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Entwicklungsstrategien müssen immer wieder individuell definiert werden Der Königsweg zum neuen Produkt

Was nützt es, wenn Sie rechtzeitig am Markt sind - aber mit dem falschen Produkt. Oder wenn Probleme mit der Herstellungstechnik Sie unversehends in riesige Budgetüberschreitungen stürzen? Das passiert immer wieder, weil Manager in Forschung und Entwicklung trotz unterschiedlicher Ausgangslage am liebsten auf die stets gleiche, vermeintlich wohlerprobte Weise vorgehen. Sie ordnen Projekte stets denselben Fachabteilungen zu, treffen dieselben Vereinbarungen mit Zulieferern, betreiben dieselbe Art von Marktforschung und nutzen dieselben Steuerungsmethoden - selbstverständlich alles nur, um bisherige Erfahrungen zu nutzen. Sie ignorieren dabei jedoch, daß jede Produktentwicklung ein Einzelfall ist, geprägt von ganz spezifischen Unsicherheiten in bezug auf Kundenpräferenzen, Wettbewerbsposition, Technologie-Erfordernisse, Aufwand an Mitteln und unternehmenseigenen Fähigkeiten. Um also - womöglich verhängnisvolle - Fehler zu vermeiden, sollten F + E-Manager zwischen zwei konträr wirkenden Schlüsselvariablen abwägen: den Opportunitätskosten infolge des Verpassens einer rasch veränderlichen Marktchance und dem Risiko, in einem zunächst wenig verstandenen Markt mit einem falschen oder nicht volltauglichen Produkt anzutreten.
aus Harvard Business manager 3/1989

DR. EDWARD G. KRUBASIK ist Direktor der Münchner Niederlassung von McKinsey & Company und Leiter der Technologie-Management- Praxis des Unternehmens.

Im Geschäft mit Schreibmaschinen sind - wie in vielen anderen Bereichen auch - die Produktlebenszyklen in alarmierender Weise zusammengeschrumpft. Mechanische Schreibmaschinen hatten einst einen Lebenszyklus von 30 Jahren, elektromechanische kamen noch auf ungefähr zehn Jahre. Die schon elektronischen Maschinen wurden nach weniger als fünf Jahren von Textverarbeitungs- und Personal-Computern bedrängt. Wo sich das Wettbewerbsumfeld aber dermaßen schnell wandelt, wird die Zeit für die Entwicklung von Produktneuheiten zum kritischen Erfolgsfaktor - unweigerlich müssen die Unternehmen versuchen, auf jede am Markt auftauchende Produktinnovation zu reagieren. Schnelligkeit bei der Markteinführung bringt freilich keinen Vorteil, wenn Technik oder Gestaltung des Produkts die Kunden nicht zufriedenstellen. Und in der Tat sprechen Unsicherheiten in Hinsicht auf Marktbedürfnisse und Beherrschbarkeit der Technologie sehr dafür, Spezifikationsentscheidungen im Entwicklungsprozeß möglichst lange hinauszuschieben und Zeit zu gewinnen, um erstmal weitere Informationen einzuholen, Techniken im Vorfeld zu testen und ein Produktkonzept endlich dann zu lancieren, wenn sein Erfolg geradezu garantiert ist. Das trifft besonders in Fällen zu, wo - gemessen an den gesamten Mitteln der Unternehmen - die Entwicklungsbudgets beträchtlich sind, wie etwa im Flugzeugbau oder bei der Entwicklung von Computersystemen. Von den Opportunitätskosten als Folge des Verpassens einer Marktchance auf der einen und dem Risiko auf der anderen Seite, mit dem falschen Produkt oder der falschen Technologie auf den Markt zu kommen, sehen sich Manager in gegensätzliche Richtungen gedrängt. In der Praxis besteht das Problem freilich weniger darin, zwischen beiden Alternativen wählen, als vielmehr darin, beide Aspekte in der eigenen Entwicklungsstrategie berücksichtigen zu müssen. Dabei gehen Manager allzuoft in der gleichen, gewohnten Weise vor, ohne sich eingehend mit den Gegebenheiten des neuen Umfeldes auseinanderzusetzen. Doch "altbewährte" Methoden taugen nicht für jeden Fall. Eine erfolgreiche Innovation muß den vom Markt ausgeübten Zeitdruck und die drohenden Opportunitätskosten ebenso berücksichtigen wie das jeweilige neue technische Marktrisiko. Sind zum Beispiel die Marktbedürfnisse und technologischen Lösungen klar und die Pläne der Mitbewerber offensichtlich, dann sollte die Entwicklung deutlich anders orientiert sein, als wenn veränderliche Abnehmerbedürfnisse oder Ungewissheiten über die Schlüsseltechnologie vorliegen, ja auch dann, wenn Wettbewerber imstande sind, Produkte früher als erwartet auf den Markt zu bringen. Erinnern wir uns an die Entwicklung des Personal-Computers durch IBM. Das Nachfragewachstum war mit 60 Prozent jährlich prognostiziert worden; Unternehmen wie Apple und Tandy bestimmten die Marktentwicklung, und sie begannen auf IBMs traditionellen Büromarkt vorzudringen. Es bestand das ernsthafte Risiko, daß IBM bei zu langsamer Einführung seiner Produkte auf Dauer einen Marktanteilsverlust erleiden könnte. Die Opportunitätskosten waren also hoch. Dagegen lagen die Entwicklungskosten mit anzunehmenden zehn Millionen Dollar recht niedrig in Relation zu IBMs Eigenkapital von circa 18 Milliarden Dollar. Das Entwicklungsrisiko war ebenfalls gering: Es gab keine wirklichen Unklarheiten hinsichtlich der Marktbedürfnisse (die Marktakzeptanz der Wettbewerbsprodukte hatte das gezeigt), und die relevanten Technologien waren verfügbar, leicht zu beherrschen oder ließen sich ohne weiteres zukaufen. Vergleichen wir diesen Fall mit Boeings Entwicklung des Bautyps 767. Bei einem noch unübersichtlichen, aber einigermaßen vorhersagbaren Ersatzmarkt für einen Nachfolger der 727 blieb reichlich Zeit, um sich durch gezielte Produkt- Projekt-Entscheidungen rechtzeitig Marktanteile zu sichern und den Markt zu beeinflussen - mit anderen Worten: Die Opportunitätskosten waren gering. Die im Vergleich zu Boeings Eigenkapital enormen Forschungs- und Entwicklungskosten für die 767 und die große Unsicherheit bezüglich Technologie und Kundenpräferenzen addierten sich hingegen zu einem immensen Eintrittsrisiko. Wäre es sinnvoll gewesen, die Entwicklung des PC und der 767 auf identische Weise zu organisieren? Mit Sicherheit nicht. Gewiß gibt es einige generelle Richtlinien zur Führung von Entwicklungsprojekten, die sich in jedem Kontext als nützlich erweisen. So sind kürzere Vorlaufzeiten und reduzierte Kosten in der Produktentwicklung allemal erstrebenswerte Ziele, besonders für Unternehmen, die von technologiebestimmten Produkten abhängen und technologische Diskontinuitäten überwinden wollen. Zudem deuten erfolgreiche Entwicklungsprogramme darauf hin - und die praktische Vernunft bestätigt dies - , daß es immer nützlich ist * wichtige Entwicklungsprogramme separaten, funktionsübergreifenden Projektteams oder einzelnen Geschäftseinheiten anzuvertrauen, vor allem dann, wenn Schnelligkeit zählt; * sicherzustellen, daß alle Funktionen an sämtlichen Phasen des Ewticlungsprozesses teilnehmen und ihren Beitrag leisten, um eine inhaltliche Koordination von Marketing, Entwicklung und Produktion zu gewährleisten und Aktivitäten zeitsparend parallel durchzuführen; * bei der Zusammenstellung des Projektteams selektiv vorzugehen und mit dem Projekt nicht einfach eine vorhandene Entwicklungsabteilung zu beauftragen; * auf frühe, greifbare Resultate ausdrücklich zu achten, selbst wenn das nur zu einem besseren Verständnis der auftretenden Probleme führt;* die Entwicklung sehr anwenderbezogen auszurichten und beim Fortgang der Produktentwicklung in der Konzeptphase enge Verbindung zu den Hauptabnehmern zu halten. Diese - sicher lobenswerten - Absichten und Richtlinien allein formen allerdings noch keine Entwicklungsstrategie, zugeschnitten auf spezifische Bedrohungen in Gestalt von Opportunitätskosten und Markteintrittsrisiken. Die simple und oft übersehene Wahrheit lautet doch: Jede Entwicklungssituation steht in einem anderen Zusammenhang, und Unterschiede im Kontext legen in jedem Einzel fall eine spezifische Vorgehensweise nahe. Um die richtige Entwicklungsstrategie und die für ein bestimmtes Entwicklungsprojekt bestgeeigneten Managementfähigkeiten und -vorgehensweisen beurteilen zu können, muß zunächst die Ausgangslage verstanden werden. Eine Methode, diesen Prozeß zu systematisieren, besteht darin, eine "Karte der Produktentwicklungswege" zu verwenden, um mit ihrer Hilfe die unterschiedlichen Bedingungen zu veranschaulichen, unter denen Produktentwicklung stattfinden kann (siehe die Abbildung). Wenngleich sich mit einer solchen Karte nicht sämtliche denkbaren wirtschaftlichen Situationen abdecken lassen, eignet sie sich doch für die meisten "Produkt-Neuheiten-Situationen", in denen Risiko des Marktseintritts und Opportunitätskosten die ausschlaggebenden Variablen darstellen. Denn sie erleichtert die Wahl der angemessenen Strategie, indem die Manager die Position identifizieren können, die mit dem Grad des Marktrisikos und den Opportunitätskosten korrespondiert, auf die sich das Unternehmen bei einem bestimmten Produkt einstellen muß.

Das Sofort-Programm

Bei geringem Markteintrittsrisiko und hohen Opportunitätskosten kommt es darauf an, den Innovationsprozeß möglichst so zu lenken, daß das Produkt so frühzeitig wie möglich auf den Markt kommt. Ein solches, eher auf schnelle Entwicklung als Risikoreduzierung konzentriertes Crashprogramm verspricht hier den größten Nutzen. IBM zum Beispiel verringerte bei der Entwicklung des eigenen PC den Gesamtzeitbedarf auf ein für "Garagenbetriebe" typisches Niveau - auf nur noch ein Drittel der von IBM normalerweise für die Entwicklung der Großsysteme verwendeten Zeit. Was machte IBM dabei anders? Bei dem PC befaßte sich IBM selbst in erster Linie mit der Systementwicklung. Das Unternehmen wäre in der Lage gewesen, alle Komponenten (wie üblich) intern herzustellen, doch es wandte sich an externe Zulieferer, weil die Eigenentwicklung mehr Zeit beansprucht hätte. Tatsächlich waren Tastatur und Hauptleiterplatte des Rechners die einzigen originären IBM-Teile; selbst der Mikroprozessor wurde zugekauft. Damit dieses Vorgehen funktionierte, setzte IBM hohe Standards für die Lieferanten fest. So mußte Microsoft, Hersteller des Betriebssystems, entgegen früheren Gepflogenheiten volle drei Monate eher liefern. IBM richtete Qualitätskontrollen für die Hardwarezulieferer ein und überwachte diese vor Ort. Außerdem stellte IBM den Softwarefirmen Unterstützungssysteme und Prototypen des PC zur Verfügung, damit sie die Programme schneller schreiben konnten. Der PC war das erste, lediglich für den heimischen Markt bestimmte IBM-Produkt (Umkonstruktionen für internationale Märkte sollten später folgen). Zudem bot IBM nur eine 48K-Speicherversion und eine Grundausstattung von Peripheriegeräten an - in deutlichem Kontrast zu früheren IBM-Versuchen, das gesamte Anwendungsfeld mit allen erdenklichen Optionen abzudecken. Ein weiteres Merkmal des PC- Entwicklungsprozesses war der "Zero-Procedures"-Ansatz. IBM gewährte der Entwicklungsgruppe im Rahmen einer "Independent Business Unit" vollständige Freiheit bei der Produktplanung, beschränkte Eingriffe der Zentrale auf ein Minimum und gestattete den Einsatz einfacher, vergleichsweise informeller Führungsmethoden - im Gegensatz zu der üblichen, bei seinen Großrechnern auf Risikoreduzierung angelegten Produktentwicklung in acht Phasen. Entscheidend war nur eines: in allem die Entwicklungszeit auf ein Minimum beschränken und rasch auf dem Markt Fuß fassen. IBMs Konzentration auf Systementwicklung, Kernmarktsegmente und vereinfachte Organisation und Kontrolle trug der PC-Situation voll Rechnung. Bei einem kleineren Unternehmen, dem der Markteintritt mit einem ungeeigneten Produkt oder ernsthafte technische Schwierigkeiten die Luft genommen hätten, wäre ein anderes Vorgehen angemessen gewesen. Doch für IBM blieb das Entwicklungsrisiko gering, die Opportunitätskosten bereiteten weitaus größere Sorgen. IBMs Ausgangslage, durch die linke obere Ecke der Produktentwicklungskarte repräsentiert, erforderte eben nichts anderes als ein Crashprogramm. Der Koloß steuerte seine Entwicklungsbemühungen dementsprechend und ging nach dieser Maßgabe an Produktgestaltung, Marktsegmentierung und Organisationsstruktur heran.

Die 100-Prozent-Lösung

Hätte Boeing versucht, seine 767 in der gleichen Weise zu entwickeln wie IBM den Personal-Computer, wäre das Unternehmen wahrscheinlich konkursreif gewesen, bevor auch nur eine Maschine auf den Markt gelangte. Ein ganzes Projekt kann leicht ins Schleudern kommen, wenn ein Crashprogramm m nur einem wichtigen Subsystem schief läuft und massive, uneinholbare Kostenüberschreitungen eintreten. Bei den inhärent hohen Entwicklungskosten von komplexen Produkten wie Passagierflugzeugen durfte sich Boeing keinen einzigen derartigen Fehler erlauben. Ein unter irgendeinem Aspekt nicht einwandfreies Produkt oder eine nicht funktionierende Technologie hätte eine finanzielle Katastrophe bedeutet. Boeing sah sich also einem immensen Entwicklungsrisiko gegenüber. Seine Opportunitätskosten waren dagegen - anders als in dem IBM-Fall - gering. Zwar hatte man den Markt für 300- bis 350sitzige Maschinen verschlafen, weil die Attraktivität eines neuen Airbus-Modells unterschätzt wurde. Aber der Ersatzmarkt für die 727 ließ sich gut prognostizieren, wenn er auch noch nicht voll in Angriff genommen war. Folglich mußten die Amerikaner auf diesen Markt nur rasch mit ihrem neuen Flieger zusteuern. Denn Airbus saß ihnen auf den Fersen; für die weitere Entwicklung stand dann noch ausreichend Zeit zur Verfügung, nachdem er erst einmal offiziell angekündigt war. Damals startete Boeing jenes mehrjährige Entwicklungsvorhaben, das zum Baumuster 767 führte. Die Absicht war, Konzepte und Technologien einer "neuen Generation von Flugzeugen" zu erarbeiten. Der Leitgedanke galt einem Flugzeug, das zwar über weniger Sitze als die A 300, dafür aber über eine größere Reichweite verfügen sollte. Aber mehr Einigkeit gab es nicht. Sollte die Maschine zum Beispiel 180, 200 oder 220 Sitze bekommen? Mit zwei oder drei Triebwerken ? Sollte das Cockpit für zwei oder drei Leute ausgelegt werden? Jedermann bei Boeing und bei den befragten Abnehmern äußerte eine andere Ansicht. Neben den Konstruktionsfragen gab es da erhebliche Unklarheiten bei der Technik. Um wirklich dem Anspruch gerecht zu werden, eine neue Generation von Flugzeugen zu bauen, würde Boeing in merklichem Umfang deren Betriebskosten senken müssen. Und dies erforderte Fortschritte in Aerodynamik und digitaler Avionik, bei der Konstruktion der Triebwerke und der höchstwichtigen Tragflächen sowie in Bezug auf die Materialien für bestimmte tragende Elemente und Oberflächen. Zudem galt es, das neue Modell ohne exakte Kenntnis der Ölpreise einige Jahre später zu entwickeln, was die Betriebsleistungsvorgaben besonders beeinflußte. Schlimmer noch, das riesige, so viele verschiedene Spitzentechnologien umfassende Projekt würde rund anderthalb Milliarden Dollar kosten - mehr als das gesamte Eigenkapital des Unternehmens zu jenem Zeitpunkt. Für Boeing lag die Herausforderung - wiedergegeben durch eine Position in der unteren rechten Ecke der Produktentwicklungskarte - nicht darin, ein sich kurzzeitig öffnendes Marktfenster zu verpassen, sondern ein bei Markteinführung 100 Prozent richtiges, funktionstüchtiges Produkt bereitstellen zu müssen. Wie ging Boeing also die Sache an? Erstens wurden in den ersten Abschnitten des Entwicklungsprozesses sämtliche neuen Technologien zur vollen Reife gebracht. Als die Spezifikationen der 767 schließlich feststanden, befand sich praktisch nichts Unerprobtes an Bord. Die höchstwichtigen Tragflügel hatten zum Beispiel 11.000 Teststunden im Windkanal hinter sich, bevor sie grünes Licht bekamen - und bis 1983 waren es sogar 24.000 Stunden, verglichen mit circa 10.000, die zur gleichen Zeit die Tragflächen des Airbus aushaken mußten. Die digitale Avionik wurde in Simulatoren erprobt, in einem weiterentwickelten 737-Cockpit und im Forschungsflugzeug Y14 der NASA. Zweitens arbeitete Boeing mit den Kunden eng zusammen, ließ sie neun verschiedene Flugzeugkonzepte prüfen und bat sogar deren Ingenieurteams ins Werk, um sicherzugehen, daß das grundlegende Konstruktionskonzept stimmte und individuelle Präferenzen berücksichtigt waren. Und drittens machte Boeing extensiven Gebrauch von CAD/CAM, um die Konstruktionsqualität zu verbessern, die Entwicklungszeit des Prototyps zu verkürzen und die Kosten späterer Konstruktionsänderungen niedrig zu halten. Diese gewaltigen Anstrengungen im Frühstadium der Entwicklung einer neuen Flugzeuggeneration verlangten allerlei Schneid. In der Vorplanungsphase beschäftigte Boeing etwa 300 Ingenieure mit dem Projekt, kurz vor ihrem Abschluß hatte sich deren Zahl auf l .000 erhöht, während es bei Airbus nur 50 bis 80 waren. Doch die Mühen lohnten sich. Obwohl Boeing und Airbus ihre neuen Produkte mit nur wenigen Tagen Abstand voneinander vorstellten, kam die 767 ganze acht Monate vor der A 310 auf den Markt - ein Vorsprung, der sich in bedeutenden Verkaufsabschlüssen niederschlug.

Der mittlere Weg -
Innovation in Schritten

Die Beispiele IBM und Boeing stellen Extremfälle dar, für die die angemessene Produktentwicklungspolitik ziemlich deutlich erkennbar ist. Jeweils überwiegt der Einfluß einer der beiden strategischen Schlüsselvariablen. Was passiert aber, wenn es sowohl auf das Entwicklungsrisiko als auf die Opportunitätskosten ankommt? Eine üppige Mittelausstattung des Projekts führt dann nicht zum Ziel und die Konzentration auf eine ausgedehnte Entwicklung im Vorfeld ebensowenig. Fordern einzelne Kunden oder der Wettbewerb eine neue Produktgeneration, bevor die Technologie oder der Markt deutliche Hinweise auf sie markiert, dann kommen weder ein Crashprogramm noch die hundertprozentig richtige Lösung in Frage. Was sollte dann also geschehen, um Opportunitätskosten und Entwicklungsrisiko gleichzeitig zu berücksichtigen? Als Northern Telecom sein technisch neuartiges "Digital World"-Konzept (DMS 100) für Telephonzentralen vorstellte, zeigten sich die amerikanischen Kunden dermaßen angetan davon, daß der Absatz an Analogsystemen kräftig zurückging. Dieser Nachfrageknick machte auf schmerzhafte Weise die Opportunitätskosten deutlich, die bei einer zu allmählichen Umstellung auf digitale Produkte drohten; das Unternehmen wurde gezwungen, seine Entwicklung des DMS- 100-Vermittlungssystems um ein ganzes Jahr vorzuziehen. Angesichts eines von AT&T/ Western Electric dominierten Marktes für Analogsysteme sah Northern Telecom in der Digitaltechnologie einen klaren Wettbewerbsvorteil und versuchte, ihre verzögerte Einführung zu vermeiden. Zudem hatten sich schon lange vor der Ankündigung von Digital World die Kundenpräferenzen verändert, war der Absatz des Unternehmens von Analog-Schaltanlagen gefallen und signalisierte der Hauptkunde, Bell Canada, seine Bereitschaft zum Umschwenken auf Digitaltechnik. Doch zu jener Zeit galt es noch große technische Hürden zu überwinden: die Entwicklung einer Familie von Orts-, Fern- und internationalen Vermittlungszentralen, von fortgeschrittener Halbleitertechnologie für Filter-Codec-Chips, von höchster Packungsdichte auf Leiterplatten und die Formulierung einer neuen, fortgeschrittenen Programmsprache, Protel. Diese technischen Herausforderungen verursachten erhebliche Entwicklungskosten - nahezu 200 Millionen Dollar, fast die Hälfte des Eigenkapitals der Firma. Und da es sich bei der Konstruktion der Vermittlungsanlagen um Neuland handelte, bestand keinerlei beruhigende Sicherheit über die am Ende erforderlichen Merkmale. Da Entwicklungsrisiko und Opportunitätskosten gleichermaßen zählten, ging Northern Telecom Schritt für Schritt vor. Das Unternehmen unterteilte die immens komplexe Entwicklungsaufgabe in eine Folge von kleineren, leichter zu bewältigenden Schritten. Statt unmittelbar auf die Fertigstellung der komplexen Ortsamtsanlage DMS 100 loszumarschieren, wurde zunächst mit der Entwicklung einer PBX (Nebenstellenanlage) begonnen, die als Basis für das Verständnis wichtiger neuer Technologien - der Digitalisierung, verbesserter Programmsprachen und des Netzaufbaus - diente. Der nächste Schritt bestand in der Schaffung einer voll funktionsfähigen Fernvermittlungszentrale unter Einsatz von Protel und einer für größere Schaltanlagen wesentlichen, modularen Architektur. Der letzte Schritt war der größte, mehr ein weiter technischer Sprung zur eigentlichen DMS 100 mit ihren integrierten Filter-Codec-Chips für jeden Teilnehmeranschluß. Neben einer Risikominderung erbrachte diese Vorgehensweise zur Entwicklung der DMS 100 ein nicht unwichtiges Nebenprodukt - den durch die Zwischenprodukte generierten Cash-flow, ein effektiver Beitrag dazu, die Opportunitätskosten zu senken. Eine solche Schrittfolge jeweils begrenzter Herausforderungen ermöglichte Northern Telecom, das Entwicklungsrisiko einzudämmen und ein Ausufern der Entwicklungskosten zu verhindern. Viele komplexe Vorhaben, die große technologische Sprünge bewirken, geraten sehr leicht außer Kontrolle und verschlingen Geld in unvorhersehbarem Ausmaß. Northern Telecom hingegen begrenzte die Komplexität, indem es die verschiedenen Problemgruppen nacheinander anging. Während des gesamten Entwicklungsprozesses kooperierte das Unternehmen aufs engste mit seinem Hauptkunden, Bell Canada, um so sicherzugehen, daß die eigenen Leistungsvorgaben mit den Kundenanforderungen übereinstimmten. Das gestattete dem Unternehmen, zum Teil auch durch Kompromisse mit dem Kunden, seine Ressourcen auf das wesentliche zu konzentrieren und für die Entwicklung überflüssiger Produktmerkmale keine Mittel zu verschwenden. Natürlich existieren in der Produktentwicklung zahlreiche Grauzonen. Nicht jeder Fall liegt genau am einen oder anderen Ende des Spektrums der Möglichkeiten oder direkt in der Mitte. Andere Umstände, bei denen Kosten und Risiken in unterschiedlichem Ausmaß Bedeutung haben, können eine Modifizierung des schrittweisen Vorgehens bedingen. Wenn die Opportunitätskosten zwar zu beachten sind, doch weniger ins Gewicht fallen als das Markteintrittsrisiko, kann es für den Hersteller den Nutzen bringen, das neue Produkt in einer Marktnische außerhalb des üblichen Betätigungsfeldes zu erproben. So ein externer Nischentest hat den Vorteil, das gesamte Entwicklungsrisiko zu mindern, ohne in angestammten Märkten oder mit bisherigen Kunden Ärger zu bekommen. Dieser Weg erlaubt dem innovativen Unternehmen, mit ausgereifter Technologie solange wie möglich in ertragsstarken Massenmärkten präsent zu bleiben und zur gleichen Zeit mit neuer Technologie zu experimentieren. Sony verfuhr derart im Tonstudiogeschäft, indem es nicht sofort von einem vollständigen 32-Kanal- Analog-Mischpult zu einem digitalen mit gleichfalls 32 Kanälen überging. Vielmehr wurde zunächst eine digitale Masterkonsole mit acht Kanälen eingeführt. Diese als Testgerät konzipierte Anlage wurde an CD- Produktionsstudios verkauft, wo digital gespeicherte Tonaufzeichnungen auf Compact Discs überspielt wurden. Es bestand zunächst kein dringender Bedarf für diese Digitalanlage (Analogtechnik wäre hier ebenso geeignet gewesen), doch anspruchsvolle Interpreten und Komponisten wollten vermeiden, daß ihr digital aufgenommenes Material in irgendeiner Weise mit Analogtechnik in Berührung kam. Damit ergab sich die Chance eines Anwendungstests für digitale Signalverarbeitung, und die neue Technologie konnte mit geringerem Risiko im Hauptmarkt eingeführt werden. Kommt es auf der anderen Seite mehr auf die Opportunitätskosten als auf das Eintrittsrisiko an, dann kann ein Druck entstehen, mit einem noch hybriden Produkt bereits früh direkt am Hauptmarkt aufzutreten. L. M. Ericsson, das schwedische Telekommunikationsunternehmen, machte es so bei seiner ersten AXE 10, einer teildigitalisierten Ortsvermittlungsanlage. Für europäische Hersteller von Amtsanlagen generell, einen schwedischen Anbieter insbesondere, war der heimische Markt relativ klein. Daher verteilte sich das Geschäft eines jeden auf zahlreiche nationale Märkte mit fallweisen, aber dann um so langfristiger sich auswirkenden Kaufentscheidungen. Ericsson stand darum vor wesentlich höheren Opportunitätskosten als Northern Telecom. Hätte ein Wettbewerber seine Anlagen als erster eingeführt, wären die Schweden für 20 Jahre oder mehr von ihren Märkten abgeschnitten worden. Angesichts dieser Gefahr kam es darauf an, möglichst viele dieser Märkte so früh wie möglich an Ericssons neues AXE-System zu binden. Doch die Zeit, die für ein promptes Erscheinen auf dem Markt reichte, war nicht lang genug, um auch genügend Erfahrungen mit digitalen Vermittlungssystemen zu sammeln. Um diese Hürde zu umgehen, bot Ericsson ein neues Ortsvermittlungssystem an, das vorerst nur teilweise digitalisiert war. Ericsson konnte dadurch das Entwicklungsrisiko reduzieren und den Übergang zur vollständigen Digitalisierung hinausschieben. Wichtiger indes, Ericsson kam mit der AXE als erster internationaler Anbieter schnell auf den Markt und konnte so die Opportunitätskosten wesentlich verringern. Tatsächlich optierten innerhalb von vier Jahren 32 Länder, voran Saudi-Arabien mit einigen Großaufträgen, für das digitale AXE- Vermittlungssystem.

Die Sonderwege

Wenn beide, Opportunitätskosten und Eintrittsrisiko, extrem hoch sind, kann es vernünftiger sein, die Entwicklungsarbeit nicht länger nur auf eigene Faust durchzuführen. Für diesen Fall empfehlen sich am ehesten Joint Ventures. Ist das Risiko, ein Marktfenster zu verpassen, derart groß, daß sogar mit einem Joint Venture der Markteintritt nicht schnell genug zu schaffen ist, dann wird die Akquisition eines technisch fortgeschrittenen Anbieters notwendig, soll das Produkt sogleich am Markt sein. Das Abdecken gegebener Märkte mit der zugekauften Produktgruppe kann helfen, die interne Entwicklungsarbeit bereits auf die nächste Produktgeneration auszurichten. Für diesen Weg des Überspringens einer Entwicklungsstufe entschied sich eben jenes europäische Unternehmen, das seine Führerschaft bei der ersten Generation von Ultraschallprodukten verloren hatte. Es übernahm ein US-Unternehmen, um im Geschäft zu bleiben, und richtete die eigene Forschung und Entwicklung auf Produkte der Nachfolgegeneration aus. Natürlich ist es auch möglich, daß sowohl Risiko als auch Kosten überwältigend hoch sind, somit der einzig vernünftige Kurs darin liegt, sich vom Markt zurückzuziehen und die betroffene eigene Produktgruppe ganz aufzugeben - wie Philips verfuhr, als es das Amtsgeschäft an AT&T verkaufte. Eine erfreulichere Möglichkeit bietet sich, wenn Risiko und Opportunitätskosten gleichermaßen gering sind. Das Neuerer-Unternehmen sieht sich dann in der komfortablen Lage, die Spielregeln bestimmen zu können. Hewlett-Packard zum Beispiel ist zumindest im eigenen technologieorientierten Geschäft in der beneidenswerten Position, eine Vielzahl von parallelen Quantensprung-Programmen mit extrem hohen Nutzleistungszielen beginnen zu können; Marktakzeptanz ist bei diesem Vorgehen praktisch garantiert. Das eingegangene technische Risiko wird dadurch gemindert, daß mehrere kleine Entwicklungsvorhaben zugleich durchgeführt und in einem harten Auswahlprozeß die (am Umsatzpotential gemessen) weniger attraktiven oder technisch undurchführbar wirkenden Vorhaben aufgegeben werden.

Der situative Zusammenhang
entscheidet

Trotz von Fall zu Fall unterschiedlicher Situationen zeigt die Erfahrung, daß Manager häufig auf den gleichen Typ von F + E-Organisation, dieselben Abmachungen mit Lieferanten, dieselbe Marktforschung und dieselben Kontrollmethoden zurückgreifen, mit denen sie bisher bereits gearbeitet haben; das ist schlicht menschlich. Mehr Erfolg verspricht es freilich, wenn die Manager die spezifische Ausgangslage genau verstehen und dann in einer angemessenen Weise vorgehen. Selbst ein Unternehmen, das einen bestimmten Ansatz, beispielsweise den des Crashprogramms, schon effektiv eingesetzt hat, ist nicht garantiert, beim nächsten Entwicklungsprojekt nach dem gleichen Muster etwas Positives herauskommt. Denn die Komplexität der Situation könnte nun gerade ein anderes Vorgehen erfordern. Erinnern wir uns: IBM mußte sein erprobtes und enorm erfolgreiches Acht-Stufen-Verfahren beiseite lassen, um sich noch rechtzeitig den PC-Markt zu erschließen. Doch manche Unternehmen sind aufgrund ihres tatsächlichen Zustands und ihrer Erfahrung nicht imstande, ihre Entwicklungsverfahren grundsätzlich zu verändern. Konstruktion und Bau eines neuen Flugzeugs sind derart kostenträchtig, daß Boeing das Produktentwicklungsspiel kaum wirklich anders spielen könnte, ohne die Frage der Finanzierung anders zu regeln, sei es durch Eingehen einer Partnerschaft oder Verkauf an ein finanzstarkes Unternehmen. Dies mag erklären, warum Boeing nicht versuchte, durch ein Crashprogramm mit dem Airbus 300 gleichzuziehen. Statt dessen gab Boeing einfach 30 Prozent Marktanteil in diesem Segment preis und konzentrierte sich auf den Wettbewerb zwischen seiner 767 und dem Airbus 310. Die Wahl der richtigen Entwicklungsstrategie sollte mithin situations- und unternehmensspezifisch geschehen - nicht jedoch branchenspezifisch. Die Entwicklungsvorhaben verschiedener Industriezweige können ähnliche Positionen in der Entwicklungskarte besetzen - auf dem Sektor elektronischer Konsumgüter sind zum Beispiel Crashprogramme aufgrund der kurzen Produktlebenszyklen verbreiteter als etwa in der Entwicklung großer Dampfturbinen. Andererseits können aber unterschiedliche Wettbewerber ihre Entwicklungsarbeit an gleichartigen Produkten auf sehr verschiedene Weise betreiben. So gingen beispielsweise General Electric und Siemens in ihrer Entwicklung der Kernspintomographie jeweils deutlich unterschiedliche Wege. General Electric strebte eine 100-Prozent-Lösung an, weil es sich in einer Situation mit geringen Opportunitätskosten und hohem Markteintrittsrisiko wußte: Die eigenen Computertomographen, Vorläufergeneration der Kernspintomographie, dominierten bereits am Markt. Siemens dagegen sah sich - bei lediglich 20 Prozent US-Marktanteil - mit wesentlich höheren Opportunitätskosten konfrontiert und brachte daher über ein schrittweises Vorgehen Innovationen früher auf den Markt. Natürlich gewährleistet die vernünftige Formulierung einer Entwicklungsstrategie nicht ihre fehlerfreie Umsetzung oder ein stabiles Umfeld. So hatte sich ein führender Hersteller von Kopiergeräten die völlig richtige, also 100-Prozent-Lösung, vorgenommen und versucht, die Technologie der Mikroprozessor-Steuerung aus dem Vorplanungsstadium heraus zu entwickeln. Doch die Vorentwicklung der Steuerung wurde nicht konsequent zu Ende geführt, die Technologie nicht rechtzeitig zur Reife gebracht. Daher mußte das Unternehmen auf ältere Technologien zurückgreifen, diese etwas verbessern und dann in eine sonst weit fortgeschrittene Entwicklungslinie hineinzwängen. Die Umstellung kostete ein Jahr Verzögerung und verwandelte das gesamte Entwicklungsvorhaben in ein Crash- und Aufholprogramm mit riesigen Kostenüberschreitungen. Das Aktionsfeld der Entwicklung liefert gewiß keine einfachen Rezepturen. Aber es hilft Managern, den Kontext besser zu verstehen, in dem individuelle Entwicklungsvorhaben Platz greifen. Das mag die Wahl der bestgeeigneten Strategie erleichtern. Copyright: © 1989 by the President and Fellows of Harvard College; ursprünglich veröffentlicht in "Harvard Business Review" Nr. 6, November/Dezember 1988, unter dem Titel, "Customize Your Product Development"; Übersetzung: Peter Diekhoff.

Edward G. Krubasik

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