Länderwettbewerb Den USA droht eine Kreativitätskrise
Schon seit Generationen sind die Vereinigten Staaten von Amerika weltweit als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der Innovation bekannt. Doch jetzt steht das Land kurz davor, seinen Vorsprung im internationalen Wettbewerb einzubüßen. Es ist mit der wohl größten wirtschaftlichen Herausforderung seit der industriellen Revolution konfrontiert. Dabei geht es nicht um Geschäftskosten und schon gar nicht um Produktions-Know-how. Und die wichtigste Bedrohung, der sich die USA zu stellen hat, ist auch nicht der Aufstieg Chinas oder Indiens.
Die Vereinigten Staaten haben die Welt ins Zeitalter der Hightech-Industrie und konstanten Innovation geführt, doch deshalb ist dem Land keineswegs eine Spitzenposition auf Dauer garantiert. Denn die Mehrheit der Führungskräfte in Wirtschaft und Politik, der Wissenschaftler und Wirtschaftsanalysten erkennt nicht den eigentlichen Grund für den amerikanischen Erfolg in den Bereichen Innovation, Wirtschaftswachstum und Wohlstand. Nicht die enormen natürlichen Ressourcen, die Größe des Marktes oder irgendein Yankee-Genius haben für die globale Wettbewerbsstärke über mehr als 100 Jahre hinweg gesorgt. Amerikas Wachstumswunder hängt von einem Schlüsselfaktor ab: der Offenheit für neue Ideen, die es ihm erlaubt hat, die kreativen Ideen seiner Menschen zu mobilisieren und zu nutzen.
Wie der Ökonom Paul Romer von der Universität Stanford immer wieder betont, verdanken wir große Fortschritte großen Ideen. Diese Eingebungen fallen nicht vom Himmel, sondern sie kommen von Menschen. Menschen schreiben Software. Menschen entwerfen Produkte. Menschen gründen neue Unternehmen. Jedes neue Ding, ob es uns einfach Freude macht, produktiver werden lässt oder einen kleinen Luxus erlaubt, sei es der iPod von Apple oder die Optimierung einer Chemiefabrik, ist das Ergebnis menschlicher Genialität.
Unbestritten sind die Vereinigten Staaten nach wie vor das Zentrum der Genialität. Sie erwirtschaften ein Bruttoinlandsprodukt von zehn Billionen Dollar und haben großartige Universitäten sowie das Silicon Valley. Sie beherbergen viele der dynamischsten Unternehmen in den Branchen Informationstechnik, Biotechnik, Unterhaltung und zahlreichen anderen Bereichen. Aber der globale Talentpool und die anspruchsvollen, besonders renditestarken kreativen Branchen, die einst allein in den USA ansässig und eine entscheidende Quelle für den Wohlstand waren, beginnen sich über die ganze Erdkugel zu verstreuen.
Eine Reihe von Industrienationen - unter anderem Irland, Finnland, Kanada, Australien und Neuseeland - investieren in Ausbildung wie auch in die Förderung ihrer Kreativen und drängen mit innovativen Produkten in den Markt, angefangen bei Nokia-Handys bis hin zu den "Herr der Ringe"-Filmen. Viele dieser Länder haben aus den Erfolgen der USA gelernt und bemühen sich daher, Talente von außen anzulocken - einschließlich amerikanischer. Sollte auch nur eine Hand voll dieser aufstrebenden Nationen 2 bis 5 Prozent der kreativen Arbeiter aus den USA abwerben, werden die wirtschaftlichen Folgen enorm sein. Die Vereinigten Staaten mögen der Goliath in der globalen Ökonomie des 20. Jahrhunderts gewesen sein, doch ein halbes Dutzend Davids des 21. Jahrhunderts reichen aus, sie in die Knie zu zwingen.
Um innovativ zu bleiben, muss Amerika auch weiterhin für die besten Köpfe der Welt interessant bleiben. Das kann es nur, wenn es in die Weiterentwicklung des kreativen Sektors
investiert. Denn wo immer die Kreativen - sprich: die Talente - hingehen, werden ihnen Innovation und Wirtschaftswachstum folgen.
Die Ära der Kreativität
In den USA gibt es eine vollkommen neue Arbeiterklasse, die bereits 38 Millionen Menschen umfasst: die kreative Klasse. Zu ihr gehören Wissenschaftler, Ingenieure, Architekten, Designer, Lehrende, Künstler, Musiker und Entertainer, deren ökonomische Aufgabe darin besteht, neue Ideen, neue Technik oder neue Inhalte zu entwickeln. Dazu zählen auch die kreativen Sparten der Geschäfts- und Finanzwelt, des Gesundheitswesens, des Rechts und verwandter Bereiche, in denen Menschen komplexe Probleme lösen und unabhängig urteilen müssen. Heute beschäftigt der kreative Sektor der amerikanischen Wirtschaft grob geschätzt über 30 Prozent aller Arbeitskräfte (mehr als die gesamte herstellende Industrie) und bezahlt annähernd die Hälfte aller Löhne und Gehälter (gut zwei Billionen Dollar) - etwa so viel wie der Produktions- und der Dienstleistungsbereich zusammen. Ich darf wohl mit Fug und Recht behaupten: Die Vereinigten Staaten haben das Zeitalter der Kreativität erreicht.
Die Anfänge dieser Ära reichen bis in die Jahre um den Zweiten Weltkrieg zurück. Nach dem Krieg stieg die staatliche Forschungsförderung beträchtlich an, und mit ihr nahm auch die Zahl der Menschen zu, die eine höhere Bildung anstrebten - einen nicht unwesentlichen Anteil hieran hatte das GI-Bill-of-Rights-Programm, das Kriegsveteranen zu Aus- und Weiterbildung verhalf. Im Privatsektor stellte die neu entstandene Wagniskapitalbranche die nötigen Mittel zur Verfügung, um Forschungsideen marktfähig zu machen. Die sozialen Bewegungen der 60er Jahre machten die Idee der Offenheit populär; anders zu sein bedeutete plötzlich, bewundert und nicht ausgestoßen zu werden. Die Meinungsfreiheit ließ neue Technik und neue Kulturformen aufblühen - von der Biotechnik bis zum Alternativ-Rock.
Aber die Vereinigten Staaten besitzen keinen immanenten Vorteil, was das Hervorbringen kreativer Köpfe, innovativer Ideen oder neuer Unternehmen betrifft. Vielmehr besteht ihr eigentlicher Vorzug darin, diese Köpfe aus der ganzen Welt anzulocken. Der amerikanische Wirtschaftserfolg im vergangenen Jahrhundert hing wesentlich mit dem enormen Zustrom talentierter Einwanderer zusammen. Zwar haben Immigranten von Anfang an zum Wachstum Amerikas beigetragen, doch seit den 30er Jahren hat das Land wissenschaftliche, intellektuelle, künstlerische und unternehmerische Talente in Scharen aufgenommen, die vor dem europäischen Faschismus und Kommunismus flohen. Erst sie haben dafür gesorgt, dass das Universitätssystem der USA und die innovative Infrastruktur heute dem Rest der Welt weit überlegen sind.
Ein historisches Hoch erreichte der Zustrom dank einer liberaleren Einwanderungspolitik und einer boomenden Wirtschaft in den 80er und 90er Jahren. Gemäß einer Volkszählung kamen allein in den 90er Jahren über elf Millionen Menschen nach Amerika. Die größte Zuwanderungswelle in der amerikanischen Geschichte brachte dem Land Talente aus aller Welt. Denken wir an Hightech-Größen wie Sergey Brin, den aus Moskau stammenden Gründer von Google, oder den Hotmail-Mitgründer Sabeer Bhatia, der in Bangalore aufgewachsen ist. Der Anteil der im Ausland geborenen Menschen an der gesamten US-Bevölkerung beläuft sich derzeit mit über 30 Millionen auf 11 Prozent.
Kreativität und Wettbewerb
Allerdings weisen jetzt schon Kanada mit 18 und Australien mit 22 Prozent einen höheren Immigrantenanteil als die USA auf. Diese zwei Nationen haben begriffen: In der globalen Ökonomie der Gegenwart findet der Wettbewerb um Menschen statt, nicht um Waren oder Dienstleistungen. Wie Pete Hodson, Neuseelands Forschungs-, Wissenschafts- und Technikminister, mir kürzlich erklärte: "Wir denken bei Zuwanderung nicht mehr daran, wie wir unsere Pforten geschlossen halten, sondern wie wir für die Talente attraktiv werden, die wir für unser Wirtschaftswachstum brauchen."
Ein genauerer Blick auf die internationalen Statistiken verrät, dass die kreative Klasse in vielen anderen Ländern einen größeren Teil der Arbeitskräfte ausmacht als in den USA. Ich habe mich zusammen mit Irene Tinagli, einer Doktorandin der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, US-Bundesstaat Pennsylvania, darangemacht, die Größen der kreativen Klassen in verschiedenen Ländern zu ermitteln. Dazu führten wir den "Globalen Index der kreativen Klasse" (englisch: "Global Creative-Class Index", kurz GCCI) ein. Dieser Index basiert auf den Beschäftigungsdaten und Stellenbeschreibungen der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf (ILO). Den Anteil der kreativen Arbeitskräfte errechneten wir, indem wir die Zahl der Menschen, die in kreativen Bereichen tätig sind, durch die
Gesamtzahl der Beschäftigten des jeweiligen Landes dividierten. Auf diese Weise verglichen wir die Prozentsätze an kreativ Beschäftigten in 25 Nationen (siehe Grafik oben).
Wie sich herausstellte, sind die Vereinigten Staaten nicht nur weit davon entfernt, führend zu sein, sie finden sich sogar noch nicht einmal unter den ersten zehn. In Irland, Belgien, Australien und den Niederlanden macht die kreative Klasse ein Drittel aller Arbeitskräfte aus, in sechs anderen Nationen immerhin ungefähr ein Viertel: Neuseeland, Estland, Großbritannien, Kanada, Finnland und Island. Passen wir die US-Daten nun so an, dass sie einen Vergleich mit den ILO-Zahlen ermöglichen (die recht eng definieren, was kreative Stellen sind; Techniker etwa sind ausgeschlossen), dann landen die USA mit 23,6 Prozent auf dem elften Platz. Angesichts der schieren Größe des Landes sprechen wir hier aber immer noch von einem beachtlichen Heer Kreativer, insgesamt über 30 Millionen.
Berücksichtigen wir die Techniker bei der internationalen Analyse mit, wächst der Anteil der kreativen Klasse in acht Ländern sogar auf 40 Prozent und mehr: Niederlande (47 Prozent), Schweden (42,4 Prozent), Schweiz (42 Prozent), Norwegen (41,6 Prozent), Belgien (41,4 Prozent), Finnland (41 Prozent) und Deutschland (40 Prozent). In praktisch allen übrigen Ländern liegt er bei über 30 Prozent. Hinzu kommt, dass die kreative Klasse in vielen Ländern während der vergangenen zehn Jahre erstaunlich gewachsen ist, in Neuseeland etwa seit 1991 von 18,7 Prozent auf 27,1 Prozent, in Irland hat sie sich im selben Zeitraum von 18,7 Prozent auf 33,5 Prozent sogar annähernd verdoppelt.
In der heutigen Wirtschaft gehen Kreativität und Wettbewerbsfähigkeit Hand in Hand. So nimmt es denn auch kaum wunder, wenn die USA in unseren GCCI-Rankings in etwa auf demselben Rang landen wie in Studien zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Michael Porter von der Harvard Business School etwa stufte die USA in seinem ersten globalen Innovationsindex als die weltweit wettbewerbsfähigste Nation ein. Seinen Voraussagen nach werden die USA bis 2005 auf Platz sechs der 30 Mitgliedsstaaten der OECD zurückfallen - hinter Japan, Finnland, der Schweiz, Dänemark und Schweden (in dieser Reihenfolge). Der Globalization Index, den die Unternehmensberatung A. T. Kearney für 2004 entwickelte und in der Zeitschrift "Foreign Policy" veröffentlichte, sieht die USA auf Platz sieben hinter Irland, Singapur,
der Schweiz, den Niederlanden, Finnland und Kanada.
Die Rankings für die Wettbewerbsfähigkeit einzelner Unternehmen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. In der für 2004 vom Wirtschaftsmagazin "Business Week" veröffentlichten Liste der 100 größten Unternehmen in der Informationstechnik finden sich gerade einmal 6 der 25 wettbewerbsstärksten Firmen in Amerika, in Asien hingegen 14.
Auch auf dem Gebiet der Patente und Veröffentlichungen beginnt Amerikas Führungsposition zu bröckeln. Heute stammt fast die Hälfte aller angemeldeten Patente in den USA von auswärtigen Unternehmen und von Erfindern, die im Ausland geboren wurden. Eine Umfrage von CHI Research, einer auf den Schutz geistigen Eigentums spezialisierten Unternehmensberatung, ergab, dass allein die Erfinder in Japan, Taiwan und Südkorea über ein Viertel aller jährlich erteilten amerikanischen Industriepatente halten. Und was die Veröffentlichungen betrifft, so berichtet das National Science Board, ein unabhängiges Beratergremium des US-Kongresses, dass die amerikanischen Wissenschaftler 1988 noch 178 000 Artikel beziehungsweise 38 Prozent aller wissenschaftlichen und technischen Veröffentlichungen weltweit beisteuerten. Seit 2001 ist die Europäische Gemeinschaft der führende Produzent wissenschaftlicher Literatur. Auf dem Gebiet der Physik fiel der Anteil der amerikanischen Beiträge laut der Fachzeitschrift "Physical Review" von 61 Prozent im Jahr 1983 auf 29 Prozent im Jahr 2003.
Einzeln betrachtet gibt keine dieser Zahlen Anlass zur Sorge im Hinblick auf die Zukunft Amerikas. Die USA sind nach wie vor ein sehr reiches Land mit diversen Stärken. Zusammengenommen allerdings ergeben diese Daten das beunruhigende Bild einer Nation, die ihre kreative Infrastruktur verfallen lässt. Nehmen wir nun noch die vermehrten Sicherheitsbedenken und die verschärfte Politisierung des wissenschaftlichen Klimas dazu, so erkennen wir unschwer, warum dieses Land für die klügsten Köpfe der Welt zusehends an Attraktivität einbüßt.
Das Talentdefizit
Gegenwärtig dreht sich der öffentliche Dialog über Jobs in den Vereinigten Staaten praktisch nur um Outsourcing und Arbeitslosigkeit. Beides sind kurzfristige Probleme. Die wirkliche Langzeitbedrohung, der sich die USA und die Welt stellen müssen, ist die Verknappung kreativer Talente.
Ökonomen wie Lawrence Summers, der Präsident der Harvard University und ehemalige Finanzminister, und Edward Montgomery, ehedem stellvertretender Arbeitsminister, halten einen Mangel an fähigen und talentierten Arbeitskräften künftig für praktisch unvermeidlich. Dem pflichtet ein Bericht des Industrieverbandes National Association of Manufacturers von 2003 bei. Dessen Prognose: Ab 2005 werden erstmals fähige Mitarbeiter fehlen, bis 2010 wird der Mangel auf 5,3 Millionen Arbeitskräfte steigen und bis 2020 auf 14 Millionen. Die Knappheit an Arbeitskräften, die Hightech-Unternehmen in den glücklichen Tagen von 1999 und 2000 plagten, wird sich im Vergleich dazu wie eine "kleine Betriebsstörung" ausnehmen, behauptet Arbeitsmarktexperte Anthony Carnevale, Autor des Berichts.
Die Ursache ist offensichtlich: Die Babyboomer stellen heute mit einem Anteil von 60 Prozent die Hauptgruppe der Arbeitnehmer - sprich: der Berufstätigen zwischen 25 und 54 Jahren (siehe "Was sind ..." Seite 17). Über die nächsten 20 Jahre werden sie sich scharenweise in den Ruhestand verabschieden, und es gibt schlicht zu wenig junge Arbeitnehmer, die auf ihre Plätze nachrücken. Das Talentdefizit wird jeden Bereich der US-Wirtschaft treffen, am empfindlichsten aber die Sparten Wissenschaft und Technik. Seit 1980 hat die Zahl der Arbeitsplätze in diesen Segmenten viermal so schnell zugenommen wie die auf dem gesamten Arbeitsmarkt, und das amerikanische Amt für Arbeitsstatistik rechnet damit, dass sie bis 2010 noch einmal um annähernd 50 Prozent zulegen wird, was weiteren 2,2 Millionen neuen Jobs entspräche. Zugleich steigt das Durchschnittsalter der wissenschaftlichen und technischen Arbeitskräfte. Über die Hälfte von ihnen sind 40 Jahre und älter, und viele werden sich in den nächsten 20 Jahren aus dem Arbeitsleben zurückziehen.
Man muss kein Genie sein, um sich auszurechnen, dass es für die USA nur eine einzige Möglichkeit gibt, die Lücke zu füllen: ausländische Talente. Wie der frühere Direktor des US-Bundesbüros zur Durchführung von Volkszählungen und Professor an der New Yorker Columbia University,
Kenneth Prewitt, sagt, werden die USA zusehends auf diese "Ersatzleute" angewiesen sein, wollen sie sich künftig lebenswichtige Fähigkeiten sichern und neue Branchen ausbauen. Sie zu gewinnen dürfte allerdings längst nicht mehr so einfach sein, wie es einmal war.
Vorboten der Krise
Studenten sind ein verlässlicher Indikator für die globalen Wanderungsbewegungen der Talente. Die Länder und Regionen, die sie anlocken, haben bessere Chancen, sie später als Arbeitskräfte zu halten und auch für andere ausländische Talentpools interessant zu werden - Wissenschaftler, Forscher, Erfinder, Unternehmer.
Über Jahrzehnte sind die Studenten in Scharen in die USA gekommen, um sich auf Weltklasseniveau ausbilden zu lassen. Allein im akademischen Jahr 2002/2003 studierten gemäß dem Institute of International Education (IIE) - die Institution vergibt die Fulbright-Stipendien - grob geschätzt 585 000 ausländische Studenten an amerikanischen Colleges und Universitäten. 1960 waren es noch unter 50 000 gewesen. Die Bildungsangebote für Ausländer haben der US-Wirtschaft bereits 12,9 Milliarden Dollar eingebracht. Trotzdem warnte der amerikanische Council on Competitiveness, eine Initiative von Firmenchefs, Hochschulrektoren und Gewerkschaftern zum Thema Wettbewerbsfähigkeit, bereits 1999 - lange bevor irgendjemand vom Dotcom-Kollaps gehört hatte -, das Land dürfe sich nicht darauf verlassen, dass ausländische Studenten von selbst an seine Eliteuniversitäten kommen.
Im März 2004 nun liefert ein Bericht des Council of Graduate Schools, einer US-Institution, in der sich Colleges und Universitäten zusammengeschlossen haben, Zahlen, welche die Warnung nur bestätigen. Die Bewerbungen internationaler Studenten für den Herbst 2004 waren an 90 Prozent der befragten Hochschulen zurückgegangen. Insgesamt ist die Zahl der Bewerbungen um 32 Prozent zurückgegangen. Die Anträge blieben vor allem aus jenen Ländern aus, die traditionell die meisten Studenten in die USA schickten: Über die Hälfte der im Ausland geborenen Studenten stammte aus Asien, hiervon 14 Prozent aus Indien und 10 Prozent aus China. Die Daten belegen weiter, dass die Zahl der chinesischen Studenten, die sich um einen Platz an einem amerikanischen College oder einer Universität bewarben, um 76 Prozent zurückging und die der indischen Studenten um 58 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Und eine Trendwende zeichnet sich nicht ab. Der Educational Testing Service stellte für 2004 ein Drittel weniger Bewerbungen internationaler Studenten für die von ihm betreuten Graduate Record Examinations (GREs) fest als für 2003 (Anm. d. Red.: Die GRE ist ein Test, den viele US-Hochschulen von Bewerbern vor der Zulassung zum Studium verlangen). Die Zahl der chinesischen Testteilnehmer sank um 50 Prozent, die der taiwanischen um 43, die der indischen um 37 und die der koreanischen um 15 Prozent.
Ein Grund hierfür ist eine aus globaler Sicht grundsätzlich positive Entwicklung. Mehrere große Volkswirtschaften - besonders Indien und China - haben inzwischen einen Entwicklungsstand erreicht, an dem sie den Menschen im eigenen Land großartige Möglichkeiten bieten können, ob sie nun dort ausgebildet sind oder von einer Ausbildung im Ausland zurückkehren. Beide Länder haben
exzellente eigene Universitätssysteme aufgebaut. Peter Drucker sagte unlängst, Indiens technische und medizinische Hochschulen dürften bereits zu den besten der Welt zählen.
Ausländische Studenten finden nicht nur attraktive Ausbildungsangebote in anderen Ländern als den USA, sondern sie sehen sich zudem mit immer mehr Hindernissen konfrontiert, wollen sie in Amerika studieren. Eine Umfrage des IIE unter Lehrkräften an 276 amerikanischen Universitäten ergab für Herbst 2003 einen drastischen Rückgang der Immatrikulationen von Studenten, die aus Ländern mit einem hohen Bevölkerungsanteil an Moslems kommen, vor allem aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, aus Saudi-Arabien und aus Pakistan. 59 Prozent der Befragten gaben das Visumverfahren als Grund für den Rückgang an.
Die "New York Times" meldet für für das Jahr 2003 eine Ablehnungsrate von 7,8 Prozent für Visa mit dem Einreisegrund "kultureller Austausch", den viele Medizinstudenten nutzen, gegenüber 5,1 Prozent 2001. Und die Zahl der Studenten, deren Visa abgelehnt wurden, stieg von 27,6 Prozent im Jahr 2001 auf 35,2 Prozent im Jahr 2003, wie das National Science Board in seinem Bericht "Science & Engineering Indicators - 2004" veröffentlichte.
Da ich an mehreren großen Universitäten unterrichtet habe - Ohio State, Harvard, MIT und Carnegie Mellon -, habe ich natürlich auch viel mit ausländischen Studenten zu tun gehabt. Sie konnten mir immer schnell die Vorzüge des Studierens und Forschens in den USA erklären. Im Laufe des vergangenen Jahres hat sich aber ihr Bild von Amerika dramatisch verändert. Sie beklagen sich darüber, von der Einwanderungsbehörde wie potenzielle Sicherheitsrisiken behandelt und regelrecht verfolgt zu werden, und sie haben das Gefühl, der von Präsident George W. Bush erklärte Krieg gegen den Terror würde die gesellschaftliche Offenheit, der sich Amerika doch eigentlich verschrieben hat, nach und nach abschaffen. Viele haben mir erzählt, sie würden darüber nachdenken, die USA zu verlassen und in anderen Ländern zu arbeiten oder weiterzustudieren. Außerdem berichten sie mir, dass sich immer weniger von ihren Freunden und Kollegen zu Hause für ein Studium in Amerika interessieren.
James Langer, Vizepräsident der National Academy of Science, der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften, sprach offen aus, was der Rückgang an ausländischen Studenten bedeuten könnte. Anlässlich einer Veranstaltung des Senatsausschusses für Forschung und Technik sagte er: "Die Bewerbungen der Studenten aus China, Indien, Russland und anderen Ländern für die führenden Colleges und Universitäten sind bereits um 30 Prozent und mehr zurückgegangen. Internationale Wissenschaftsverbände wie die International Union of Pure and Applied Physics weigern sich, ihre Konferenzen hier abzuhalten." Wie ein Ozeanograf von der University of California in San Diego kürzlich spottete, wären die Akademiker in dieser Region kurz davor, "wissenschaftliche Treffen im mexikanischen Tijuana abzuhalten", weil Mexiko wenigstens die internationalen Experten ins Land lässt. Langer brachte es auf den Punkt, als er sagte, "die US-Wissenschaft wird vom Rest der Welt isoliert".
Traurig, aber wahr: Die Einschränkung der Zuwanderung wird den heimischen Talenten keine neuen Plätze in den besten amerikanischen Programmen für Studenten und in Forschungseinrichtungen eröffnen. Die USA haben viele brillante junge Leute, aber nicht annähernd so viele, um den Bedarf der Wirtschaft decken zu können.
Andere Länder nutzen natürlich die zurückgehende Attraktivität der USA. Der englischsprachige Teil Kanadas sowie Großbritannien und Australien haben es besonders leicht, diese Entwicklung für sich zu nutzen. Im Juni 2003 erzählte mir ein namhafter Professor aus Oxford, seine Universität habe "nie so viele Bewerbungen internationaler Topstudenten gesehen", und fügte hinzu, diese Studenten wären wohl "auf der Suche nach einer Alternative zu den amerikanischen Universitäten" wie Harvard, Chicago, MIT und Stanford. Tatsächlich haben Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Australien und Japan laut dem "2003 Atlas of Student Mobility" des IIE zusammen 650 000 ausländische Studenten angelockt - über 11 Prozent mehr als die USA. Und in Zukunft wird die Zahl der Studierenden, um die die Universitäten konkurrieren müssen, sogar noch größer. Die Unesco schätzt, dass 1,7 Millionen Studenten im Jahr 2000 im Ausland studiert haben und dass es bis 2025 rund 8 Millionen sein werden. Die Länder, die diese Studenten für sich gewinnen, werden im künftigen Kampf um globale Talente einen enormen Vorteil haben.
Exodus der Talente
Die Vereinigten Staaten sind also zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit der Möglichkeit einer Abwanderung von Talenten konfrontiert. Und dabei sind die Studenten bloß die Spitze des Eisbergs. Erste Anzeichen lassen vermuten, dass uns auch zahlreiche ausländische Wissenschaftler, Techniker, Erfinder und andere Fachkräfte den Rücken kehren werden. Nach einer Umfrage vom Juni 2004, die die Santangelo Group in Auftrag gegeben hatte, haben amerikanische Unternehmen die Verzögerungen bei der Bewillung von Einreisevisa innerhalb
von zwei Jahren grob geschätzt 30 Milliarden Dollar gekostet. Die Santangelo Group ist ein Zusammenschluss führender amerikanischer Industrieverbände, angefangen vom Verband der Luft- und Raumfahrtindustrie (Aerospace Industries Association) über den Außenhandelsrat (National Foreign Trade Council) bis hin zum Verband für Produktionstechnik (Association for Manufacturing Technology).
Im Rahmen der Umfrage wurden 734 Mitgliedsunternehmen befragt. Von den 141 Firmen, die antworteten, gaben 73 Prozent an, sie hätten seit 2002 Schwierigkeiten, Firmenvisa zu bekommen, wobei sich die damit verbundenen durchschnittlichen Kosten pro Unternehmen auf annähernd eine Million Dollar beliefen (exakt: 925 186 Dollar). 83 Prozent der Teilnehmer sagten, auf Grund von Visa-Verzögerungen müssten Projekte verschoben werden; 42 Prozent berichteten, sie könnten auf Grund der Verzögerungen keine ausländischen Mitarbeiter in die USA holen; und 20 Prozent gaben an, wegen dieser Probleme ihre Ausbildungsmaßnahmen an Standorte im Ausland verlegt zu haben.
Der Direktverkaufsriese Amway beispielsweise hat es in diesem Jahr vorgezogen, eine Tagung für 8000 südkoreanische Vertriebspartner in Japan statt in Los Angeles oder Hawaii abzuhalten. Die "Washington Post" schrieb, Amway hätte sich für Japan statt für die USA entschieden, weil jeder einzelne Tagungsteilnehmer eine Einzelbefragung durch einen Konsulatsmitarbeiter über sich hätte ergehen lassen müssen, um in die USA einzureisen. Amway schätzt die Summe, die die Teilnehmer am Tagungsort ausgeben, auf durchschnittlich 1250 Dollar - ein Verlust von 10 Millionen Dollar für den ursprünglichen Veranstaltungsort in den USA, der nicht zum Zuge kam.
Einem jüngst erschienenen Artikel in der "New York Times" zufolge haben zwischen Oktober 2000 und September 2001 rund 6,3 Millionen Menschen ein Visum für die USA beantragt. Im Jahr 2003 sank die Zahl um über 40 Prozent auf 3,7 Millionen. Und immer weniger von denen, die sich bewerben, dürfen tatsächlich einreisen. Die Ablehnungsrate für H-1B-Visa, die es ausländischen Fachkräften erlauben, bis zu sechs Jahre in den USA zu arbeiten, stieg zwischen 2001 und 2003 von 9,5 auf 17,8 Prozent an. In fast jeder wichtigen Branche, von Hightech bis Entertainment, machen sich die Auswirkungen dieser Entwicklung bemerkbar. Eine ganze Reihe prominenter internationaler Musikgruppen, etwa Sierra Maestra aus Kuba, haben ihre Amerika-Tourneen abgesagt, weil sie keine Visa bekamen. (Sierra Maestra wurden die Visa verweigert, weil das FBI die vorgeschriebene Personenüberprüfung nicht innerhalb der von der Einwanderungsbehörde Immigration and Naturalization Service gesetzten Frist durchführte).
Solche Stornierungen wirken sich zwar nicht direkt auf die US-Wirtschaft aus, trotzdem sollten wir deren Einfluss auf die amerikanischen Künstler nicht verkennen, ganz zu schweigen von den Auswirkungen für die milliardenschwere Musikindustrie. Musiker und Geschäftsleute von äußeren Einflüssen zu isolieren kann gerade in dieser (zusehends globaler orientierten) Branche weit reichende Konsequenzen haben. Die Folgen werden dieselben sein, als würden Wissenschaftler davon abgehalten, Neues zu erforschen - der Anschluss an den Wettbewerb geht verloren.
Ausländische Mitarbeiter, die bereits für amerikanische Unternehmen tätig sind, haben es ebenfalls nicht leicht. Die Zeiten für die Ausstellung einer neuen unbegrenzten Arbeitserlaubnis und von Reisedokumenten haben absurde Ausmaße angenommen. Wie die "New York Times" zu berichten wusste, dauert es nach dem Verlust einer Greencard im Schnitt 19 Monate, bis eine Ersatzkarte ausgestellt ist. Arbeitskräfte, die eine vorläufige Arbeitserlaubnis besitzen und eine Greencard beantragt haben, müssen
7 Monate Wartezeit für Reisedokumente in Kauf nehmen - und dürfen während dieser Zeit das Land nicht verlassen, weil er oder sie dann riskieren, nicht wieder ins Land gelassen zu werden. Im selben Artikel steht, dass die Zahl der Greencard-Anträge in der Warteschleife seit 2001 um fast 60 Prozent gestiegen sei, weil 1000 Mitarbeiter, die früher Dokumente ausstellten, heute "umfassende Sicherheitsüberprüfungen jedes einzelnen Antragstellers" vornehmen müssten.
Die große Bedeutung, die aus dem Ausland zugewanderte Arbeitskräfte für die amerikanische Wirtschaft haben, dürfte wohl kaum strittig sein. Anna Lee Saxenian, Dekanin des Fachbereichs Informationsmanagement und -systeme an der Universität von Kalifornien in Berkeley, hat sich eingehend mit Unternehmen im Silicon Valley befasst, die von Immigranten geleitet werden. Mit ihrem Team wertete sie Volkszählungsdaten zu Bildungsstand, Beruf und Einkommen von Immigranten aus. Mittels Daten von Dun & Bradstreet, einem Anbieter von Wirtschaftsinformationen, prüfte sie, wie viele der 12 000 Startups zwischen 1980 und 1998 von Immigranten gegründet worden waren.
Heraus kam, dass in den 90er Jahren Chinesen und Inder annähernd 30 Prozent der Hightech-Unternehmen führten - gegenüber 13 Prozent in den frühen 80er Jahren. Im Jahr 2000, so schätzte Saxenian, werden diese Firmen gemeinsam einen Umsatz von 20 Milliarden Dollar erwirtschaften und 70 000 Jobs geschaffen haben. Und da ihre Daten nur solche Unternehmen berücksichtigten, die gegenwärtig von Chinesen oder Indern geleitet werden, bezeichnete Saxenian selbst ihre Schätzung als vorsichtig.
Trends erregen Aufmerksamkeit, doch Einzelfälle sind meist viel anschaulicher. Was wäre etwa, wenn Vinod Khosla, der Mitgründer von Sun Microsystems und eine Koryphäe im Bereich Venture Capital, der so vielen Erfolgsunternehmen den Rücken gestärkt hat, damals in Indien geblieben wäre? Oder wenn An Wang, Gründer des Elektronikkonzerns Wang Laboratories, zum Studieren nach Europa gegangen wäre? Das kreative Genie dieser beiden hat ganze Branchen umgewälzt. Ihre Ideen und ihr Geschäftssinn haben etwas entfacht, das der Ökonom Joseph Schumpeter gern den "Sturm kreativer Zerstörung" nannte und in dessen Folge neue Unternehmen und Branchen entstanden wie auch bestehende revolutioniert wurden.
Die heutige Wagenburgmentalität hat sogar einige führende amerikanische Wissenschaftler und Techniker veranlasst, das Land zu verlassen. Sollte der Status quo andauern, werden mehr Leute wie Roger Pedersen reagieren, ein Stammzellenforscher, der die University of California in San Francisco verließ und an die Cambridge University in England ging. "Mein Herz hängt an Amerika, aber Großbritannien ist für diese Forschung der viel bessere Ort. Hier stehen deutlich mehr Gelder zur Verfügung", erzählte Pedersen dem US-Magazin "Wired", "weil die Leute aus der Arbeit mit embryonalen Stammzellen keinen politischen Spielball gemacht haben." Solche Tendenzen zeigen im Kleinen, welchen Wandlungsprozess die kreative Ökonomie durchmacht - eingeleitet von der wachsenden Kompetenz der globalen Konkurrenten wie auch der Kurzsichtigkeit Amerikas.
Wiederaufbau der kreativen Infrastruktur
Was können die USA tun? Zunächst einmal müssen sie begreifen, dass es sich nicht um ein parteipolitisches Problem handelt. Ob Republikaner, Demokraten oder Unabhängige - sie alle müssen daran beteiligt sein, die Grenzen für ausländische Talente zu öffnen. Die Herausforderungen, die es zu meistern gilt, sind zu wichtig und zu groß, als dass sie durch Parteiengezänk, Kulturkriege oder kurzfristige Wirtschaftsinteressen verschleiert werden dürfen. Die USA müssen sich den nächsten Schritt gut überlegen. Dabei würde ich empfehlen, das Hauptaugenmerk auf drei Bereiche zu richten.
Die echten Sicherheitskosten berechnen
Die USA lähmen ihren eigenen Fortschritt, wenn sie jede wissenschaftliche Entdeckung einem Religionstest unterziehen oder die Visa-Bestimmungen unnötig verschärfen. Gewiss, Amerika ist seit dem 11. September 2001 mit echten und tödlichen Bedrohungen konfrontiert, die in nächster Zeit kaum verschwinden dürften. Den Ministerien für Verteidigung und Heimatschutz, dem FBI, der Küstenwache und den Geheimdiensten geht die Sicherheit selbstverständlich über alles. Das ist ihr Job. Aber es ist wichtig für die politische wie die wirtschaftliche Führung, die Kosten übertriebener Vorsicht zu erkennen und die ernsten Zielkonflikte zwischen der gegenwärtigen Sicherheit und der langfristigen Konkurrenzfähigkeit des Landes abzuwägen.
Die USA erhalten weltweit Zustimmung für ihre Bemühungen, das eigene Land zu schützen. Wenig begeistert ist der Rest der Welt allerdings von den willkürlichen und bisweilen rücksichtslosen Methoden, mit denen das Land die eigene Verteidigung betreibt. Bald könnte nicht mehr der Terrorismus die größte Bedrohung für die USA darstellen, sondern die Tatsache, dass kreative und talentierte Menschen nicht mehr innerhalb der amerikanischen Grenzen leben möchten. Der Staat sollte diesen Personen - Amerikanern wie Nichtamerikanern -
glaubwürdig vermitteln können, wie viel ihm an Offenheit, Vielseitigkeit und Toleranz liegt. Das wiederum gelingt am besten, indem das Visa-Verfahren verbessert wird.
Sollte die Regierung nicht willens oder im Stande sein, eine Art der Sicherheit gegen eine andere abzuwägen, dann müssen sich Wirtschaftsleute und Akademiker für mehr Offenheit stark machen. In den 80er Jahren gewann der damalige Hewlett-Packard-Chef Jack Young seine Kollegen aus der Wirtschaft für eine gemeinsame Initiative, den Council on Competitiveness, der wesentlich dazu beitrug, der Wirtschaft Gehör zu verschaffen und landesweit auf die mangelnde internationale Konkurrenzfähigkeit hinzuweisen. Nach demselben Muster könnte die Privatwirtschaft nun eine Global Creativity Commission (deutsch: einen globalen Kreativitätsrat) einführen - einen internationalen Zusammenschluss der Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik. Dessen Aufgabe bestünde in der Entwicklung von Strategien, welche die freie Beweglichkeit der Talente weltweit sichern.
Großzügige Investitionen in Forschung und Bildung
Die Unternehmen haben 2002 ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung um annähernd acht Milliarden Dollar gekürzt - der größte Investitionsrückgang in diesem Bereich seit den 50er Jahren, wie die National Science Foundation berichtet. Das ist eine Stiftung, die staatliche Forschungsmittel in den USA verteilt. Und ausgerechnet jetzt kürzt die Bundesregierung den Etat für Forschung und Entwicklung im Verteidigungsbereich. Viele Bundesstaaten haben die Bildungsausgaben für Kunst und Kultur rigoros zusammengestrichen, während sie gleichzeitig Millionen in Stadien, Tagungszentren und andere Großbauten pumpten. Niemand schert sich darum, dass sich der Nutzen solcher Projekte für die regionale Ökonomie meist in dem Moment erledigt hat, in dem die letzten Bauarbeiter vom Gelände fahren. Solche Projektentscheidungen illustrieren, wie wenig die Verantwortlichen begriffen haben, was nötig ist: eine Atmosphäre der Innovation zu schaffen und zu erhalten.
Die USA müssen großzügig in die kreative Infrastruktur investieren. Durch Bildungsreformen sollten Schulen zu Orten kultivierter Kreativität werden. Ganz Amerika liebt die Geschichten junger Kreativer wie Michael Dell, die während ihrer Freizeit in den Schlafräumen der Colleges oder in Garagen neue Unternehmen aufbauen. Die Frage aber ist: Warum müssen sie diese Dinge in ihrer freien Zeit tun? Sollten sie im Zeitalter der Kreativität nicht vielmehr zum Lehrstoff gehören?
Was wir brauchen, ist ein GI Bill für Kreativität. Für höhere Bildung, Forschung und Entwicklung muss viel mehr Geld ausgegeben werden. Universitäten und Colleges müssen mehr Amerikanern und mehr Ausländern offen stehen, damit sie die besten und klügsten Köpfe für sich gewinnen. So wie Kanäle, Schienen und Autobahnen gebaut wurden, um das industrielle Wachstum anzukurbeln, müssen heute Infrastrukturen für das kreative Wachstum der Zukunft geschaffen werden.
Auch hier werden Wirtschaft und akademische Welt eventuell kurzfristig die Führung übernehmen müssen. Angesichts der jüngsten Kürzungen staatlicher Förderung für die Stammzellenforschung hat Harvard-Präsident Lawrence Summers bereits angekündigt, für mehrere Millionen Dollar ein Institut für diese Forschungsrichtung zu gründen. Wie George Q. Daley, außerordentlicher Professor an der Harvard Medical School und am Children's Hospital, sagt: "Harvard hat die Mittel, Harvard hat die Größe und Harvard hat im Grunde auch die Pflicht, da einzugreifen, wo die Regierung sich zurückzieht."
Die kreativen Fähigkeiten von mehr Menschen nutzen
Wenn die kreative Klasse in Amerika nicht einmal ein Drittel aller Berufstätigen ausmacht, dann bedeutet das logischerweise, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht
zu dieser Klasse zählt. Fast 45 Prozent aller Jobs in Amerika fallen in den Servicebereich - Hausmeister, gering qualifizierte Arbeitskräfte im Gesundheitswesen, Büroangestellte, Mitarbeiter in der Gastronomie und viele andere. In dieser Kategorie verdienen die Arbeitskräfte im Schnitt weniger als die Hälfte dessen, was Angehörige der kreativen Klasse bekommen - ungefähr 22 000 Dollar jährlich gegenüber mehr als 50 000 Dollar.
Wenn so viele Arbeitskräfte in nicht kreativen Berufen beschäftigt sind, wird ungeheuer viel Talent und Potenzial verschwendet. Bislang sind die USA damit durchgekommen, weil es beinahe überall auf der Welt ähnlich aussah. Doch erinnern wir uns daran, was in den 70er und 80er Jahren passierte, als die japanischen Autobauer weltweit Furore machten mit ihrer Methode, die Intelligenz jedes einzelnen Fabrikarbeiters für die kontinuierliche Verbesserung von Qualität und Produktivität zu nutzen. Die amerikanischen Autobauer, traditionell dem Taylorschen Modell verhaftet, bei dem der Ingenieur entscheidet und der Arbeiter kommentarlos folgt, standen plötzlich kurz vor dem Ruin. Und sollten heute andere Nationen bessere Wege finden, die einheimische Kreativität zu mobilisieren, könnte die amerikanische Wirtschaft am Ende ins Hintertreffen geraten.
Die Löhne, die Arbeitsbedingungen und der Status der vielen Beschäftigten im Servicebereich müssen dringend verbessert werden. Diese Jobs sind der Einstieg in die kreative Wirtschaft von heute. Während der Weltwirtschaftskrise und des New Deal (Anm. d. Red.: Wirtschaftsprogramm von Präsident Franklin D. Roosevelt in den 30er Jahren) gelang es dem Staat, Jobs für ungelernte und schlecht bezahlte Arbeiter in solche zu verwandeln, von denen Familien leben konnten und die eine Basis für das Vorankommen bildeten. Viele vergleichbare Jobs der Gegenwart - Friseur, Masseur oder Kosmetikerin, um nur ein paar zu nennen - sind praktisch immun gegen Outsourcing.
Die Bedürfnisse der kreativen Klasse zu befriedigen ist wichtig, doch das allein reicht nicht. Wollen die USA soziale Unruhen vermeiden und wirtschaftlich von der Kreativität möglichst vieler ihrer Bürger profitieren, dann muss das Land einen Weg finden, den Service- und den Herstellungssektor ins kreative Zeitalter zu führen.
Die Zukunft der globalen Kreativität
Vielleicht bin ich ein unverbesserlicher Optimist, aber ich denke, die USA können auch in Zukunft mit leuchtendem Beispiel vorangehen, was die Offenheit für die kreative Klasse angeht - ja vielleicht sogar für die ganze Menschheit. Das Land blickt auf eine lange Geschichte des Einfallsreichtums und der Kreativität zurück, und es hat sich gleich mehrere Male gewandelt, etwa im Wiederaufbau nach der Weltwirtschaftskrise oder in Antwort auf den asiatischen Exportboom der 80er Jahre.
Bedauerlicherweise wird der verminderte Zugang Amerikas zu ausländischem Talent von der politischen Führung oder den Medien kaum beachtet. Sie haben scheinbar größere und drängendere Probleme - vom Krieg gegen den Terror bis hin zum Verlust von Arbeitsplätzen an China, Indien und Mexiko. Dabei allerdings übersieht die Nation die größte Bedrohung für ihre Wirtschaft - so wie sie seinerzeit vor lauter Besessenheit von der Sowjetunion in den letzten Jahren des Kalten Krieges nicht erkannte, dass Japans Wirtschaft zur ernsten Konkurrenz wurde.
Die Rolle der USA beim Schaffen von Kreativität und Humankapital betrifft nicht nur die amerikanische Wirtschaft und Politik, sondern die aller Länder. Amerikanische Universitäten und Unternehmen waren lange Zeit die Lehrenden und Erneuerer der ganzen Welt. Wenn dieser Motor ins Stocken gerät - oder wenn politische Entscheidungen zum Thema Zuwanderung, Visa und wissenschaftliche Forschung Sand ins Getriebe streuen - wird die ganze Welt die Folgen zu spüren bekommen.
Das Zeitalter der Kreativität erfordert nicht weniger als einen kompletten Wandel unserer Weltsicht. Kreativität ist keine physische Ressource, die wir horten, um die wir kämpfen oder die wir kaufen und verkaufen können. Die USA müssen anfangen, Kreativität als Gemeingut zu betrachten, ebenso wie Freiheit und Sicherheit. Sie gehört jedem und muss immer genährt, erneuert und erhalten werden - andernfalls geht sie uns verloren. n