen dynamische junge Unternehmen, retten andere vorm Niedergang und bringen frischen Wind in festgefahrene Strukturen. Mut und Phantasie sind Bestandteil ihrer Arbeit. Diese Saga ist so alt wie die USA, und wir haben davon in der Vergangenheit profitiert. Wir sehen uns gerne als geborene Einzelkämpfer und Schöpfer. Unser Unternehmungsgeist war lange eines unserer herausragenden Merkmale. Generationen von Erfindern haben uns eine Vorreiterrolle in der Technik beschert; in einer Welt der Neinsager und Traditionalisten ragten die typischen amerikanischen Eigenschaften heraus: durch nichts und niemand zu bremsender Optimismus, Risikobereitschaft und der Wille, neue Wege zu beschreiten. In den USA, so ging die Mär, kann es jeder vom Tellerwäscher zum Millionär bringen. Um die Jahrhundertwende wurden Märchen manchmal noch wahr. Edward Harriman begann seine Karriere als Bürobote mit fünf Dollar die Woche und befehligte schließlich ein Eisenbahnimperium. John D. Rockefeller wurde vom Angestellten eines Handelskontors zu einem der reichsten Männer der Welt. Andrew Carnegie arbeitete als Junge für 1,20 Dollar die Woche in einer Pittsburgher Baumwollspinnerei und wurde der größte Stahlbaron des Landes. Anfang des 20. Jahrhunderts scheffelte Henry Ford mit der Massenproduktion des Modells T ein Vermögen und wurde dadurch zum Nationalhelden und Präsidentschaftsanwärter. Die Erzählungen von Horatio Alger ließen in den Köpfen der amerikanischen Bevölkerung das Idealbild einer Gesellschaft entstehen, in der Fleiß und Phantasie ihren gerechten Lohn erhalten. Die Haupttugend hieß Selbständigkeit; bewundert wurde der Selfmademan. Wunschziel eines jeden war es, sein eigener Herr zu sein. Andrew Carnegie drückte die vorherrschende Meinung folgendermaßen aus: "Gibt es einen einzigen potentiellen Geschäftsmann, der sich vorstellen kann, den Rest seines Lebens als Lohnempfänger zu verbringen? Ich bin überzeugt, keinen einzigen. Genau das demonstriert den Unterschied zwischen Geschäft und Nicht-Geschäft; der eine ist Meister und vom Gewinn abhängig, der andere ist Diener und lohnabhängig." Die amerikanische Öffentlichkeit hebt nach wie vor den unternehmenden Helden. Für Lee lacocca waren die Worte seines Vaters, eines italienischen Einwanderers, ausschlaggebend, der meinte: "Du kannst alles werden, wenn du es wirklich willst und bereit bist, hart dafür zu schuften." Der Sohn arbeitete sich hoch bis zum Präsidenten der Ford Motor Company, wurde unvermutet von Henry Ford junior vor die Tür gesetzt, rettete Chrysler vor dem Bankrott, wischte Henry Ford in seiner zum Bestseller gewordenen Autobiographie eins aus und gilt als möglicher Präsidentschaftsanwärter. Ein Horatio- Alger-Held hätte es kaum besser machen können. Peter Ueberroth, Sohn eines Handelsreisenden, mußte sich sein Universitätsstudium selber verdienen, baute im Alleingang ein 30- Millionen-Dollar-Unternehmen auf, organisierte die Olympischen Spiele von 1984 und wurde vom Nachrichtenmagazin "Time" zum Mann des Jahres gekürt. Bill Gates, ein Studienabbrecher, gründete eines der größten Softwarehäuser der Welt und wurde schon mit Anfang 30 Milliardär. Solche Geschichten hört man aus dem ganzen Land: Da gibt es Professoren, die mit selbst entwickelten Produkten neue Industriezweige ins Leben rufen, und junge Ingenieure, die eine feste Anstellung hinschmeißen, ihre Chance suchen und auf eine Goldader treffen. Der Wohlstand aller, so lautet die amerikanische Legende, hängt von den unternehmerischen Visionen solcher einzigartiger, durchsetzungsfähiger Individualisten ab. Wenn die unternehmenden Helden die Hauptrolle in diesem Schauspiel einnehmen, bleibt für das restliche Heer von Arbeitskräften nur eine unbeachtete, ungefeierte Nebenrolle. Der durchschnittliche Arbeiter spielt in diesem Märchen die Rolle der grauen Ameise - ein Rädchen in der großen Maschine, austauschbar, unfähig, ohne Anweisung von oben etwas zu leisten. Er lebt von der Arbeit seiner Hände, nicht von der seines Kopfes. Er übt geistlose Tätigkeiten aus. Kreativität oder Eigenverantwortung sind nicht gefordert, sondern Verläßlichkeit und Gehorsam. Der unternehmende Held wird von seiner Phantasie geleitet, der Arbeiter von festen Regeln. Die durchschnittlichen Arbeiter gelten als uninteressant und uninteressiert, der kreative Funke oder die unternehmerische Vision fehlen bei ihnen vollkommen; sie sind namens- und gesichtslos. Bestenfalls bemühen sie sich beim Ausführen der grandiosen Visionen des unternehmenden Helden. Im schlimmsten Fall jedoch verlangen sie höhere Löhne für kürzere Arbeitszeit, leisten ein absolutes Minimum oder verhalten sich wie Beamte beim Dienst nach Vorschrift. Das amerikanische Wirtschaftssystem benötigt beide Typen - Entrepreneur und Arbeiter. Doch Behandlung und Entlohnung unterscheiden sich genauso stark wie ihre jeweiligen Rollenklischees. Wenn man die Rolle des Unternehmers in diesem Paradigma kennt, erscheint die Differenzierung nur angemessen. Der Schriftsteller George Gilder schreibt: "Unser aller Lebensgrundlage und Fortschritt ist nicht von einer großen, berechenbaren Maschine abhängig, sondern von der Kreativität und dem Mut einzelner Männer, die Risiken eingehen, um unseren Wohlstand zu gewährleisten."
Warum uns Horatio Alger
nicht mehr helfen kann
Dieser ganze Mythos hat einen großen Pferdefuß: Er ist überholt. Die Wirtschaftsform, die er beschreibt, existiert nicht mehr. An diesem überkommenen Erfolgsrezept festzuhalten, bedeutet, unsere Zukunft in mehr als einer Hinsicht zu gefährden: * In der heutigen Weltwirtschaft werden die großen Ideen, die in den Köpfen amerikanischer Unternehmer entstanden sind, schnell in andere Länder verpflanzt. Konkurrenten in aller Welt können sie nach Belieben übernehmen, verändern, verbessern und in neue Erfolge verwandeln. * Auch die Maschinen, die amerikanische Unternehmer zum Umsetzen ihrer Ideen konstruiert haben, lassen sich nicht in den USA festhalten. Fertigungstechnologien wandern rund um die Welt auf der Suche nach den billigsten Arbeitskräften und den angenehmsten Marktbedingungen. * Arbeitskräfte in anderen Teilen der Welt sind häufig billiger oder produktiver als in den USA. Weltweit sind Millionen von Arbeitern bereit, ihre amerikanischen Kollegen zu unterbieten. * Einige konkurrierende Länder, besonders Japan, sind dabei, die alte Trennung zwischen Kopf- und Handarbeitern abzuschaffen - mit außergewöhnlich guten Ergebnissen. Bei weltbewegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und Entdeckungen nehmen die USA nach wie vor eine Führungsrolle ein. Doch die großen Ideen, die im Lande entstehen, werden rasch im Ausland aufgenommen, wo sie nicht nur mit großer Geschwindigkeit, niedrigen Kosten und großer Effizienz realisiert, sondern auch kontinuierlich weiterentwickelt und verbessert werden. Allzu häufig bleiben US- Firmen irgendwo zwischen Erfindung und Produktion auf der Strecke. In den USA wurde 1947 der Transistor erfunden. 1953 verkaufte Western Electric die Lizenz für 25 000 Dollar an Sony - der Rest der Geschichte ist bekannt. Einige Jahre später vergab RCA die Lizenz für die Produktion von Farbfernsehgeräten an einige japanische Firmen - das war der Anfang vom Ende der Farbfernseherproduktion in den USA. Die Montage der TV-Geräte wanderte schließlich nach Taiwan und Mexiko. Bei Sony und anderen japanischen Firmen fand die Technologie zur selben Zeit bereits ganz neue Anwendungsbereiche, und durch kontinuierliche Verbesserungen entstand eine Palette neuer Gebrauchsgüter. Unimation vergab 1968 eine Lizenz zur Herstellung von Industrierobotern an Kawasaki. Die Grundlagentechnologie wurde von Kawasaki übernommen und für eigene Zwecke verbessert. Das gleiche Strickmuster trifft auf fast alle großen Ideen zu. In den USA wurden Videorecorder, Oxygen-Stahlöfen, Mikrowellenherde, Pressen für die Automobilherstellung, numerisch gesteuerte Werkzeugmaschinen, integrierte Schaltkreise und so weiter und so fort erfunden. Aber all diese großartigen Erfindungen wurden schnell in anderen Ländern umgesetzt, in Entwicklungsländern als einfache Serienproduktion, in Japan als kontinuierlich weiterentwickelte Anwendungen. In jedem Fall haben die USA an Terrain verloren. Den alten Industrienationen stehen zwei Möglichkeiten offen: Sie können versuchen, mit Niedrigstlöhnen und Arbeitsbedingungen, die denen der Entwicklungsländer entsprechen, den Konkurrenzkampf aufzunehmen oder sich mit der Fähigkeit, Ideen möglichst schnell und gut in bessere Produkte umzusetzen, im Wettbewerb zu behaupten. Nur der zweite Weg kann der Bevölkerung ein hohes Realeinkommen gewährleisten. Die Sache hat aber einen Haken: Mit einigen wenigen Unternehmern läßt sie sich nicht verwirklichen. Innovation muß zu einer kontinuierlichen Gemeinschaftsleistung werden. Und das erfordert ein neues Ideal - kollektives Unternehmertum.
Das neue ökonomische
Paradigma
Wenn die USA den neuen globalen Wettbewerb für sich entscheiden wollen, müssen sie sich auf die Kreativität und die Fähigkeiten aller Beschäftigten stützen, nicht nur auf geniale Erfinder oder dynamische Unternehmensführer. Wettbewerbsvorteile entstehen heute durch kontinuierliche Innovation und Vervollkommnung von Ideen, die im gesamten Unternehmen zu finden sind. Der Unternehmensaufbau ist dezentralisiert, so daß jedes Firmenmitglied die Gelegenheit und den Freiraum hat, sich an der Entwicklung zu beteiligen. Obwohl das eine radikale Abkehr von der Tradition bedeutet, ist sie bereits mehr oder weniger in allen gutgeführten amerikanischen und japanischen Konzernen in die Tat umgesetzt. Im Gegensatz zu den Japanern wird das in Amerika nur noch nicht anerkannt und gewürdigt. Betrachten wir nur einige wenige Beispiele, wo sich kollektives Unternehmertum beobachten läßt. Dem Röhrenradio folgte der Transistorempfänger, später der Walkman, die Compactdisc und schließlich der CD-Plattenspieler. Aus Farbfernsehern werden digitale Mehrbildgeräte und aus Videorecordern Camcorder. Einfacher Stahl wurde von korrosionsbeständigem Hochleistungsstahl abgelöst, und daraus entstanden wieder neue Werkstoffe, Verbindungen von Stahl mit Silizium und Polymeren. Aus Grundchemikalien wurden keramische und kristalline Spezialwerkstoffe entwickelt. Kupferdrähte wurden durch Kupferkabel und schließlich Glasfasern ersetzt. Diese Entwicklungen kennen keinen eindeutigen Ablauf mit Anfang, Mitte und Ende. Im Gegensatz zu großen Ideen, aus denen standardisierte Massenprodukte entstehen, unterliegen diese Produkte einem kontinuierlichen Wandlungsund Anpassungsprozeß. Die Leistung der Beschäftigten auf allen Ebenen beschränkt sich nicht darauf, die Maschinen zu bedienen und stumpfsinnige Handgriffe auszuführen, sondern sie erforschen laufend Verbesserungsmöglichkeiten für Produkte und Produktionsverfahren. Man kann in diesem Zusammenhang nicht mehr von separaten Branchen wie Stahl, Autos oder sogar Banken sprechen. Die Grenzen zwischen Warengruppen oder Dienstleistungen verschwimmen. Bei solch wandlungsfähigen Produkten und Verfahren ist das Wachstum oder der Niedergang von Betrieben nicht mehr allein von spezifischen Marktbedingungen abhängig, sondern von der Kreativität und der Anpassungsfähigkeit der Belegschaft. Beschäftigte in solchen Organisationen sind ununterbrochen dabei, das Leistungsprogramm des Unternehmens neu zu erfinden; eine Idee führt zur nächsten. Die Herstellung von Autos erfordert die Konstruktion elektronischer Schaltkreise, die den Benzinverbrauch regeln und die Motorleistung überwachen; die Entwicklung dieser Instrumente führt zu verbesserten Sensoren, die Schadstoffausstoß und Luftfeuchtigkeit messen. Zur Autoherstellung benötigt man heute flexible, computergesteuerte Montageroboter; die konstante Verbesserung dieser Technologie führte schließlich zu sogenannten Expertensystemen, die auch in anderen Bereichen angewandt werden können. Was ursprünglich einmal die Kfz-Industrie war, umfaßt schließlich ein breites Spektrum unterschiedlicher Technologien mit einer Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten, die alle eine gemeinsame technologische Grundlage haben, aber auf verschiedenen Märkten Verbreitung finden. Bei diesem Paradigma ist Unternehmertum nicht mehr die Domäne des Firmengründers oder des Spitzenmanagements. Es ist vielmehr eine Fähigkeit und eine Grundhaltung, die im ganzen Unternehmen verbreitet ist. Experimentieren und Entwickeln sind ein Dauerzustand, während das Unternehmen nach neuen Einsatzmöglichkeiten für das Wissen und die Fähigkeiten seiner Beschäftigten sucht. Die Grenzen zwischen Innovation und Produktion, zwischen Spitzenmanagement und Produktionsarbeitern verschwimmen. Da die Fertigung kontinuierlichen Erfindungsgeist verlangt, muß sich Unternehmertum auf viele tausend kleine Ideen anstelle von einigen wenigen großen konzentrieren. Da Know-how und Erfahrung im ganzen Unternehmen verbreitet sind, löst das Topmanagement nicht die Probleme, sondern es schafft ein Umfeld, in dem die Menschen die Probleme selber erkennen und lösen. Der Großteil der Ausbildung für diesen Arbeitsstil findet direkt am Arbeitsplatz statt. Schulbildung kann darauf vorbereiten, Erfahrungen aufzunehmen und sie zu verarbeiten, sie ist jedoch kein Ersatz für tatsächliche Erfahrung. Niemand kann voraussagen, welche spezifischen Fähigkeiten ein Arbeiter braucht, um an seinem Arbeitsplatz erfolgreich zu sein, wenn Informationsverarbeitung, Sachkunde und Kreativität gefragt sind. Jede Tätigkeit, die sich exakt vorausplanen läßt, ist per definitionem eine Tätigkeit, die sich in ein Billiglohnland verlagern läßt oder von Robotern oder Computern erledigt werden kann; Routinetätigkeiten sind dazu bestimmt zu verschwinden. Individuelle Fähigkeiten werden bei gemeinschaftlichem Unternehmertum in die Gruppe integriert; kollektive Innovationsfähigkeit ist weit mehr als nur die Summe einzelner Teile. Im Laufe der Zeit lernen die Gruppenmitglieder durch Zusammenarbeit bei diversen Problemen und Verfahren die Fähigkeiten der anderen kennen. Sie begreifen, wie sie einander zur Leistungssteigerung unterstützen können, was jeder einzelne zum Projekt beitragen kann und wie sich individuelle Sachkunde am besten einsetzen läßt. Jeder bemüht sich ständig, Verbesserungen vorzunehmen, die den Gesamtablauf erleichtern und beschleunigen. Durch die Vielzahl der kleinen Veränderungen, die im gesamten Betrieb stattfinden, wird die Entwicklung des Unternehmens vorangetrieben. Kollektives Unternehmertum erfordert also eine enge Zusammenarbeit der Menschen auf allen Ebenen im Unternehmen. Um Konsumentenbedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen, müssen Konstrukteure und Techniker mit Vertrieb und Werbung vertraut sein. Das Verkaufspersonal muß die Kapazitäten des Unternehmens kennen, spezialisierte Produkte zu entwickeln und zu liefern. Die Fähigkeit des Unternehmens, sich neuen Möglichkeiten zu stellen und von ihnen zu profitieren, hängt davon ab, ob es in der Lage ist, Informationen weiterzugeben und alle im Betrieb an der umfassenden Suche nach Verbesserungs-, Anpassungs-, Umwandlungs- und Perfektionierungsmaßnahmen zu beteiligen. Kollektives Unternehmertum beinhaltet auch veränderte Organisationsstrukturen. Das alte Paradigma schrieb den Unternehmen eine Reihe von hierarchischen Rängen vor, damit der Vorgesetzte der jeweiligen Ebene das vorschriftsmäßige Verhalten seiner Untergebenen überwachen konnte. Unternehmen, die sich kontinuierliche Innovation und ständige Verbesserung zum Ziel gesetzt haben, verwenden Strukturen, die Innovationsfreude auf jeder Ebene fördern. Ein Gefühl für Qualitätssteigerung der Produkte und Verfahren ist wichtiger als blinder Gehorsam. Koordination und Kommunikation ersetzen Herrschaft und Kontrolle. Es gibt deswegen auch nur wenige Manager auf der mittleren Ebene; Status- und Gehaltsdifferenzen zwischen alten Hasen und Nachwuchskräften sind gering. Die herkömmlichen, schlicht gestrickten Maßnahmen sind für die Leistungsbewertung und Überwachung nicht mehr geeignet; die Tätigkeiten sind miteinander verflochten und voneinander abhängig; und die Qualität der Arbeit ist meist wichtiger als die Quantität. In einem System, in dem ein Arbeiter auf eine Vielzahl von Kollegen angewiesen ist und der Erfolg des Unternehmens von allen abhängt, läßt sich nur die kollektive Leistung bewerten. Das Entlohnungssystem entspricht dieser neuen Einstellung: Gewinnbeteiligung, Beteiligung an Produktivitätszuwächsen und Leistungsprämien sollen verdeutlichen, daß der Erfolg eines Unternehmens auf der größtmöglichen Leistung der gesamten Belegschaft und nicht nur einiger weniger Spitzenkräfte beruht. Kollektives Unternehmertum bedeutet auch, daß sich die Arbeiter nicht vor neuen Technologien als Gefahr für ihren Arbeitsplatz fürchten. An Arbeitsplätzen, die Fachwissen und Entscheidungsfähigkeit verlangen, sind Computer Werkzeuge, die den Aufgabenbereich erweitern. Informationen aus der schier allgegenwärtigen EDV versorgen die Beschäftigten mit einem breiten Wissen über die Auswirkungen ihrer eigenen Tätigkeit auf den Produktionsprozeß. Eine zentrale Erkenntnis des Joint Ventures von General Motors und Toyota in Kalifornien war, daß japanische Automobilhersteller mit der Automation keine Arbeitsplätze abbauen. Die entscheidenden Tätigkeiten, die Augenmaß und Einschätzungsvermögen bedürfen, werden von menschlichen Arbeitskräften ausgeführt. Toyota setzt neue Technologien ein, damit sich die Arbeiter auf die wirklich wichtigen Aufgaben, die Eigenverantwortlichkeit verlangen, konzentrieren können. Die Technologie ermöglicht den Beschäftigten, Phantasie und Einfühlungsvermögen zum Nutzen der Firma einzusetzen.
Das Team als Vorbild
Kollektives Unternehmertum ist auf dem Vormarsch. Es offenbart sich in der Art, wie führende Firmen heute ihre Tätigkeit organisieren, ihre Arbeitnehmer einschätzen und ihr Unternehmen gestalten. Der alte Mythos des unternehmenden Helden existiert aber weiterhin. Vielen Amerikanern ist die Vorstellung lieber, daß Lee Iacocca Chrysler im Alleingang rettete, als daß ein großes Team von Leuten aus unterschiedlichen Bereichen und mit andersartigen Interessen gemeinsam den Niedergang des Autoherstellers verhinderte. Die Regale der Buchhandlungen biegen sich unter der Last neuer Bücher, die der Heldenverehrung amerikanischer Unternehmensführer dienen. Es sind die altbekannten rührseligen Geschichten, die aus der Sicht der Leute an der Spitze die Erfolgsstory des Unternehmens zweifellos korrekt wiedergeben. Ungeschrieben bleiben aber immer wieder die Bücher über die Erfahrungen des restlichen Teams - der Männer und Frauen, deren Einsatz auf allen Ebenen den Erfolg bewirkte, mit denen die Unternehmensführer sich so gerne schmücken. Wer schreibt ihre Geschichten? Es gibt eine Reihe von Managementleitfäden, die den Führungskräften beibringen sollen, wie man die Angestellten freundlicher behandelt, sie respektiert, ihnen zuhört oder ihnen Anerkennung vermittelt. Diese Bücher sollen Führungskräfte befähigen, außerordentliche Leistung aufzuspüren, sie zum Leben zu erwecken, sie zu vollbringen - und das auch noch in wenigen Minuten. Manager sollen durch die Fabrikhallen laufen, mit den Arbeitern reden und sie mit Lob und Ermutigung überschütten. Einige dieser Ratschläge sind vernünftig, andere sind ausgesprochener Blödsinn. Aber die allermeisten, selbst die besten, sind wirkungslos. Mangels jeglichen Praxisbezugs und bar des Verständnisses für die Beziehungen zwischen Management und Mitarbeitern bleiben diese Vorschläge seichtes Geplänkel und werden entsprechend behandelt. Die enthusiasmierten Manager werden wahrscheinlich in einigen Jahren verschwunden sein, ebenso der Großteil der Belegschaft; selbst die Inhaber sind unter Umständen andere. Ein Betrieb wird nur allzuhäufig als Ansammlung von Werten gesehen, die meistbietend versteigert werden. Wenn die Umstände es erforderlich machen, entläßt man die Beschäftigten. Unter einem dünnen Anstrich von partizipativem Management bleibt alles beim alten. Genau diese starren Strukturen bedeuten eine Gefahr für die dauerhafte Konkurrenzfähigkeit der USA. Wir müssen uns nach neuen Vorbildern umsehen und für sie die Trommel rühren. Heutzutage erscheinen in den USA Berichte über kollektives Unternehmertum am häufigsten auf den Sportseiten der Tageszeitungen. Immer wieder wird bei der Schilderung eines hart erkämpften Sieges berichtet, daß die Mannschaft mit der besten Talentmischung gewann - das Team, bei dem Zusammenarbeit ausschlaggebend war und nicht die Einzelleistung der Spieler. Diese Berichte von den Sportseiten in den Wirtschaftsteil zu bringen, ist eine große kulturelle Herausforderung. Im Scheinwerferlicht sollten nicht länger einzelne Firmengründer und dynamische Unternehmensleiter stehen, sondern die Teams von Technikern, Produktionsarbeitern und Verkäufern, die erfolgreich neue Produkte und Dienstleistungen an den Mann bringen. Wir sollten uns darum bemühen, Geschichten aus dem Wirtschaftsleben aus der Sicht der Arbeiter in einem Team zu erzählen und nicht nur aus der Perspektive des Topmanagements. Solche Geschichten gibt es. Wir müssen sie nur endlich erkennen. Wir müssen begreifen, daß die eindrucksvollsten Geschichten nicht in den Büchern oder Fachzeitschriften zu finden sind, sondern von der Arbeitswelt selber erzählt werden. Manager wissen es vielleicht nicht, aber jede ihrer Entscheidungen birgt für die Belegschaft eine Geschichte. Großzügige Prämien für die Geschäftsleitung, separate Speiseräume oder Parkplätze für Führungskräfte erzählen die alte Geschichte des individualistischen Unternehmertums. Der Beschluß, zehn Prozent der Arbeiter zu entlassen, berichtet die alte Geschichte des unabgesicherten Malochers. Als vor einigen Jahren General Motors eine Vereinbarung mit der Gewerkschaft United Autoworkers über Lohnkürzungen beschloß und am selben Tag eine neue, großzügige Vorstandsprämie bekanntgab, zuckten alte Gewerkschafter nur mit den Schultern: Was konnte man von denen schon anderes erwarten, die Tatsachen sprachen mal wieder für sich. Es reicht nicht aus, kollektives Unternehmertum zu verkünden; klare, eindeutige Signale müssen folgen. Gemeinschaftliches Unternehmertum stellt die Weichen für eine wirtschaftliche Zukunft, die für Management wie Belegschaft erfolgversprechend ist. Für Führungskräfte bedeutet diese Entscheidung: kontinuierlich Arbeitskräfte für kompliziertere Aufgaben weiterzubilden, stumpfsinnige Tätigkeiten durch Rationalisierung zu verringern, um den Mitarbeitern Flexibilität und Kreativität zu ermöglichen, Verantwortungsbewußtsein für Neuerungen zu fördern, in Fragen der Arbeitsplatzsicherheit Sorgen der Arbeitnehmer ernst zu nehmen und die Beschäftigten an Produktivitätssteigerungen durch Gewinnausschüttung oder Stock Options zu beteiligen. Für die Mitarbeiter bedeutet es, flexible Arbeitsplatzbeschreibungen und -bedingungen sowie Lohnrichtlinien, die an Gewinn und Produktivitätszuwachs gebunden sind, zu akzeptieren und ein stärkeres Verantwortungsbewußtsein für das Wohlergehen und die Effizienz des Unternehmens zu entwickeln. Das beinhaltet engere und dauerhaftere Beziehungen zu anderen Parteien, die an der Leistung des Unternehmens einen Anteil haben - Lieferanten, Kunden, Kreditgeber und selbst die Gemeinden, in denen der Betrieb seinen Sitz hat. Kollektives Unternehmertum bedeutet für alle, die mit dem Unternehmen zu tun haben, Partner in seiner Zukunft zu werden. Copyright: © 1987 by the President and Fellows of Harvard College; ursprünglich veröffentlicht in "Harvard Business Review" Nr. 3, Mai/Juni 1987, unter dem Titel "Entrepreneurship reconsidered: the team as hero"; Übersetzung: Henriette Holtz.