Das Geheimnis der Vitalitaet
Das Durchschnittsunternehmen wird gerade mal 20 Jahre alt, waehrend Ueberlebenskuenstler 100 Jahre und mehr ueberstehen.Unser Autor, prominenter Shell-Manager im Ruhestand, suchte die Gruende fuer die unterschiedliche Lebensdauer. Seine Erkenntnis: Frueh sterbende Unternehmen denken und handeln rein oekonomisch; fuer sie zaehlen nur Effizienz und Ertrag - bis in den fruehen Tod. Langlebige Unternehmen folgen einer anderen Philosophie: Sie verstehen sich nicht als Geldmaschinen, sondern als Überlebensgemeinschaften; Gewinne und angesammeltes Kapital werden bei ihnen fuer die Zukunftsvorsorge genutzt und nicht fuer die Beglueckung der Kapitaleigner. Zudem zeigen diese Unternehmen ein hohes Maß an Lern- und Anpassungsbereitschaft - in Krisen das lebenserhaltende Elixier.
In der Welt der Institutionen sind Wirtschaftsunternehmen Neulinge. Es gibt sie erst seit ungefaehr 500 Jahren - nur ein Wimpernschlag in der Geschichte der menschlichen Zivilisation. Aber als Produzenten des materiellen Wohlstands erfreuten sie sich in dieser Zeit gewaltiger Erfolge. Sie haben die steil anwachsende Weltbevoelkerung mit jenen Guetern und Dienstleistungen versorgt, die ein zivilisiertes Leben erst ermoeglichen.
Betrachten wir die Wirtschaftsunternehmen jedoch im Lichte ihrer Moeglichkeiten, dann leisten die meisten von ihnen zu wenig. Sie stehen gewissermaßen noch auf einer Fruehstufe der Entwicklungsgeschichte, indem sie nur einen Bruchteil ihrer Potentiale nutzen. Bedenken wir nur ihre hohe Sterblichkeit. Schon 1983 fand sich ein Drittel der Fortune-500-Unternehmen des Jahres 1970 verkauft oder in Stuecke zerlegt oder hatte mit anderen Firmen fusioniert.
Viele dieser Firmentode waren vorzeitig. Wieso sich das behaupten laeßt? Weil es genug Zeugnisse fuer weitaus laengere Lebenszeiten gibt. Die japanische Sumitomo-Gruppe hat ihre Urspruenge in einer kleinen Kupferschmelze, die 1590 von einem Riemon Soga gegruendet wurde. Und Stora, heute ein bedeutender Hersteller von Papier, Pulpe und Chemikalien, begann vor mehr als 700 Jahren als Kupfermine in Zentralschweden. Solche Beispiele demonstrieren, daß die natuerliche Lebensspanne eines Unternehmens zwei, drei Jahrhunderte oder noch mehr umfassen kann.
Demgegenueber ist das, was sich aus den Statistiken ergibt, eher deprimierend. Die Kluft zwischen der Langlebigkeit von Sumitomo oder Stora und der kurzen Lebensdauer eines Durchschnittsunternehmens steht fuer vergeudetes Potential. Einzelpersonen, Kommunen und ganze Volkswirtschaften trifft der vorzeitige Tod von Unternehmen - auf zuweilen sogar zerstoererische Weise. Die hohe Sterblichkeitsrate bei Unternehmen erscheint unnatuerlich, denn bei keiner lebenden Spezies gibt es eine so große Diskrepanz zwischen hoechster und mittlerer Lebenserwartung. Und nur wenige andere Arten von Institutionen - Kirchen, Armeen oder Universitaeten - weisen derart abgruendige Ergebnisse auf wie Unternehmen.
Warum sterben so viele Unternehmen in jungen Jahren? Immer mehr Hinweise legen die Vermutung nahe: Sie scheitern, weil ihre Manager allzu oekonomisch denken und alle Geschaeftsstrategien und -methoden nur darauf ausrichten, Gueter und Dienstleistungen zu produzieren. Sie vergessen, daß das Unternehmen auch eine Gemeinschaft von menschlichen Wesen darstellt, die arbeiten - in jedem Gewerbe -, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Manager beschaeftigen sich mit Grund und Boden, Arbeit und Kapital. Dabei uebersehen sie oft den Umstand, daß es sich beim Faktor Arbeit um reale Menschen handelt.
Was ist an langlebigen Unternehmen das Besondere? "Alle gluecklichen Familien gleichen einander", schreibt Leo Tolstoi in "Anna Karenina", "aber jede unglueckliche Familie ist auf ihre Weise ungluecklich." Was ich ein lebendiges Unternehmen nenne hat eine Persoenlichkeit, die es ihm erlaubt, sich harmonisch zu entwickeln. Ein solches Unternehmen weiß, wer es ist, kennt seinen Platz in der Welt, schaetzt neue Ideen und neue Leute und haelt sein Geld beisammen, damit es die eigene Zukunft meistern kann. Dieser individuelle Charakter aeußert sich in Verhaltensweisen, die es ermoeglichen, das Unternehmen ueber viele Generationen hinweg immer wieder zu erneuern. Lebendige Unternehmen produzieren Gueter und Dienstleistungen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen - aus demselben Grund also, aus dem die meisten von uns ihren Beruf ausueben.
Unterschiedliche Lebenszeiten
Bevor ich detaillierter darlege, was lebendige Unternehmen auszeichnet, einiges zur Vorgeschichte dieses Beitrags. Es war 1983, als wir uns in einer Arbeitsgruppe bei Shell der Frage zuwandten, warum manche Unternehmen langfristig ueberleben, viele andere aber nicht. Dazu wollten wir uns Firmen ansehen, die aelter als Shell waren, obwohl Shell selbst damals auch schon 100 Jahre zaehlte. Wir hielten also Ausschau nach Unternehmen, die bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts existierten, in ihren Branchen etabliert waren und noch immer eine starke Firmenidentitaet aufwiesen.
Unsere Gruppe fand, ueber Nordamerika, Europa und Japan verstreut, 30 Unternehmen, die diesen Kriterien genuegten. Ihr Alter reichte von 100 bis zu 700 Jahren. 27 von ihnen, darunter DuPont, W. R. Grace, Kodak, Mitsui, Sumitomo und Siemens, hatten ihre Unternehmensgeschichte auch gut dokumentiert. Meist geschieht das in Form von Buechern, in denen sich die Unternehmen selbst feiern, sowie in Artikeln, die die Tugenden der Chefs lobpreisen. Dennoch meinen wir, daß uns diese Chroniken eine Menge Einblicke verschafften und wir aus ihnen fuer unsere Studie einiges Wertvolle lernen konnten.
Als erstes wurde uns klar, daß die durchschnittliche Lebensspanne eines Unternehmens weit kuerzer ist als seine potentielle Lebenszeit. Eine vage Vermutung hatten wir schon nach dem Studium der Fortune-500-Listen. Aber bestaetigt wurde es durch Daten aus Handelsregistern in Nordamerika, Europa und Japan, wo Geburt und Tod eines Unternehmens verzeichnet werden. Bei Durchsicht dieser Register ergab sich eine Art "Bevoelkerungsstatistik" fuer Unternehmen, die drei wichtige Einzelangaben umfaßte: Geburten, Todesfaelle und die Grundgesamtheit, womit sich die mittlere Lebenserwartung errechnen ließ. Wir fanden heraus, daß in der gesamten noerdlichen Hemisphaere die mittlere Lebenserwartung von Unternehmen deutlich unter 20 Jahren lag. Nur Großunternehmen, die nach ihrer Kindheit - in der die Sterblichkeit besonders hoch ist - kraeftig expandierten, lebten im Durchschnitt 20 bis 30 Jahre laenger.
Es scheint, daß wir es bei Unternehmen mit einer Spezies zu tun haben, deren maximale Lebenserwartung einige hundert Jahre, deren mittlere Lebenserwartung aber weniger als 50 Jahre betraegt. Wuerde diese Spezies der Homo sapiens sein, so koennten wir mit Recht sagen, daß wir noch im Zeitalter der Neandertaler leben - jener Ära also, in der die Menschen noch nicht ihr volles Potential ausschoepften. Die Neandertaler besaßen eine durchschnittliche Lebenserwartung von fast 30 Jahren, waehrend der Mensch aus biologischer Sicht eine maximale Lebenserwartung von 100 Jahren und mehr hat. Und diese Kluft aehnelt sehr jenem Abstand, den wir zwischen kurz- und langlebigen Unternehmen entdeckten.
Die zweite Beobachtung bei dieser Shell-Studie besteht darin, daß lebendige Unternehmen sehr gut waren beim "Management des Wandels", wie wir heute sagen wuerden. Stora, das auffaelligste Beispiel, ueberlebte das Mittelalter, die Reformation, den Dreißigjaehrigen Krieg, die industrielle Revolution und zwei Weltkriege. Waehrend der laengsten Zeit seines bisherigen Lebens war das Unternehmen auf Boten zu Fuß und zu Pferde und auf Schiffe angewiesen, denn Telephone, Flugzeuge oder elektronische Netze zum Datenaustausch gab es erst viel spaeter. Das Stora-Geschaeft verlagerte sich vom Kupfer auf Forstwirtschaft, Verhuettung, Wasserkraft und schließlich auf Papier, Pulpe und Chemikalien. Seine Produktionstechniken aenderten sich mit der Zeit - von der Dampfkraft zu den Verbrennungsmotoren, von der Elektrizitaet bis zu den Mikrochips. Und Stora paßt sich weiterhin einer sich staendig wandelnden Welt an.
Das Gemeinsame langlebiger Firmen
Um Gemeinsamkeiten herauszufinden, suchten wir nach Korrelationen, obwohl die nicht immer verlaeßlich sind. Gleichwohl konnte unsere Arbeitsgruppe bei den 27 ueberlebenden Unternehmen vier gemeinsame Charakterzuege entdecken, die ihre Langlebigkeit erklaeren koennten.
Konservatives Finanzgebahren. Diese Unternehmen setzten ihr Kapital nicht mutwillig aufs Spiel. Sie verstanden die Bedeutung des Geldes auf eine recht altmodische Weise. Und sie wußten um die Nuetzlichkeit von Mittelreserven. Dank einer gefuellten Kasse konnten sie bei Gelegenheiten zugreifen, bei denen ihre Konkurrenten dazu außerstande waren. Sie mußten nicht erst externe Finanziers von der Attraktivitaet jener Chancen ueberzeugen, die sie wahrnehmen wollten. Das Geld aus dem Spartopf erlaubte es ihnen, ihr Wachstum und ihre weitere Entwicklung selbst zu bestimmen.
Sensibilitaet gegenueber dem Umfeld. Diese Unternehmen bauten ihr Geschaeftsglueck auf unterschiedlichen Grundlagen auf - mal auf Wissen (wie DuPont mit seinen technischen Innovationen), mal auf natuerlichen Ressourcen (wie die Hudson Bay Company mit Pelzen aus den Waeldern Kanadas), mal auf anderem - stets waren die lebendigen Unternehmen unserer Studie faehig, sich Veraenderungen ihrer Umwelt anzupassen. Waehrend Kriege, Depressionen, Techniken und Regierungen kamen und gingen, bezeugten sie großes Geschick darin, ihre Fuehler auszustrecken und sich auf das einzustellen, was geschah. Manchmal waren sie auf Informationen angewiesen, die erst per Bote oder Schiff ueber große Entfernungen beschafft werden mußten. Aber auf neue Nachrichten reagierten sie dann rasch. Lernen und Anpassen gelang ihnen bestens.
Bewußtsein der eigenen Identitaet. Egal wie breit die Unternehmen diversifiziert waren, ihre Beschaeftigten empfanden sich stets als dem Ganzen zugehoerig. Lord Cole, Unilever-Chef in den 60er Jahren, sah den Konzern beispielsweise als eine Flotte. Jedes Schiff operierte selbstaendig, aber die ganze Flotte war mehr als die Summe ihrer Einheiten. Dieses Gefuehl, einer Organisation zuzugehoeren und sich mit deren Leistungen zu identifizieren, wird oft als wenig greifbar abgetan. Aber historische Beispiele zeigen immer wieder, daß Gemeinschaftssinn eine sehr wesentliche Voraussetzung fuer langfristiges Überleben ist. Die Topmanager in den von uns untersuchten Unternehmen kamen zumeist aus diesen selbst und betrachteten sich als Vertrauensleute einer seit langem bestehenden Einrichtung. Vor allem anderen waren sie bemueht, die Institution mindestens so gesund zu erhalten, wie sie ihnen anvertraut worden war.
Aufgeschlossenheit gegenueber neuen Ideen. Die langlebigen Unternehmen unserer Studie tolerierten auch Aktivitaeten am Rande: Experimente und exzentrische Geschaefte, die das Verstaendnis strapazierten. Sie wußten eben, daß neu gestartete Geschaefte keinerlei Bezug zu laufenden Geschaeften haben koennen und daß eine Gruendung einer neuen (Tochter-)Firma nicht unbedingt zentral ueberwacht werden muß. W. R. Grace zum Beispiel ermutigte von Anfang an eigenstaendige Experimente. Von einem irischen Emigranten 1854 in Peru gegruendet, handelte das Unternehmen anfangs mit dem Naturduenger Guano, ehe es ins Zucker- und Zinngeschaeft einstieg. Dann gruendete es Pan American Airways. Und heute ist es hauptsaechlich ein Chemieunternehmen, doch auch der fuehrende Anbieter von Nierendialyse-Diensten in den USA.
Ein Unternehmen, das mehr als 100 Jahre ueberdauert, mußte in immer anderen Umwelten agieren, die es nie wuerde kontrollieren koennen. Multinationale Unternehmen gleichen in dieser Hinsicht den Überlebenden unserer Studie. Die Umwelt fuer einen Multi ist sehr groß und erstreckt sich ueber viele Kulturen; sie ist naturgemaeß weniger stabil und weit schwerer zu beeinflussen als eine begrenztes nationales Umfeld. Daher kommt es auf die Bereitschaft an, sich staendig zu veraendern - wie jene Unternehmen, die ueber Hunderte von Jahren erfolgreich waren und deren Grundcharakter durch die angefuehrten vier Merkmale umrissen wird.
Die Prioritaeten im lebendigen Unternehmen
Fuer Manager eines lebendigen Unternehmens lautet der oberste Auftrag: das Unternehmen am Leben zu halten und es den Nachfolgern wenigstens so gesund zu uebergeben, wie es uebernommen wurde. Dazu muessen, die Beschaeftigten zu einer Gemeinschaft heranwachsen, die von klar verkuendeten Werten zusammengefuegt wird. Manager muessen auch verdeutlichen: Engagement kommt vor Kapital, Hochachtung vor Innovationen rangiert vor dem Festkleben an einer bestehenden Geschaeftspolitik, die Verpflichtung zum Lernen hat Vorrang vor geordneten Ablaeufen, und das Überdauern der Gemeinschaft zaehlt mehr als alle anderen Belange.
Menschen hochschaetzen, nicht Sachkapitalwerte. Diese Umkehrung ueblicher Fuehrungsprioritaeten wird durch eine ueberraschende Erkenntnis unserer Studie gestuetzt: Jedes der 27 langlebigen Unternehmen aenderte sein Geschaeftsfeld-Portfolio mindestens einmal vollstaendig. DuPont, fast 200 Jahre alt, begann als Pulverfabrik. In den 20er Jahren war das Unternehmen groeßter Anteilseigner von General Motors, und heute produziert das Unternehmen vorwiegend Chemiespezialitaeten. Mitsui, ungefaehr 300 Jahre alt, begann als Textilladen, wurde dann zur Bank, stieg ins Minengeschaeft ein und verwandelte sich Ende des 19. Jahrhunderts in ein Industrieunternehmen.
Diese Geschichten zeugen von der Bereitschaft, bisherige Geschaeftsfelder aufzugeben, um zu ueberleben. Fuer diese Unternehmen sind Gueter und Rechte - und Gewinne - wie Sauerstoff: notwendig zum Leben, doch nicht der Daseinszweck. Stora gewann Kupfer, um zu ueberleben, sein Daseinszweck war es nicht, Kupfer zu gewinnen. Unternehmen wie Stora wissen, daß ihre Vermoegenswerte nur Mittel zu dem Zweck sind, den Lebensunterhalt zu sichern.
Ein Unternehmen, das nach dem Gegenmodell gefuehrt wird, setzt im Krisenfall Menschen vor die Tuer, um seine Fabriken und Ausruestungen zu retten, die es fuer die Substanz seiner Existenz haelt. Waere ein solches Unternehmen etwa im Mietwagengeschaeft taetig, wuerde es seinen Daseinszweck allein darin sehen, Autos zu vermieten. Sein Wagenpark waere ihm das wichtigste Aktivum, und seinen Auftrag saehe es darin, Gewinne fuer die Aktionaere zu erwirtschaften. Geriete dieses Unternehmen in Schwierigkeiten, wuerde es als erstes Leute freisetzen.
Lockere Steuerung und Kontrolle. Wenn das langfristige Wohlergehen eines Unternehmens und sein Überleben ueber Generationen hinweg die Bereitschaft erfordert, die Geschaeftsfelder zu wechseln, muessen die Manager auf die Meinungen und Praktiken anderer Leute achten. Das Unternehmen muß Menschen den Freiraum gewaehren, Ideen zu entwickeln, frei von engen Kontrollen, Direktiven und Bestrafungen bei Fehlern. Anders gesagt: Manager muessen das Toleranzprinzip praktizieren, indem sie es riskieren, daß sich ihre Leute auf neuen Gebieten nach frischen Ideen umsehen. Um das noch zu verdeutlichen, ist ein Rosengarten vielleicht das beste Gleichnis.
Wenn Sie ein Gaertner sind, muessen Sie in jedem Fruehjahr entscheiden, wie stark Sie Ihre Rosen zurueckschneiden wollen: mehr oder doch weniger? Staerker beschneiden bedeutet, daß Sie bei einem Rosenstock nur drei besonders starke Zweige stehenlassen mit je drei oder vier Knospen. Dieser Rueckschnitt zwingt die Pflanze, all ihre Kraefte in eine relativ kleine Zahl von Trieben zu lenken. Warum aber sollten Sie Ihre Rosen derart zurueckschneiden? Weil Sie im Juni die praechtigsten Rosen in der ganzen Nachbarschaft haben moechten.
Ich beschneide meine Rosen nicht so sehr. Denn das waere dort, wo ich wohne, eine hoechst riskante Strategie. Den Rosen koennen da naemlich schreckliche Dinge widerfahren. Ich wohne auf einer Anhoehe, wo es im April und noch Anfang Mai Nachtfroeste geben kann. Zudem durchstreift diese Gegend viel freilaufendes Rotwild, und das liebt junge Rosentriebe. Wuerde ich also die Rosen zu sehr zurueckschneiden, die Naechte aber waeren frostig und die Rehe hungrig, haette ich im Juni vielleicht gar keine Blueten. Deshalb lasse ich an jeder Pflanze fuenf bis sieben Zweige mit fuenf bis sieben Knospen stehen. So kann die Pflanze ihre Kraefte auf viele Knospen verteilen, und ich habe zwar nie die schoenste Rosenbluete, aber jeden Juni eine.
Noch etwas Überraschendes passiert, wenn Sie immer nur maßvoll zurueckschneiden: Nach zwei oder drei Jahren kraeftigen sich einige der spindelduerren Zweige wieder und beginnen ebenfalls Knospen zu treiben, waehrend manche aelteren Zweige keine Blueten mehr hervorbringen. Was werden Sie tun? Sie werden das aeltere Gehoelz entfernen, das neue foerdern und mit diesem geduldigen Rueckschneiden Ihr Bluetenportfolio gradweise erneuern. Dieses Gartengleichnis hilft auch bei einem Dilemma moderner Unternehmensfuehrung: Wie soll eine Firma diversifizieren, ohne ein Desaster heraufzubeschwoeren? Ein duldsames Vorgehen erlaubt sowohl der Rose als auch der Umwelt, sich staendig einander anzupassen, ohne die Wachstumsmoeglichkeiten der Rose zu gefaehrden.
Fuer Lernen sorgen. Es gibt Zeiten, in denen sich das Know-how eines Unternehmens, seine Produktpalette und die Arbeitsverhaeltnisse im Einklang befinden mit der Umwelt. Die geschaeftliche Lage ist vertraut und das Unternehmen gut organisiert; die Mitarbeiter sind geschult und geruestet. In solchen Zeiten muessen Manager keine neuen Ideen entwickeln und umsetzen. Ihre Aufgabe besteht darin, die verfuegbaren Mittel zu verteilen, um Wachstum und Entwicklung voranzubringen, also Kapital und Personal in die Teile des Unternehmens zu dirigieren, die am ehesten in der Lage sind, aus dem derzeitigen Stand der Dinge Nutzen zu ziehen. Diese Unternehmensteile werden dann groeßer und maechtiger und etablieren sich fester.
Aber gerade wenn ein Unternehmen sich gut eingerichtet hat, koennen neue aeußere Umstaende eintreten. Neue Techniken tauchen auf, Maerkte wandeln sich, Zinsen steigen oder fallen, der Verbrauchergeschmack aendert sich - das Unternehmen wird dadurch in eine neue Lebensphase gedraengt. Nun muß es faehig sein, seine Marketingstrategie zu aendern, die Produktpalette, die Organisationsform, Fertigungsstandorte und -methoden. Ist die Anpassung an ein neues Umfeld erst einmal gelungen, ist das Unternehmen nicht mehr jenes, das es vorher war. Und das ist der Kern allen Lernens.
Doch wie lernt eine Organisation im Unterschied zu einem Individuum? Um diese Frage zu beantworten, kann uns das Verhalten von Singvoegeln helfen, wie es von Allen Wilson untersucht wurde, dem Professor fuer Biochemie und Molekularbiologie an der University of California in Berkeley. Wilsons Hypothese lautet: Eine ganze Vogelart ist imstande, ihre Faehigkeiten zur Nutzung der Chancen ihrer Umwelt zu verbessern. Dazu muessen drei Bedingungen vorliegen: Erstens muessen die Angehoerigen der Spezies faehig sein, sich frei zu bewegen und in Scharen zusammenzukommen, statt daß jedes Exemplar isoliert in seinem Revier hockt. Zweitens muessen einige Exemplare faehig sein, neue Verhaltensweisen (neue Fertigkeiten) anzunehmen. Drittens muß es bei der Art einen eingewurzelten Ablauf geben, bei dem bestimmte Fertigkeiten von einem Vogelindividuum an die ganze Artengemeinschaft uebermittelt wird - nicht auf genetischem Wege, sondern durch direkte Kommunikation. Sind diese drei Bedingungen erfuellt, dann beschleunigt sich laut Wilson das Lernen der gesamten Spezies und erhoeht ihre Chance, sich schnell auf fundamentale Veraenderungen der Umwelt einzustellen.
Zur Überpruefung seiner Hypothese nahm sich Wilson noch einmal einen gut belegten Bericht ueber das Verhalten von Meisen und Rotkehlchen in Großbritannien vor. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte man dort damit begonnen, Milch an Haushalte auszufahren. Die vollen, aber unverschlossenen Flaschen wurden einfach vor die Haustuer gestellt. In den Flaschen bildete sich oben eine dicke Sahneschicht, an der Meisen und Rotkehlchen, zwei in Britannien weit verbreitete Gartenvoegel, immer mehr Gefallen fanden.
Nachdem sich die Voegel ueber 50 Jahre an der Sahne delektiert hatten, gingen die Briten in den 30ern dazu ueber, die Milchflaschen mit Aluminiumdeckeln zu verschließen. Und was geschah? Bis Anfang der 50er Jahre hatten es die Meisen, schaetzungsweise eine Population von einer Million Meisen zwischen Schottland und Land¹s End gelernt, die Deckel zu durchpicken. Doch die Rotkehlchen erwarben diese Faehigkeit nie.
Wieso behielten die Meisen im Artenwettstreit buchstaeblich den Schnabel vorn? Erinnern wir uns der drei Wilson¹schen Bedingungen fuer das Lernen in einer großen Schar: ungezaehlte mobile Exemplare; einige davon innovativ; und eine Methode zur Weitergabe von Neuerungen. Rotkehlchen kennen eine derartige soziale Methode nicht. Gewiß trillern sie auch, sind bunt und mobil - und koennen kommunizieren. Aber sie haben grundsaetzlich ihre abgegrenzten Reviere. In meinem Garten zum Beispiel leben vier, fuenf Rotkehlchen, jedes in seinem eigenen kleinen Territorium. Zwischen ihnen gibt es zwar viel Kommunikation, aber was sie sich gewoehnlich mitzuteilen, ist ein "Hau ab". Auch die Meisen lieben meinen Garten und leben dort im Mai/Juni paarweise zusammen. Aber ab Ende Juni/Anfang Juli sind sie in Scharen zu acht, zehn oder zwoelf zu beobachten, wie sie von Garten zu Garten fliegen, miteinander spielen und Futter suchen.
In der Schar lernen Voegel schneller. Und genauso ergeht es auch Organisationen, wenn sie Teamarbeit foerdern. Jedes Unternehmen mit mehreren hundert Beschaeftigten braucht zumindest ein Dutzend Leute, die voller Neugier darauf aus sind, zu neuen Ufern aufzubrechen - aehnlich den Meisen, die so weiter an ihre Sahne kamen. Aber daß es Neuerer gibt, reicht noch nicht aus, um institutionelles Lernen sicherzustellen. Diese Neuerer muessen auch angehalten werden, mit den anderen zu kommunizieren.
Auch Weiterbildungsmaßnahmen stellen eine ausgezeichnete Gelegenheit dar, das Miteinander zu foerdern. Dafuer investiert Shell beispielsweise pro Kopf jedes Jahr 2400 Dollar, damit Mitarbeiter mit neuen Arbeitsfeldern vertraut werden und sich neue Fertigkeiten aneignen. Was noch wichtiger ist, diese Weiterbildung geschieht in Gruppenarbeit. Fuer Teams, die aus ganz unterschiedlichen Leuten bestehen, kommt es sehr darauf an, sich in regelmaeßigen Abstaenden miteinander einem intensiven Training zu unterziehen. Das traegt dazu bei, neues Wissen in die ganze Organisation hineinzutragen und Menschen mit unterschiedlichem kulturellen, fachlichen und beruflichen Hintergrund zu einen. Die Gemeinschaftsbindung wird dann sehr intensiv. Kursteilnehmer berichten im Anschluß fast immer: "Bei den offiziellen Sitzungen habe ich gar nicht so viel gelernt, wohl aber in den Pausen, beim Gespraech mit meinen Kollegen."
Gestalten der menschlichen Gemeinschaft. Manager muessen festlegen, wie wichtig das menschliche Element in ihren Unternehmen sein soll. Sie koennen sich dafuer entscheiden, nur den Wohlstand eines inneren Kreises von Managern und Investoren zu foerdern, oder dafuer, das ganze Unternehmen zu einem gemeinsamen Besitz zu entwickeln. Die Wahl, die sie treffen, spielt eine entscheidende Rolle dabei, ob das Unternehmen seine Gruender ueberleben wird. Manager, die ein Unternehmen aufbauen moechten, das viele Generationen ueberdauert, stellen die Entwicklung ihrer Mitarbeiter allen anderen Erwaegungen voran. Fuer sie haben solche Fragen Vorrang: "Wie koennen wir es so einrichten, daß die Kontinuitaet von einer Generation zur naechsten gesichert ist?"
Der wahre Zweck des Unternehmens
In Unternehmen, wo die Verguenstigungen nur wenigen Personen zufallen, sind alle anderen Außenseiter, nicht Mitglieder. Diese Außenseiter tauschen mit dem Unternehmen zwar auf vertraglicher Grundlage Zeit und Koennen gegen Geld. Doch wie Verhaltensstudien reichlich belegen, inspiriert diese Art Tauschvertrag die Leute nicht allzusehr, ihr Äußerstes zu geben oder große Loyalitaet gegenueber dem Unternehmen oder seinen Managern zu empfinden. Neu eingestellte Mitarbeiter begreifen bald, daß sie bei ihrer Arbeit stets an ihr moegliches Ausscheiden denken sollten. Nachfolgeloesungen sind in solchen Unternehmen schwierig und kostspielig, Kontinuitaet ueber Generationen nicht sicher.
Ich meine, ein Unternehmen, dessen Zweck nur darin liegt, Wohlstand fuer einige wenige zu erwirtschaften, gleicht einer Pfuetze Wasser, einer Ansammlung von Regentropfen. Die sammeln sich in einer Bodenvertiefung. Regnet es staerker, fallen mehr Tropfen hinein, und die Pfuetze dehnt sich vielleicht aus, durchtraenkt den Boden, waehrend die anfaenglichen Tropfen in der Mitte bleiben. Aber stehendes Wasser ist stets gefaehrdet. Pfuetzen vertragen nicht viel Waerme. Kommt erst die Sonne heraus und steigt die Temperatur, beginnen sie zu verdunsten. Selbst die Tropfen in der Mitte geraten in Gefahr zu verdunsten.
Das Unternehmen, das seinen Zweck im Überleben sieht, aehnelt mehr einem Fluß. Anders als eine Pfuetze gehoert er staendig zur Landschaft. Wenn es regnet, mag er anschwellen, scheint lange die Sonne, mag er schmaler werden. Doch es bedarf schon einer anhaltenden Trockenperiode, ehe ein Fluß ganz verschwindet. Verglichen mit einer Pfuetze ist der Fluß ein ziemlich turbulentes Wasser. Kein Tropfen bleibt laengere Zeit im Zentrum. Von einem Augenblick zum naechsten wechselt das Wasser an einer bestimmten Stelle des Flusses. Neue Wassertropfen verdraengen die alten, und alle werden vorangetrieben.
Der Fluß ueberdauert die vielen einzelnen Wassertropfen, aus denen er besteht. Als sich staendig selbst erneuernde Gemeinschaft von Tropfen besitzt er eigene, eingebaute Garantie fuer Bestand und Fortbewegung des Wassers. Ein Unternehmen, das Regeln fuer die Erhaltung und Bewegung seiner Menschen einfuehrt, eifert der Langlebigkeit und Kraft des Flusses nach.
Das lebendige Unternehmen ist ein Flußunternehmen, in dem die Manager das Optimieren des Kapitals nur als notwendige Ergaenzung zum Optimieren der Leute betrachten. Soll dieses Unternehmen profitabel und langlebig sein, muessen die Manager darauf achten, eine Gemeinschaft zu schaffen. Dazu gehoeren Verfahren, die die Zugehoerigkeit zu dieser Organisation bestimmen, gemeinsame Werte begruenden, Neueinstellungen und Weiterbildungsmaßnahmen regeln und das Leistungspotential der einzelnen einzuschaetzen erlauben sowie Vertragsgestaltungen und Vorgaben fuer wuerdige Verabschiedungen aus dem Unternehmen.
Vor allem ist den Mitgliedern eines lebendigen Unternehmens bewußt, "wer wir sind" und was die gemeinsamen Werte sind. Die einzelnen wissen die Antwort auf die entscheidende Frage, worin die Unternehmensidentitaet besteht: Was ist fuer uns wichtig? Wer immer mit diesen Werten nicht klarkommt, kann und sollte dem Unternehmen auch nicht angehoeren. Dafuer bindet das Gefuehl der Zugehoerigkeit selbst die unterschiedlichsten Mitarbeiter aneinander.
Eine Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit
Das lebendige Unternehmen gruendet auf gegenseitigem Vertrauen. Dort weiß jeder einzelne, daß ihm im Gegenzug fuer seine Leistung und sein Engagement vom Unternehmen geholfen wird, sein Potential zu entwickeln. Geld gilt in einem Flußunternehmen nicht gerade als Motivator. Wenn zuwenig gezahlt wird, sind die Leute zwar unzufrieden. Aber Gehaelter, die die Schwelle einer ausreichenden Bezahlung ueberschreiten, werden allein auch niemanden dazu bringen, sich restlos fuer das Unternehmen einzusetzen. Bevor sich die Leute mehr anstrengen, muessen sie wissen, daß sich die Gemeinschaft fuer sie als Individuen interessiert. Sie selbst muessen Interesse fuer das Schicksal des Unternehmens haben. Sowohl das Unternehmen als auch die Individuen sollen umeinander besorgt sein.
Als Teil dieser Fuersorge ist sicherzustellen, daß Leute mit dem richtigen Verstaendnis in das Unternehmen eintreten oder es verlassen. Bewerber muessen sowohl danach beurteilt werden, ob sie zu den erklaerten Firmenwerten und -prinzipien passen, als auch danach, wie sie die fachlichen Anforderungen der Aufgabe bewaeltigen. Von einem lebendigen Unternehmen sollten nur Leute angeheuert werden, die ihre Moeglichkeiten dort ausschoepfen moechten. Das heißt nicht, daß Anstellungen auf Lebenszeit anzustreben waeren.
Wer irgendwann nicht mehr mitziehen will oder die Gemeinschaftswerte nicht mehr teilt, sollte eben den Arbeitsplatz wechseln. Und ab einem gewissen Alter wird es ebenfalls Zeit zu gehen. Fuehrung in lebendigen Unternehmen ist genau das Gegenteil von dem, was eine bekannte Zeichnung karikiert: Zwoelf hochbetagte Vorstaende nicken zum Vorschlag ihres Vorsitzenden, das Pensionsalter um ein weiteres Jahr hinauszuschieben.
Fazit
Viele Aktionaere und hochrangige Fuehrungskraefte sind gar nicht daran interessiert, eine ihren eigenen Fortbestand sichernde Arbeitsgemeinschaft aufzubauen. Sie ziehen den Typus Unternehmen vor, der nur als Geldmaschine arbeitet, zum Besten eines inneren Zirkels. Sich so zu entscheiden ist voellig legitim, aber wer das tut, sollte bedenken, daß nichts kostenlos ist.
Immer mehr Unternehmen operieren in einer Welt, die sie nicht kontrollieren koennen. Die Chancen, daß ein Unternehmen die Welt von heute noch beeinflussen kann, schwinden von Tag zu Tag - wie auch Banken, Versicherungen, Telekommunikationsgesellschaften und Softwareproduzenten feststellen muessen. Warum ist das so? Weil der globale Wettbewerb die Unternehmen zwingt, ihre regionalen oder nationalen Nischen zu verlassen und in weniger vertrautes Gelaende vorzustoßen.
Selbst Firmen, die gar nicht expandieren, merken auf einmal, daß die Außenwelt in ihr Terrain eindringt. Im globalen Dorf wird es immer schwieriger, Nischen aufzufinden oder sich hinter Barrieren zu verschanzen. Kurzum: Die Geldmaschinen laufen Gefahr, zur bedrohten Art zu degenerieren, die nur noch in geschuetzten Nationalparks ueberleben koennen.
Lebendige, lernende Unternehmen haben in einer Welt, die fuer sie unkontrollierbar ist, eine bessere Überlebens- und Entwicklungschance. Sie haben ihre volle Berechtigung, vor allem weil Erfolg jetzt davon abhaengt, wie gut und wieviel Intelligenz ein Unternehmen bei sich mobilisieren kann. Der hohe Toleranzgrad in einer lebendigen Organisation schafft Freiraeume fuer neue Ideen und fuer mehr Lernen. Solche Freiraeume sind fuer das Überleben intelligenter, aber kapitalschwacher Unternehmen aeußerst wichtig. So haengt beispielsweise der Erfolg von Anwaltssozietaeten oder Wirtschaftsprueferfirmen, Kreditkartenorganisationen oder Finanzdienstleistern vor allem davon ab, wie gut ihre internen Arbeitsgemeinschaften funktionieren. Doch selbst eher altmodische, kapitalstarke Unternehmen wie Ölgesellschaften oder Autohersteller muessen heute in ihre Erzeugnisse und Dienstleistungen viel mehr Wissen investieren als noch vor 20 Jahren.
Das lebendige Unternehmen hat mehr Aussicht auf ein laengeres Leben - durch Verminderung des Abstands zwischen mittlerer und maximaler Lebenserwartung bei der Spezies Unternehmen. Wieso faellt das ueberhaupt ins Gewicht? Weil der Tod eines Unternehmens immer mit Kosten verbunden ist. Beschaeftigte, Lieferanten, Subunternehmer, Kommunen und Aktionaere - sie alle bekommen den Verlust zu spueren.
©1997 by the President and Fellows of Harvard College; urspruenglich veroeffentlicht in "Harvard Business Review", Nr. 2, Maerz/April 1997, unter dem Titel: "The Living Company"; Übersetzung: Brunhild Lenkeit-Takors.